Der letzte Artikel Tucholskys?

von Hans-Jürgen Stephan

Am 29. September 1932 erschien die erste Ausgabe der „Wiener Weltbühne“. Herausgeber war Carl von Ossietzky, Chefredakteur ein bis dahin weitgehend unbekannter Mann: Willy Schlamm, jenerJournalist, der später in der Bundesrepublik Hetz-Kolumnist der Springer-Presse wurde. Im redaktionellen Vorspann hieß es: „Die Wiener Weltbühne wird jede Woche aus dem gleichzeitig erscheinenden Heft der Hauptausgabe die wichtigsten Beiträge übernehmen und daneben solche Aufsätze veröffentlichen, die sich mit Fragen der der österreichischen Politik, Kunst und Wirtschaft beschäftigen.“

Nach dieser Vorbemerkung kam ein Artikel Kurt Tucholskys zum Abdruck, der erst in diesem Jahr „wiederentdeckt“ wurde. Bisher war man davon ausgegangen, daß der Artikel „Für Carl v. Ossietzky“ vom 17. Mai 1932 – Anlaß war der Haftantritt des Weltbühnen-Herausgebers – der letzte politische Aufsatz Tucholskys sei. Nun erfährt man, daß er auch noch im September 1932 ein politisches Bekenntnis in der Öffentlichkeit ablegte und dies nicht bloß unter einem seiner verschiedenen Pseudonyme, sondern mit seinem Namen, was er nur dann tat, wenn ihm die Artikel wichtig waren und er an deren Urheberschaft keinen Zweifel aufkommen lassen wollte.

In seinem Aufsatz „Berliner in Österreich? Nein: Sozialisten bei Sozialisten!“ umschreibt Tucholsky die Motive für die Neugründung: „Für unsere österreichischen Freunde geben wir nun eine Wiener Weltbühne heraus, denn österreichische Politik kann von Berlin aus nicht gemacht werden. Sie soll von Wien aus gemacht werden.“ Und: „Wir wollen unsre Reichweite vergrößern.“

Der linksliberale „Montag Morgen“ bezweifelte diese offizielle Version in seiner Meldung vom 10. Oktober zu Recht, als er feststellte: „Der ,Weltbühne‘ ein größeres Verbreitungsfeld in Österreich zu sichern, dürfte der geringste Zweck der Neugründung sein.“ Bereits im Oktober 1930 hatte sich Ossietzky in Kopenhagen nach einer Ausweichmöglichkeit vor dem drohenden Faschismus umgesehen, in der Hoffnung noch, „daß das alles nicht nötig sein wird“, wie er seiner Frau Maud schrieb. Nun, zwei Jahre später, war es den Weltbühnen-Verantwortlichen endlich gelungen, ein Ausweichquartier zu bekommen.

Tucholsky aber hatte sich früh abschätzig zur Neugründung in Wien geäußert. In einem Brief an seine Schweizer Freundin Hedwig Müller schrieb er am 12. September 1932: „Die Wiener Ausgabe der ,Weltbühne‘ wird wohl nichts werden, denn ich kann mir nicht denken, daß mit diesen Arbeitsmethoden überhaupt irgend etwas zu erzielen ist. Es ist grauslich, ich mische mich da nicht ein, dazu sind mir meine Nerven zu schade, maßen es nicht bezahlt wird. Hier gehen nicht einmal die Uhren richtig, so viel Schlamperrei, Unprofiliertheit, vages Herumgerede … also nicht mit mir.“ Und er hatte sicher doch während seines Sanatoriumsaufenthaltes in Wien versucht, sich einzumischen. Und schrieb dann auch jenen Einleitungsartikel, eine Pflicht, die er schließlich als (immer noch) Mitverantwortlicher übernahm.

„Ossietzky kann sich in dieser Wiener Ausgabe nicht äußern: er sitzt im Gefängnis“, erklärt Tucholsky die Situation, die sich nach dem Haftantritt Ossietzkys am 10. Mai 1932 für die Mitarbeiter der Weltbühne ergeben hatte, und ergänzt: „In dem Bestreben, gegen den Krieg zu arbeiten, wo immer er seinen bunten Schatten vorauswirft, hat mein Freund Ossietzky einen Artikel veröffentlicht, den wohl jeder Journalist hätte durchgehen lassen: die Arbeit befaßte sich mit eigenartigen Vorgängen in der deutschen Fliegerei. Das Reichsgericht hat den Verfasser des Artikels und den Verantwortlichen, Carl von Ossietzky, zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, eine administrative Maßnahme, die mit Justiz wenig zu tun hat. Der Kampfeswille Ossietzkys ist ungebrochen; er wird so aus der Haft hervorgehen, wie er hineingegangen ist: ein reiner Soldat des Friedens.“

Liest man den Artikel im Zusammenhang, erscheint er in manchem etwas halbherzig: im Stil etwa, im Gebrauch von bestimmten Worten, in der Geschlossenheit des Aufbaus. Man merkt dem Artikel an, daß Tucholsky krank war und eigentlich nicht mehr wollte. Dennoch liegt hier noch einmal ein programmatischer Leitartikel m Tucholskys vor, der einige seiner wichtigsten Themen vereint: die Abrechnung mit der deutschen Sozialdemokratie, die Hoffnung auf eine antifaschistische Einheitsfront und ein geeintes Europa, die Warnung vor dem Faschismus.

