Tucholsky pflegte seine gesamte Post über die Schweiz zu leiten; daher trägt der folgende Brief, obwohl in Gotenburg geschrieben, die Ortsangabe Zürich. (Er ist vom fünfzehnten Dezember 1955 datiert, wurde also wenige Tage vor Tucholskys Tod verfasst.
In verzweifelter Stimmung hat Tucholsky manches schroff, überschroff formuliert. Ein privater Briefwechsel enthält oft für die öffentliche Diskussion ungeeignete Wendungen[1], und so musste dieser Brief an mehreren Stellen gekürzt werden. Geändert wurde; nichts; die harten Urteile über, die deutschen Juden, die Emigration, die Emigrationspublizistik und die Politik der Opposition blieben erhalten.
Der Brief ist die Stimme eines Einzelnen, eine Freundesstimme gegen uns. Die Bitterkeit, die er enthält, erfüllte aber nicht nur Tucholsky. Wollen wir die Verbitterten, die Müdegewordenen, die Enttäuschten wieder dem Leben gewinnen, so dürfen wir ihnen nicht nur predigen; zunächst müssen wir ihnen den Mund öffnen, müssen sie anhören – und dann zu ihnen sprechen. Das rechtfertigt diese Publikation.
Die Redaktion
Zürich, 15.12. 35.
Lieber Arnold Zweig,
ich danke Ihnen herzlichst für Ihren Brief vom 13. 11. Dank für alle freundlichen Worte – und wenn Sie mir neben „Verdun“ auch die „Bilanz der Judenheit“ schicken lassen wollten, so wäre ich Ihnen sehr dankbar. Dass ich erst heute antworte, liegt an meinem Gesundheitszustand; es geht mir nicht gut.
Ja, da wäre also einiges zu sagen. Sie sind, lieber Zweig, einer der so seltenen Schriftsteller, die eine Kritik (damals über Grischan) so aufgenommen haben, wie sie gemeint gewesen ist, nämlich freundschaftlich. Das habe ich Ihnen nicht vergessen. Deshalb möchte ich Ihnen etwas schreiben, das wenig mit Ihrem Werk, viel mit Ihrer Anschauung zu tun hat – es richtet sich gar nicht an-Sie, .aber ich spreche zu Ihnen.
Ich bin im Jahre 1911 „aus dem Judentum ausgetreten“, und ich weiss, dass man das gar nicht; kann. Die Formel vor dem Amtsgericht lautete so. Sie wissen, dass damit keine Konjunkturkriecherei verbunden gewesen ist – ein Jude hatte es im Kaiserreich erträglich, ein Konfessionsloser nicht. (Militär, vadächtiger Hund, vadächtiga.) Warum also tat ich das? Ich habe es getan, weil ich noch aus der frühesten Jugendzeit her einen unauslöschlichen Abscheu vor dem gesalbten Rabbiner hatte … Wendriner war damals noch nicht geboren. Doch – aber er hatte noch keinen Namen. Also heraus.
Antisemitismus habe ich nur in den Zeitungen zu spüren bekommen, im Leben nie. Mit dem feinen Instinkt, der die Burschen auszeichnet, haben mich viele Leute nicht für einen Juden gehalten, was ich nicht geschmeichelt anmerke, sondern belustigt. In dreieinhalb Jahren Militär: nichts. Zuletzt war ich Polizeikommissar – auch nicht die Spur eines Hauches einer Idee. Ich habe mit den Kerlen im Kasino gesoffen, was mir eine gute Kenntnis des Milieus für später ermöglicht hat – nichts war zu spüren. Ich spreche also nicht aus Ressentiment.
Auch gehöre ich nicht zu den bekannten, jüdischen Antisemiten.
Über Palästina erlaube ich mir keinerlei Bemerkung –; ich kenne die Verhältnisse nicht. Zweierlei fällt mir auf: Das ist kein jüdischer Staat, sondern eine englische Kolonie, in der die Juden – wie unter Pontius Pilatus – eine Rolle spielen, die mir nicht schmeckt, und wohl manchen Juden dort unten auch nicht: Zweitens: die deutschen Juden, die Geld hatten, durften nur heraus, wenn sie statt ihres Geldes eine Abmachung mitherausnahmen, bei der Palästina mit deutschen Waren überschwemmt wird.
