von Mathias Iven
Den Spuren eines Schriftstellers zu folgen, in dessen erlebte und dichterische Welt einzudringen, ist für viele Leser eine spannende Angelegenheit. Zumal, wenn Leben und Werk so eng zusammenhängen wie bei Hermann Hesse, wo doch fast jeder Text autobiographische Züge trägt.
Wilfried Setzler, der in den vergangenen Jahren (teilweise gemeinsam mit Irene Ferchl) bereits den Spuren von Schiller, Mörike und Hebel nachgespürt hat, folgt in seinem neuen Buch dem Lebensweg von Hermann Hesse. Wie schon in den anderen, sowohl inhaltlich als auch Druck und Ausstattung betreffend, nicht hoch genug zu lobenden Publikationen liegt der räumliche Schwerpunkt auch dieses Mal in Baden-Württemberg. Und so führt der Weg von Calw bis hin nach Gaienhofen: eine fast dreieinhalb Jahrzehnte umspannende Reise durch Hesses Leben – eingeschlossen das Jahrzehnt der in Basel verbrachten Jahre. Dabei nimmt Setzler seine Leser im wahrsten Sinne des Wortes „an die Hand“. Ob in Göppingen oder Maulbronn, in Bad Boll oder Stetten: Überall erfährt man etwas zur Geschichte und den Besonderheiten der einzelnen (Lebens-)Orte, wird mit den Personen bekannt gemacht, die seinerzeit zu Hesse in Beziehung standen, und vor allem werden die umfangreichen Bezüge zu Hesses Werk und seinen zahllosen Briefen aus dieser Zeit aufgezeigt.
Mit detaillierten Orientierungskarten versehene Vorschläge zu ausgedehnteren Rundgängen bekommt der Leser für Hesses Geburtsstadt Calw sowie für Basel und Tübingen in die Hand. Für den letzteren Ort sei dem Interessierten im Übrigen auch das bereits vor zehn Jahren von Setzler herausgegebene Bändchen „Hesse in Tübingen“ empfohlen.
Gegenüber vorliegenden gleichgearteten literarischen Führern lenkt Setzler am Schluss des Buches sein Augenmerk nicht allein auf die 1925 während einer Lesereise besuchten Orte Tuttlingen, Blaubeuren und Ulm. Umfänglicher als andere Biographen geht er beispielsweise auch auf die Erlebnisse des Jahres 1892/93 ein: Hesses Aufenthalt in Bad Canstatt. Vom Dichter selbst wurde diese Zeit in nur wenige Worte gefasst: „Eine Weile bemühte ich mich dann an einem Gymnasium, meine Studien vorwärtszubringen, allein Karzer und Verabschiedung war auch dort das Ende.“ Und im „Demian“ hieß es zu dieser Episode: „Ich führte das Doppelleben des Kindes, das doch kein Kind mehr ist.“ Selbst wenn es Hesse nur ein knappes Jahr in Bad Canstatt hielt – für seinen Selbstfindungsprozess war es eine entscheidende Lebensphase, deren Fazit er in einem Brief an seinen ehemaligen Deutschlehrer auf den Punkt brachte: „Immerhin hat sie mein dichterisches Ich gebildet.“
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Herbert Schnierle-Lutz, der vor Jahren gleichfalls die Schauplätze von Hesses Leben aufgesucht und über sie geschrieben hat, beschäftigt sich in seiner jüngsten Veröffentlichung ausschließlich mit Calw.