„Darf man das?“, fragt Tucholsky, „darf man sich in die Verhältnisse eines anderen Landes einmischen? Man darf nicht nur – man muß es manchmal tun. Man muß es allemal dann tun, wenn es gilt, fremde Bundesgenossen zu unterstützen. Dazu gehören Takt, Verständnis, Ruhe und viel Wissen – aber es gibt keine innere Verhältnisse, die den Nachbar nichts angingen. Europa ist ein Großes Haus. Seit wann darf eine Mietspartei im zweiten Stock ein Feuer anzünden und dann abwehrend rufen: ,Mischt euch nicht in meine Verhältnisse! Das ist meine Wohnung!“? Jede Mietswohnung ist der Bestandteil eines Hauses – jedes europäische Land ist ein Bestandteil Europas. Wer sich abschließt, ist ein Dummkopf und ein Friedensstörer.“

Zum Nationalismus und zum Faschismus: „Und es ist ja nicht wahr, daß die Nationalisten sich nicht in die Verhältnisse andrer einmischen! Sie tun es dauernd. Die Fascisten machen außerhalbItaliens Proselyten, wo sie nur können, und sehr wenige Regierungen hindern sie daran. Das Pack schlägt sich nicht. Das Pack verträgt sich. Was hat Goebbels in Wien zu tun? Großmäuler habt ihr allein. Wer den Nationalismus predigt, bleibe zu Hause und nähre sich unredlich. Die Internationale der Nationalen ist die Rüstungsindustrie.“

Zur deutschen Sozialdemokratie: „Wir bejahen die Erfolge der östereichischen Sozialisten; was es an Ihnen zu kritisieren gibt, das mögen unsere österreichischen Freunde kritisieren. Das besorgten wir gegenüber der deutschen Sozialdemokratie, der wir einen großen Vorwurf gemacht haben. Nicht den, daß die Leute paktiert haben, daß sie Grundsätze geändert haben. Politik ist keine Mathematik. Aber daß die deutschen Sozialisten dergleichen getan haben, ohne auch nur das leiseste für sich zu erreichen, daß sie von Fritz Ebert bis zu dem unsäglichen Breitscheid dauernd verraten, ohne etwas dafür nach Hause zu bringen, daß sie zu einem ,Novemberverbrechen‘ viel zu feige gewesen sind: das machen wir ihnen zum Vorwurf. Was ist aus dieser Partei geworden? Ein Judas ohne Silberlinge.“

Und zum Schluß Tucholskys großes Bekenntnis zur Einheit: „Da für uns die Interessen der arbeitenden Klassen an erster und die Saatsinteressen an zweiter Stelle stehen, so arbeiten wir auch in Österreich. Wir haben denselben Feind. Wir wollen ihn vereint schlagen.“

Innerlich hatte sich Tucholsky vom politischen Tagesjournal,ismus bereits zurückgezogen. Am 1. Mai 1932 hatte er seiner Frau Mary geschrieben: „Wird auch in politicis sehr abblasen – das Spiel dürfte aus sein.“ Im August 1932 zieht er einen langen Querstrich durch sein Notizbuch, in das er minutiös seine literarische Produktion eintrug, setzt die Bemerkung „Urlaub“ hinzu, für den September findet sich nur noch die Eintragung „das hat sich zerschlagen“.

Mit der Gründung der „Wiener Weltbühne“ am 29. September 1932 war der Grundstein für die Exil-Weltbühne grad noch rechtzeitig gelegt worden. Über das Schlamm-Zwischenspiel in Wien kam das Blättchen nach Prag, wo es – zunächst weiter unter Schlamm – im April 1933 als „Die Neue Weltbühne“ herauskam. Seit dem 15. März 1934 war dann Hermann Budzislawski federführend, seit 1938 in Frankreich, wo das Blatt Ende August 1939 von den französischen Behörden verboten wurde. Der Artikel Tucholskys aber blieb bis in dieses Jahr hinein offenbar unbekannt, jeder Hinweis in Sammelbänden und den verschiedenen Werkausgab fehlt bisher.

Weltbühne, 39/1988