Doch ist das Sache der Zionisten, und da ich nicht mittue, nehme ich mir wenig Recht, zu kritisieren. Wohl aber darf ich Ihnen sagen: Was sind Sie? Angehöriger eines geschlagenen; aber nicht besiegten Heeres? Nein, Arnold Zweig, das ist nicht wahr. Das Judentum ist besiegt … und es ist auch nicht wahr, dass es seit Jahrtausenden kämpft. Es kämpft eben nicht. Die Emanzipation der Juden ist nicht das Werk von Juden. Diese Befreiung ist den Juden durch die französische Revolution, also;.yon Nicht-Juden, geschenkt worden – sie haben nicht dafür gekämpft. Das hat sich gerächt …
Mir hat schon diese faule und flaue Erklärung nie gefallen, mit der man mir erzählt hat: die Ghettojuden im sechzehnten Jahrhundert konnten nicht anders, sie waren bedrückt, man liess sie ja nichts andres tun als schachern. Nein, lieben Freunde. Ghetto ist keine Folge Ghetto ist Schicksal. Eine Herrenrasse wäre zerbrochen – diese da „müssen doch leben“. Nein, so muss man nicht leben, so nicht. Aber lassen wir die mittelalterlichen Juden – nehmen wir die von heute, die von Deutschland. Da sehen Sie, dass dieselben Leute, die auf vielen Gebieten die erste Geige gespielt haben, das Ghetto akzeptieren – die Idee des Ghettos und ihre Ausführung. Ich sehe diese Kerle bis hierher – ohne mich um sie zu kümmern, ich lese keine deutschen Zeitungen und so gut wie gar keine Emigrationsliteratur – ich sehe sie. Man sperrt sie ein; man pfercht sie in Judentheater mit vier gelben Flecken vorn und hinten, und sie haben (wie ich das höre!) nur einen Ehrgeiz: „Nun werden wir ihnen mal zeigen, dass wir das bessere Theater haben!“ …
Der grosse Moment fand ein kleines Geschlecht. Wie! Nicht zu begreifen, dass im März 33 der Augenblick gekommen war, in umgekehrter Proportion auszuziehen – also nicht wie heute einer auf zehn, sondern einer hätte dableiben müssen, und neun hätten gehen müssen, sollen, müssen. Hat sich auch nur ein Rabbiner gefunden, der der Führer seines Volkes gewesen ist? Auch nur ein Mann? Keiner. In Nürnberg wohnte eine so reiche und einflussreiche Judengemeinde – dort ist der Herr Streicher gross geworden …
Wohin unsere Warnungen gefallen sind, wissen Sie. Und dann war es zu spät – es war vielleicht noch eine Sekunde Zeit – und was war dann? Dann taten die Leute etwas, das mir immer das Wort Beer-Hofmanns, das er einmal zu mir gesagt hat, ins Gedächtnis zurückruft: „Der Jude ist gar nicht klug. Die andern sind, in manchen Gegenden, nur dümmer.“ So ist es.
Hätten Sie dem Durchschnittsjuden im Jahre 1933 gesagt, er würde Deutschland unter Bedingungen verlassen, wie sie ihm das Jahr 1935 ff. bieten, er hätte Sie ausgelacht. „Ich kann doch nicht weggehen!“ (und nun, wie ein Spieler) „Ich bin doch im Verlust! Was meinen Sie – mein Geschäft …“ Und jetzt schleichen sie heraus, trübe, verprügelt … pleite, des Geldes beraubt … Heroismus war hier nun auch noch das bessere Geschäft. Also warum haben wir diesen Weg nicht gewählt? …
Es steht bei dem grossen Péguy, den ich Ihnen gar nicht genug empfehlen kann, eine Stelle, in der es ungefähr heisst: Die Juden hören nicht gern auf ihre Propheten, denn sie wissen, was das kostet. Ihre jahrhundertelange Erfahrung … und so fort, recht philosemitisch. Das ist wacker und brav – aber es ist nicht wahr. Wer die Freiheit nicht im Blut hat, wer nicht fühlt, was das ist: Freiheit – der wird sie nie erringen. Wer das Ghetto als etwas von vornherein gegebenes akzeptiert, der wird ewig darin verbleiben …
Das klingt nun so, wie wenn das gegen den gerichtet wäre, an den ich diesen Brief richte – aber mit Ihnen hat das nur sehr mittelbar zu tun. Ich kann Ihnen zwar nicht folgen, wenn Sie die Jüdin loben, weil sie Eigenschaften hat, die ich bei anderen genau so sehe („Sie weiss auf Gartenfesten schön zu sein“ – aber das kann Minchen Müller auch) – aber ich weiss, dass Sie nie einen Daumenbreit nachgäben. Ich klage vor Ihnen – ich belle Sie nicht an …
Man hat eine Niederlage erlitten. Man ist so verprügelt worden, wie seit langer Zeit keine Partei, die alle Trümpfe in der Hand hatte. Was ist nun zu tun? Nun ist mit eiserner Energie Selbsteinkehr am Platze. Nun muss, auf die lächerliche Gefahr hin, dass das ausgebeutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser ist. Nun muss – ich auch! ich auch! – gesagt werden: Das haben wir falsch gemacht, und das und das – und hier haben wir versagt. Und nicht nur: die andern haben … sondern: wir alle haben.