Für Hesses Schreiben und Erinnern war seine Geburtsstadt ein ständiger Bezugspunkt. „Die schönste Stadt von allen aber, die ich kenne“, schrieb er 1918, „ist Calw an der Nagold, ein kleines, altes schwäbisches Schwarzwaldstädtchen.“ Aus Calw wurde „Gerbersau“ und heute stehen mehr als drei Dutzend mit diesem Ort verbundene Erzählungen für Hesses lebenslanges Gefühl der „Zugehörigkeit zu einem Lebens- und Kulturkreise, der von Bern bis zum nördlichen Schwarzwald, von Zürich und dem Bodensee bis an die Vogesen reicht“. Calw war ihm, so bekannte er in der Erzählung „Der kleine Mohr“, „Vorbild, Urbild der Stadt, und die Gassen, Häuser, Menschen und Geschichten dort Vorbild und Urbild aller Menschenheimaten und Heimatgeschicke“. Inwieweit Erinnerung und Verklärung hier Hand in Hand gingen, zeigt auch ein Brief aus dem Jahre 1912 (Hesse lebte da bereits in der Schweiz): „Die Heimat will ich mir nicht dadurch verderben, daß ich meinen Werktag dahin verlege; Kindheit und Schwarzwald sind für mich Heiligtümer erster Ordnung, die ich nimmer gefährden will.“
Soweit Hesses Verbundenheit zu Calw auf der einen Seite – doch wie sah es andersherum aus? Wie ging und geht die Stadt mit ihrem großen Sohn um? Für seine umfassend recherchierte Darstellung hat Schnierle-Lutz neben bekannten Quellen vor allem die bislang von der Forschung noch nicht oder zu wenig berücksichtigten Gemeinderatsprotokolle herangezogen. Insgesamt kommt Calw zunächst einmal nicht gut dabei weg. Blickt man auf das Jahrzehnte währende ambivalente Verhältnis von Stadt und Dichter, so fragt man sich unwillkürlich: Was ging da wohl in den Köpfen der Ratsherren vor? (Als Beispiel sei hier nur auf den mehr als ein Jahrzehnt anhaltenden Streit um die Benennung des Calwer Gymnasiums verwiesen.)
Die schriftstellerischen Erfolge Hesses beeindruckten die Calwer offenbar wenig. Immerhin erschien erst anlässlich des 50. Geburtstages (1927) eine entsprechende Würdigung im Calwer Tagblatt. Davon abgesehen suchte man von Calwer Seite bereits nach dem Ersten Weltkrieg den Kontakt zu Hesse, schien es den Oberen der Stadt doch günstig, Verbindung zu einer Person zu halten, die sich von der Wilhelminischen Kriegshysterie nicht hatte anstecken lassen. Schließlich wurde im März 1920 sogar ein Brunnen nach Hesse benannt. Allerdings sollte diese Benennung schon im Mai 1928 wieder rückgängig gemacht werden, hatten doch einige Moralapostel vermeintliche „Entgleisungen“ des „innerlich immer noch nicht selbständig gewordenen Dichters“ in dem kurz zuvor erschienenen „Steppenwolf“ entdeckt – der Rat sah das glücklicherweise anders und gab dem Anliegen nicht statt.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg – mittlerweile hatte man erkannt, dass Hesses „Werke zum geistigen Hausbrot für die Calwer Bevölkerung“ zählten – wurde ein erneuter Annäherungsversuch gestartet, der 1947 anlässlich Hesses 70. Geburtstag in die Verleihung der Ehrenbürgerschaft mündete. Hesse habe, so hieß es in der Urkunde, „mit der Treue des anhänglichen Sohnes“ das Bild von Calw „immer wieder in künstlerischer Verklärung gezeichnet und die Eigenart von ,Gerbersau‘ der ganzen Welt verkündet“.
Jahre später, kurz nach dem Tod des Nobelpreisträgers, besann sich Calw endlich auf die Werbeträchtigkeit des Namens Hesse. Doch auch hier lief nicht alles geradlinig: Zwar wurde bereits 1964 eine erste Hermann-Hesse-Gedenkstätte eröffnet, doch erst Ende 2010 wurde eine eigene Direktion für das mittlerweile geschaffene Hesse-Museum eingesetzt. Exemplarisch zeigt Schnierle-Lutz, wie schwer es für den Amtsschimmel im Umgang mit Berühmtheiten werden kann. Doch ganz egal, was sich in den Calwer Amtsräumen in den nächsten Jahren noch abspielen wird: Die an Hesses Leben und Werk interessierten Leser werden auch weiterhin von überall her nach „Gerbersau“ pilgern und Hesses Gedanken in die Welt hinaus tragen.
Wilfried Setzler: Mit Hesse von Ort zu Ort. Lebensstationen des Dichters in Baden-Württemberg, Silberburg-Verlag, Tübingen 2012, 212 S., 19,90 Euro/Herbert Schnierle-Lutz: Hermann Hesse und seine Heimatstadt Calw. Chronologie eines wechselvollen Verhältnisses, Kleine Reihe – Archiv der Stadt Calw, Bd. 26, Calw 2011, 240 S., 15,00 Euro
Schlagwörter: Calw, Gerbersau, Herbert Schnierle-Lutz, Hermann Hesse, Mathias Iven, Wilfried Setzler