von Henry-Martin Klemt
1826 nahm Joseph Nicéphore Niépce von seinem Arbeitszimmer aus das erste bekannte Foto der Weltgeschichte auf. Acht Stunden Belichtungszeit auf einem fotochemischen Träger aus Asphalt auf einer Zinnplatte. Entwickelt wurde diese Heliographie mit Lavendelöl und Petroleum. Der Begriff Fotografie kam erst dreizehn Jahre später in Umlauf. Eher Handwerklich als kompositorisch boten diese frühen Abbilder Raum für Interpretation. Es war die Technik, die zur Reduktion zwang, die Frei-Räume schuf, den malerischen Ausdruck begünstigte.
Heute reicht die Fotografie weiter als unser Auge. Um mitzuhalten mit einer High Dynamic Range-Abbildung bräuchten wir, spinnengleich, noch wenigstens drei weitere Augenpaare, von denen jedes sich auf einen anderen Schärfentiefe-Bereich fixiert und für ein anderes Spektrum der Farbtemperatur sensibilisiert wäre. Unserem bemessenen Blick erscheinen diese Bilder mit ihrem hohen Tonwertumfang vor allem schrill, in surrealer Weise überhöht, kulissenhaft, und dabei von einem eigenwilligen ästhetischen Reiz. Andere Aufnahmen, mit Hilfe von Elektronenmikroskopen gewonnen, offenbaren uns Landschaften aus den Elementarbereichen der Materie. Gebirge aufgeschichteter Atome, Koronen leuchtender Elektronen, unüberwindlich erscheinende Felsen von der Höhe mehrerer Nanometer. Optische Stabilisatoren erlauben messerscharfe Einblicke in die Natur mit Objektiven von 1000 Millimeter Brennweite und mehr. Entzerrungstechniken rücken der Krümmung des Raumes zuleibe und gaukeln das Weitwinkelbild in die gewohnten Dimensionen zurück, wenn wir es wünschen.
Noch vor anderthalb Jahrzehnten tobte der Streit darüber, ob die digitale Fotografie jemals in der Lage wäre, sich einem fotochemisch entwickelten Bild auch nur anzunähern. Die größten Skeptiker in den Chefetagen traditionsreicher Unternehmen haben ihre Zweifel mit dem Verschwinden ihrer Marken bezahlt.
Deshalb kann man von der Fotografie nicht sprechen, ohne vom Computer zu reden, jener Revolution, die, ähnlich der Dampfmaschine, die gesamte menschliche Zivilisation, ihre Kultur, ihre Produktionsweise, ihre Kommunikation verändert. Fotografie und Film sind heute Masseninstrumente. Aus der Welt des Fernsehens und des Videos, die ihre Revolution in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts durchlebte, wurden Anschnitttechniken übernommen, so wie die willkürlich wechselnde Schärfe in die Produktion bewegter Bilder überschwappte. Die Grenzen zwischen stehend und bewegt, auch die ästhetischen, sind ebenfalls fließend geworden. Die Verführung ist groß, zu glauben, wie das Instrument sei auch seine Beherrschung käuflich geworden. Aber die Kamera sitzt immer noch hinter der Netzhaut und nicht hinter dem Kameraverschluss. Enttäuschende Erfahrung für manchen, häufiger noch: tapfer ignorierte Erfahrung. Und allemal ein Argument im Preiskampf gegen die Fotografen, obwohl deren Investitionen heute zehnmal so hoch sind, wie zu Zeiten der Kleinbild- und Mittelformatkameras. Das Denken in 12- und 36-Bilder-Schritten ist erloschen. Die Kapazität moderner Speichermedien reicht bis in den fünfstelligen Bereich. Fernseher und Großbildwände statt Projektoren, Fotobücher mit eigenem Layout und Abzugsbestellungen bis zur Superpostergröße via Internet statt 90 Millimeter breiter Familienaufnahmen fürs Album. Das hat die Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen verändert. Das nährt den Mythos der entgrenzten Wachstumsgesellschaft weiter, alles, und zwar in Echtzeit, haben zu können. Aber ist die eigene Wahrheit so einfach zu entschlüsseln? Ist die Sinnbildlichkeit prägender Erfahrung so simpel darstellbar? Ist die Kontextualität des Lebens-Wandels so leicht zu erschließen?
