Katja Gloger und Georg Mascolo haben ihre investigative Geschichte der deutschen Russlandpolitik vorgelegt. Auf dem Einband ein Zitat von Wolfgang Schäuble: „Wir wollten es nicht sehen“ Gemeint ist das, was nun als Wahrheit über Putin und Russland zu gelten hat.
Der Fußnotenapparat liest sich sehr einfach: Es wird immer zusätzlich auf die Seiten verwiesen, so dass man die Kapitelüberschrift nicht braucht, um nachzublättern. Das ist sehr hilfreich. Zumal die Autoren das eine oder andere in ihren Fußnoten verstecken. Aber damit endet auch schon meine Lobrede auf dieses Buch, das soviel mediales Lob einheimste.
Wenn Sie ein Buch lesen möchten, das Ihnen sagt: Wladimir Putin, einmal KGB – immer KGB (Inspiriert vom James Bond Film Nr. 14, 1985), ein Mörder, ein Meister der Revanche, ein teuflischer Menschenfischer, der fast alle und jeden in Deutschland betörte – kurzum „ne fiese Möpp“ – nur zu!
Wenn Sie ein Buch lesen möchten, in dem fast alle und jeder in der deutschen Politik und Wirtschaft außer Schäuble, Robert Habeck und noch ein paar andere ihr Fett wegkriegen, weil sie alle so dumm waren und naiv im Umgang mit Russland – nur zu!
Wenn Sie in aller Ausführlichkeit über NordStream erfahren wollen, was für ein großer strategischer Flop das war (die deutsche „Lebenslüge“) – nur zu. Zwar erklärte der polnische Ministerpräsident sehr viel schöner und kürzer: Nicht das Attentat war das Verbrechen, der Bau war es, aber wir Deutschen sind oft umständlich und gruseln uns auch gerne in aller Ausführlichkeit über den nichtenttarnten Stasi-Mann, der nach der deutschen Einigung erst im bundesdeutschen Bankenwesen und dann bei NordStream neue Wirkungsstätten fand.
Wenn Sie ein Buch lesen möchten, von Erleuchteten geschrieben, die Ihnen die Rote Zeitenwende-Karte zeigen, weil auch Sie nichts schnallten und immer wieder über Jahre ebenjenen Politikerinnen und Politkern, die nichts in Sachen Russland verstanden, trotzdem ihre Stimme gaben (Gerhard Schröder, dann Angela Merkel, insgesamt 23 Jahre) – nur zu! In der Mehrheit der Wählerschaft hätten Politiker wie Merkel keinen „echten Mumm, Risikobereitschaft, Leidensfähigkeit“ gesehen. Kurzum, ein Volk der mehrheitlichen Waschlappen, das nicht bereit ist, seine Söhne herzugeben.
Das ist die ganze Essenz des Werks: Ein paar Wenige haben angeblich alles geahnt, gewarnt, gewusst. Der ganze große Rest von Politik über Wirtschaft bis Wählerschaft war schlicht viel zu dämlich, wenn es um Russland (oder Putin) ging. Sie ließen sich täuschen, vorführen, verführen. Was man den Russen alles „durchgehen“ ließ!
Lennart Meri, der estnische Präsident, war schon 1994 klarsichtig. Seine Landsmännin Kaja Kallas ist es heute: An diesem Russland ist alles naturhaft aggressiv, kriegslüstern.
Wir wissen recht verlässlich, das wird auch im Buch erwähnt, dass viele sowjetische Geheimdienstler, aber auch Chemiewaffenexperten, in jener Nach-Wendezeit Schlange standen und sich dem einstigen Gegner andienten. Das hat Putin definitiv nicht gemacht.
Alexander Litwinenko (erst FSB, dann MI 6) konvertierte auf dem Sterbebett sogar noch zum Islam und wurde aus Sicht tschetschenischer Separatisten vom Waffenkameraden zum Bruder im Glauben. Wer ihn qualvoll sterben ließ, ist bis heute nicht geklärt, wenn man ein ordentliches Gerichtsverfahren zum Maßstab nimmt. Litwinenko glaubte an die Schuld von Putin. Die Autoren auch. Glauben ist nicht Wissen.
Beim Machtantritt versprach Putin, sich um Russland zu kümmern. Einem Land, im dem zu viel Sowjetunion weiterlebte. Der „homo sovieticus“ – in jedem ein kleiner Putin drin.
Das ist das Problem mit Systemtransformationen. Man muss sie mit den Leuten machen, die man hat, auf der Grundlage der Bedingungen, die man vorfindet.
Was wohl im „homo germanicus“ so alles drinsteckt?