Was geschieht statt dessen? Statt dessen bekommen wir Lobhudeleien zu lesen, die ich nicht mag – Lob der Juden und Lob der Sozis und der Kommunisten – „sie sitzen da und hochachten einander“ heisst es einmal im Schwedischen … Statt einer Selbstkritik und einer Selbsteinkehr sehe ich da etwas von „Wir sind das bessere Deutschland“ und „Das da ist gar nicht Deutschland“ und solchen Unsinn. Aber ein Land ist nicht nur das, was es tut – es ist auch das, was es verträgt, was es duldet. Es ist gespenstisch, zu wissen, was die pariser Leute treiben – wie sie mit etwas spielen, was es gar nicht mehr gibt. Wie sie noch schielen – wie sie sich als Deutsche fühlen – aber zum Donner, die Deutschen wollen euch nicht! Sie merken es nicht.
Das ist Deutschland. Die Uniform passt ihnen – nur der Kragen ist ihnen zu hoch. Etwas unbequem – etwas störend – so viel Pathos und so wenig Butter – aber im übrigen? Wie sagt Alfred Polgar: „Der Umfall beginnt damit, dass man hört: Eines muss man den Leuten lassen …“ Und sie lassen ihnen das eine und das andere und dann alles.
Das ist bitter, zu erkennen. Ich weiss es seit 1929 -— da habe ich eine Vortragsreise gemacht und „unsere Leute“ von Angesicht zu Angesicht gesehen, vor dem Podium, Gegner und Anhänger, und da habe ich es begriffen, und von da ab bin ich immer stiller geworden. Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Russland erobern – ich bin damit fertig.
Ich glaube Sie als Schriftsteller zu kennen – es ist möglich, dass Sie sich hiermit auseinandersetzen … Aber ich kann nicht Unrecht haben –: die Tatsachen sprechen für mich. Die Tatsache, dass es ein Volk gibt (Juden und die schwächlichste deutsche Bourgeoisie, die sich als links ausgab oder es zum kleineren Teil auch gewesen ist), ein Volk, das Demütigungen einsteckt, ohne sie zu fühlen. Sie haben eine Frau – Sie haben Kinder, glaube ich. Nun …
„Dabei sensible Naturen, die es vielleicht nicht so schroff empfanden, wenn ein Knote ganz bieder am Versöhnungstage einem Herrn mit Gebetbuch ,Verpuchtes Judenaas’ nachrief; oder wenn ein Major von den ‚Elfern‘ vorn auf der Strassenbahn offen erklärte: ‚Wieviel schwangere Judenweiber man sieht – ‘s ist zum Kotzen!‘ Nicht das war verletzend. Sondern wenn aufgeklärte Freunde, Wohlwollende, schonend sagten: ,Die jüdischen Herrschaften‘ – das traf.“
Das ist von Kerr. Wie soll das also erst bei einem mindern Menschen aussehen. Nein, mein Lieber – das ist nichts und das wird nichts. Diese Frage sehe ich weit über das Jüdische hinaus – ich sehe eine Sozialdemokratie, die erst siegen wird, wenn es sie nicht mehr gibt – und zwar nicht nur, weil sie charakterlos … gewesen ist (und wer war denn das anders als eben wieder Deutsche), sondern die die Schlacht verloren hat, weil die Doktrin nichts taugt – sie ist falsch. Glauben Sie bitte nicht, ich sei inzwischen zu Blut und Boden oder sonst etwas übergelaufen – ich empfehle Ihnen von Dandieu et’ Aron „La revolution necessaire“, ich empfehle Ihnen die Hefte des „Ordre Nouveau“, eine der belangreichsten Sachen, die mir je untergekommen ist, ich empfehle Ihnen à la rigueur auch den „Esprit“ (Paris) – und Sie werden sofort begreifen, was ich meine. Man muss von vorn anfangen.
