Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 27. Oktober 2008, Heft 22

Regierungskriminalität

von Jörn Schütrumpf

Als im Oktober 1857 die Krise von Frankreich auf die USA übersprang, glaubte Marx, daß das Ende des Kapitalismus nahe sei. Er verstand die Krise als Krisis: als den Anfang des Endes – im medizinischen Sinne.
Da störte ihn – anders als seine Frau Jenny – auch nicht so sehr, daß er von der New York Tribune, für die er als Europakorrespondent arbeitete, von zwei Artikeln in der Woche auf einen gesetzt und damit ins ökonomische Desaster gestoßen wurde. Die freigewordene Zeit nutzte Marx für seine Arbeit an der Kritik der politischen Ökonomie, die er der Arbeiterklasse an die Hand zu geben gedachte. Dieser Text wurde nicht zuletzt zu einer Selbstverständigung darüber, daß die ökonomische (Absatz-)Krise keine Krisis im medizinischen Sinne ist. Als im Frühjahr 1858 die Wirtschaftskrise zu Ende ging, hatte Marx auch in der Theorie die Differenz zwischen ökonomischer Krise und medizinischer Krisis begriffen – eine Leistung, die viele der sogenannten Marxisten bis heute nicht zu verstehen, geschweige denn zu akzeptieren vermögen. Die Krise ist ein unvermeidliches Regenerationsmoment der kapitalistischen Produktionsweise, durch das ganze Gesellschaften ins Elend gestürzt werden. Deshalb gehört diese Produktionsweise überwunden.
Geradezu erschütternd ist die Einfalt jener Linker, die auch heute noch ins Krisisgeschwätz verfallen und das Totenglöcklein der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu hören vermeinen – statt ihre Arbeit zu tun und zu analysieren, was im Moment wirklich geschieht: Die Form, in die die – an sich schon perverse, weil Entfremdung zeugende – kapitalistische Produktionsweise sich in den vergangenen Jahrzehnten ausbildete, der Kasinokapitalismus, der stündlich Milliarden um den Globus jagte, war ein Krieg gegen die sozialen Errungeschaften der vergangenen 130 Jahre. Im Renditetempel des Neoliberalismus wurden die Menschenwürde und die Existenz von Abermillionen Menschen geopfert, eine diese Opferhandlungen hieß Hartz IV.
Eine immer irrwitzigere Spekulationsblase ward aufgebläht; jeder halbwegs vernünftig denkende, also nicht der Profitgier erlegene Mensch wußte, daß sie eines Tages aufgehen würde (siehe Aids im System, Blättchen 20/2008). Jetzt ist sie geplatzt und dieser Krieg gegen die Gesellschaft vorerst ausgesetzt.
Nun geht es darum, diesen Krieg nachträglich zu finanzieren. Und das geschieht mit einer neuen Blase: den Staatsverschuldungen von Washington bis Berlin – nicht zur Rettung der Gesellschaft, sondern zur Rettung der Banken. Denn wie eine solche Staatsverschuldung bezahlt wird, war nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zu erleben: mit einer Inflation und einem Währungsschnitt, also mit der Enteignung breiter Teile der Gesellschaft – aller Sparer, heute nicht zuletzt jener, die sich jüngst in eine zusätzliche Altersvorsorge hineingeschwätzt sahen. Der Sinn der Aktion liegt auf der Hand: Die Katastrophe wird auf die nachfolgenden Regierungen verschoben, und die wirklich Vermögenden erhalten die Chance, mit ihren Geldanlagen in Sachwerte wie Immobilien und Gold zu fliehen. Hier wird ein wunderbares Stück unverhüllter Regierungskriminalität aufgeführt. Und alle klatschen mit, die Medien voran.