Die Vorstellung der Autoren erscheint völlig falsch, die Ukraine hätte nach ihrer politischen Unabhängigkeit allerbeste Entwicklungschancen gehabt, falls sie sich nur vom russischen Joch befreie. Sie war 1991 weder die „Kornkammer“ noch eine „Schlagader“ der Sowjetunion, sondern über viele Lebensadern in den gewachsenen Organismus des sowjetischen Vielvölkerstaates eingebunden, der sich mit der politischen Auflösung der Sowjetunion nicht einfach erledigte. „Wild East“ machte auch vor ihr nicht Halt.
Das Buch folgt konsequent der Philosophie der Zeitenwende. Es verfolgt ein klares Feindbild und hat insofern „Struktur“. Die Aufarbeitung des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion seien wir so vielen schuldig, und dann folgt eine Aufzählung, die mit den „Leidtragenden von Putins Kriegen, den Opfern seiner Obsessionen“ beginnt. So zeigen sie, wer sie sind.
Schon die Putin-Rede im Bundestagsplenum 2001 gilt den Autoren als manipulativer Glanzakt: Ihr Zustandekommen, der ganze Auftritt. Putins Augen! Glauben die Autoren, dass sich niemand nochmals das Originalvideo anschaut? Nicht noch einmal hört, dass abschließend ein russischer „Willen zu vollwertiger Zusammenarbeit und Partnerschaft“ erklärt wurde, in weichem Deutsch, mit bescheiden gesenktem Blick und eiligem Abgang?
Kurzum, das Buch ist ein mehr oder weniger umfassendes Zeugnis von Russenhass, das sich in vorgeblicher deutscher Dummheit und tatsächlicher Geschichtsblindheit suhlt. US-Vertreter sind zwar gelegentliche Kronzeugen, allen voran William Burns und Fiona Hill, aber US-Politik kommt fast nicht vor. Es ist, als ob Deutschland und Russland über die Jahrzehnte im luftleeren Raum tanzten: Die Russen mit langer boshafter Agenda, während die ahnungslosen Deutschen nie die Welt richtig verstanden, die ihnen nun nachträglich im Buch erklärt wird.
Ach, hätte doch Deutschland (Merkel) einen schnellen Nato-Beitritt der Ukraine (und von Georgien) 2008 nicht vermurkst! Denn, dieses Russland muss verstehen, dass es den Kalten Krieg verloren hat. So liest man.
Das Werk lebt auch von der Kunst des Weglassens, des Muts „zur Lücke“. Die Autoren können sich nicht entscheiden, ob nun die Auffassung stimmt, das Putin „immer lügt“ oder ob er ausnahmsweise gelegentlich die Wahrheit spricht, die dann auszugsweise oder fehlinterpretiert zum Beweis genommen wird, wie durchtrieben und abgrundtief böse der immer schon war und blieb.
So liest man wieder, was bereits bis zum Erbrechen zu lesen war: Putin spricht der Ukraine das Existenzrecht ab, die „Orangene Revolution“ sei genuin gewesen usw. Vom Nuland-Telefonat blieb den Autoren „Fuck the EU“ in Erinnerung, nicht aber, dass in diesem Gespräch, noch vor dem Umsturz in der Ukraine, zwei US-Vertreter die neue ukrainische Regierungsspitze beschlossen. Zur Einigung der Außenminister über eine gewaltfreie Lösung des schweren inneren Konflikts der Ukraine wird Frank-Walter Steinmeier zitiert, dass Außenpolitik „richtig Spaß machen kann“, nicht aber sein Eingeständnis zur Dramatik der Lage. Die Ukraine habe vor einer politischen Spaltung gestanden. Er werde dafür Sorge tragen, dass die Einigung hält. Die Autoren halten den gewaltsamen Umsturz in Kiew 2014 für einen „revolutionären Moment“.
Selbstverständlich geht es auch in diesem Buch um „hybriden“ Krieg, den dessen Erfinder Mark Galeotti 2018 erfolglos widerrief. „Hybrid“ ist ein so schönes Wort, gut geeignet, damit alle mutmaßlichen, erfundenen oder realen (russischen) Gemeinheiten dieser Welt zu beschreiben, immer in der Annahme, der Westen kenne oder praktiziere nie etwas Böses.
Die Autoren glauben auch an die russische Beeinflussung der US-Wahl 2016, obwohl die US-Aktenlage das inzwischen längst ad absurdum geführt hat. Sie trafen allerdings die völlig korrekte Einschätzung, dass diese (falsche) Beschuldigung Russlands die deutsche Politik massiv beeinflusste. Schließlich glaubte sie, wie man erfährt, auch der BND.