Man muss ganz von vorn anfangen – „Ford, c’est Descartes descendu dans la rue“ heisst eine der Formeln Dandieus. – (Er ist leider, viel zu jung, mit sechsunddreissig Jahren gestorben.) Man muss von vorn anfangen, nicht auf diesen … Stalin hören …
Wir werden das nicht erleben. Es gehört dazu, was die meisten Emigranten übersehen, eine Jugendkraft, die wir nicht mehr haben. Es werden neue, nach uns, kommen. So aber gehts nicht. Das Spiel ist aus.
Nihilismus? Lieber Zweig, ich habe in den letzten fünf Jahren viel gelernt – und wäre mein schlechter Gesundheitszustand nicht, so hätte ich dem öffentlich Ausdruck gegeben. Ich habe gelernt, dass es besser ist, zu sagen, hier sei nichts, als sich und andern etwas vorzuspielen. (Was Sie nie getan haben.) Aber das Theater der Verzweiflung, die noch in … Thomas Mann einen Mann sieht, der, Nobelpreisträger, sich nicht heraustraut und seine „harmlosen“ Bücher in Deutschland weiterverkaufen lässt – die Verzweiflung, die dieselben Fehler weiter begeht, an denen wir zugrundegegangen sind: es nämlich nicht so genau mit den Bundesgenossen zu nehmen – dieses Theater kann ich nicht mitmachen. Und hier ist das, was mich an der deutschen Emigration so abstösst: es geht alles weiter, wie wenn gar nichts geschehen wäre. Immer weiter, immer weiter – sie schreiben dieselben Bücher, sie halten dieselben Reden, sie machen dieselben Gesten. Aber das ist ja schon nicht gegangen, als wir noch drin die Möglichkeit und ein bisschen Macht hatten – wie soll das von draussen gehen! Sehn Sie sich Lenin in der Emigration an: Stahl und die äusserste Gedankenreinheit. Und die da?… Doitsche Kultur. Das Weltgewissen … Gute Nacht.
Ich enthalte mich jedes öffentlichen Schrittes, weil ich nicht der Mann bin, der eine neue Doktrin bauen kann – ich bin kein grosser Führer, ich weiss das. Ich bin ausgezeichnet, wenn ich einer noch dumpfen Masseneinsicht Ausdruck geben kann – aber hier ist keine. Entmutige ich? Das ist schon viel, wenn man falsche und trügerische Hoffnungen abbaut … Das Regime wird von der ganzen Welt unterstützt, denn es geht gegen die Arbeiter. Aber stürzte das selbst zusammen: die deutsche Emigration ist daran unschuldig …
Das ist ein langer Brief geworden, halten zu Gnaden. Ja, wenn Sie herkommen und ich bin grade in der Schweiz, wirds mich freuen, mit Ihnen zu plaudern. Ich bin ein aufgehörter Schriftsteller – aber mit Ihnen sprechen, das wird immer ein kleines Fest sein.
Alles Gute für Sie! Und vor allem für Ihre Augen!
Herzlichst Ihr getreuer
Tucholsky.
[1] – Deutlicher wurde Wb-Chefredakteur Hermann Budzislawski in einem Brief an den langjährigen Wb-Mitarbeiter Alfred Polgar: „[…] ich bin leider nicht imstande, Tucholskys Brief ungekürzt abzudrucken, lange Stellen würden am nächsten Tag schadenfroh im Völkischen Beobachter nachgedruckt werden, es sind pamphletische Stellen gegen die Juden, gegen alle, die ihn enttäuschten. Durch das Auslassen dieser Stellen, die auch niemals für die Weltbühne gedacht waren, und die man eines Tages, unter veränderten politischen Verhältnissen, nachträglich veröffentlichen wird, verändert sich nichts am Gedankengang des Briefes, es wird nur weniger scharf und grob akzentuiert.“ (Zitiert nach dem Vorwort von Thomas A. Eckert in: Die neue Weltbühne. Nachdruck der Originalausgabe Prag/Paris 1933-1939, Band 1, München/London/NewYork 1992, S. XXII.)
Schlagwörter: Arnold Zweig, Emigration, Ghetto, Juden, Kurt Tucholsky