So sehr sich Kunst auch dagegen wehrt: Mode und Zeitgeist bleiben niemals außen vor. Im Gegenteil, Kunst selbst löst Impulse dafür aus, was dann, seiner Polaritäten beraubt und verdurchschnittlicht, Mode und Zeitgeist beherrscht. Es waren die Ewig-Jugendlichen einer übersättigten Mittelschicht, die nie eine Jeans, ein paar Schuhe, ein T-Shirt wirklich – und gar durch körperliche Arbeit – verschlissen hatten, denen Designer den Retrolook aufschwatzen konnten. Was partout nicht altern wollte, wurde gealtert, mit stonewashed, mit ausgefransten Rissen, mit abgeschabtem Leder. Die Sehnsucht nach der nicht gewonnenen Erfahrung, nach dem nicht gelebten Abenteuer, nach dem Mangel an Perspektive zwischen Bausparvertrag und Bürostuhl, sorgte für einen schier unbegrenzten Markt.
Fotografie ist auch die Sehnsucht nach dem nie geschauten Bild. Elektronik verschrammt und vergilbt die Aufnahmen, stellt künstlich jede Art von Beschädigung her, die ein Fotograf zu fürchten hatte, wenn er mit Entwickler und Fixierer, Kleber und Keilitzfarbe umging. Das alles ist Pop und ist das Drama satter Entbehrung. Kein Filter ersetzt eine Stunde im grünen und roten Licht, über die Schale gebeugt, die Klammer an der äußersten Ecke des Papiers, den Moment, in dem das Bild aus dem Nichts hervortritt. Moment einer Geburt. Nicht der Kontrollblick aufs Display; und weiter und noch mal und löschen… Geburt ist auch Unwiderrufbarkeit. Die Entscheidung schickt Hoffnung voraus und bleibt – nicht nur metaphorisch – selbst im Dunkel, bis ihre Folgen sichtbar werden. Sekunden zuviel, zuwenig: unwiderruflich. Das Auge – das Maß. Man hört den eigenen Atem dabei. Wann hört man den noch?
Jede Kulturentwicklung löst Kulturkritik aus. Ihre Grundlage ist stets die gleiche: Das Neue ist kein Wert an sich, es muss diesen Wert erst konstituieren. Ihr Vorwurf: der Verlust des Maßes. Des Zentrums. Des Kontemplativen.
Schnell vor gut, breit vor tief, heißen die universellen Massenangebote von Produktion und Rezeption, und wie sie aufgesogen werden in Bequemlichkeit, so treffen sie auch auf Widerstand. Der kann verweigernd sein oder voller Neugier auf das möglich-unmögliche. Es hängt ab von der Festgefahrenheit oder Neugier des Menschen. So wie immer oder: So anders wie immer, heißt die Alternative.
Es gibt Fotografen, die sich wieder von der Farbe verabschiedet haben. Licht, Schatten, Linie, nicht mehr. Das Kleinbild wird anderen zum Kultobjekt, wie Schallplattenliebhabern die Vinyl aus dem vergangenen Jahrhundert. Entschleunigung bei gleichzeitiger Diversifizierung wird zum ästhetischen Programm, das sich in der Sujetwahl und -bearbeitung widerspiegelt. Das gute Bild versucht sich abzusetzen vom schnellen Bild, die Komposition sich gegen bloße Buntheit zu erwehren. Sie bemächtigt sich der neuen Techniken dabei. Sie konstituiert ihre eigenen Werte im Wandel der Kultur. So wird sie zum Träger dessen, was immer den Blick des Schauenden, Hörenden, Lesenden auf sich zieht: die überraschende Symbiose aus Vertrautem und Neuem, die Bekanntes in Unbekanntes verwandelt und dabei Unentdecktes offenbart.
Schlagwörter: digitale Fotografie, Fotografie, Henry-Martin Klemt, Kulturkritik, Massenangebote