Auch beim Sergei Skripal- und Alexej Nawalny-Fall sind die Autoren ganz auf Nato-Linie: Russland habe ein geheimes Chemiewaffenprogramm und meuchele gerne mit Nowitschok. So stand es immer wieder in der Presse. Also nichts Neues, nur viel Unsinn.
Dawn Sturgess, nach vier Monaten qualvoll gestorben? Die Skripal mit Nowitschok nahezu tödlich vergiftet? Nick Bailey, ein „Ersthelfer“ der Skripals? Niemand wisse, wie hoch eine letale Dosis bei einem Gift der Nowitschok-Familie sei?
Wenn an Nowitschok-Nervengiften etwas „binär“ ist, dann ist es die Verbindung zwischen der Giftigkeit westlicher Nervengifte (wie ein VX) mit der blitzschnellen Alterung, die die von Deutschland entwickelten Nervengiften prägen, allen voran Soman. Entwickelt in der Sowjetunion, traten diese Gifte spätestens in den 1990er Jahren die Reise in den Westen an und wurden dort im Geheimen erforscht. Ein Gift aus der Nowitschok-Familie, A 234, das gut 20 Jahre später im Fall Skripal eine Rolle spielen sollte, wurde durch ein Leak eines geheimen US-Dokuments 1997 erstmals erwähnt. Das weiß man aber nur, wenn man gründlich recherchiert.
Dass Julia Skripal am 8. März 2018 aus dem Koma geholt wurde, mit einem Arzt kommunizierte und keine Anzeichen einer Hirnschädigung aufwies, scheinen die Autoren auch nicht zu wissen. Die fragen sich nicht, wer hier wen dreist belog bzw. manipulierte. Wer hier wen schützt.
Aber, auch im Mist findet sich gelegentlich eine Perle. In dem Fall in der Beschreibung des Nawalny-Falls. Angeblich gibt es in Deutschland die Fähigkeit, ein Gift der Nowitschok-Familie zu identifizieren, das nie der OPCW gemeldet wurde. Damit wäre unser Land seit Jahrzehnten vertragsbrüchig. Ist das so?
Um es allen, nicht nur den fehlinformierten Autoren ins Stammbuch zu schreiben: Es gibt kein Gegenmittel gegen eine Nowitschok-Vergiftung. Die blitzartig eintretenden körperlichen Schädigungen sind durch nichts rückgängig zu machen. Auch nicht durch Atropin. Das bestätigte zuletzt eine tschechische Studie zu Nowitschok A 234 aus dem Jahr 2024. Ihr Ergebnis entsprach genau der Aussage des Leiters des britischen Chemiewaffenlabors von Porton Down (2018), dem Forschungsergebnis von James Poarch (1997) und dem letalen Ausgang des einzigen zuverlässig belegten Falls einer Vergiftung durch ein Nowitschok-Nervengift in einem sowjetischen Labor 1987. Laborbestätigt wurden immer nur Spuren von Zerfallsprodukten. Nie fragte einer, wie diese wohl ins Blut der angeblichen Vergiftungsopfer gelangten.
Auf die wirklich interessante Frage, warum ausgerechnet der Chef des ukrainischen militärischen Geheimdienstes, Kyrylo Budanow, bestätigte, der in Russland schließlich inhaftierte Nawalny sei eines natürlichen Todes gestorben, gehen die Autoren nicht ein. War Nawalny nicht gerüchteweise zum Austausch gegen den „Tiergarten-Mörder“ bestimmt?
Was diesen und jeden anderen Mord oder Mordversuch betrifft: Es ist immer inakzeptabel. Die Frage bleibt offen, warum Deutschland das Tiergarten-Mordopfer, einen durch Russland gesuchten Verbrecher, nicht auslieferte. Warum in allen Fällen, in denen es die Verdächtigung Russlands gab, der Westen sich anmaßte, die „Wahrheit“ zu kennen, statt sie penibel und vorurteilsfrei zu ergründen.
Frei kam der verurteilte Tiergarten-Mörder trotzdem. Durch einen Austausch. Weil in der Welt der realen Politik für Ost und West gleichermaßen gilt: die „unseren“, die, die die „Drecksarbeit“ machen, lassen wir nicht im Stich. Sonst macht die bald keiner mehr. Kanzler Olaf Scholz soll dem US-Präsidenten Jo Biden wegen dieses Austauschs versprochen haben: Für Dich mache ich das.
Ja, das ist die Devise, die die deutsche „Zeitenwende“ prägt. Sie erstreckt sich auch auf „Daddy“ Donald. Was für eine Geschichte vermeintlicher deutscher Emanzipation.
Schlagwörter: Georg Mascolo, Katja Gloger, Petra Erler, Russlandpolitik, Ukraine, Wladimir Putin

