28. Jahrgang | Nummer 17 | 6. Oktober 2025

Ein Amerikaner am „Roten Kloster“

von Victor Grossman

Victor Grossman (eigentlich Stephen Wechsler), geboren 1928 in New York, desertierte 1952 aus der US Army, nachdem bekannt geworden war, dass er seine Mitgliedschaft in der KP der USA verschwiegen hatte, wofür ihm im Klima der McCarthy-Ära bis zu fünf Jahre Haft drohten. In der DDR studierte er Journalistik und war fortan für verschiedene Redaktionen tätig. Von ehemaligen Kommilitonen eingeladen, seine Erinnerungen an die Zeit seines Leipziger Studiums aufzuschreiben, verfasste er folgenden Beitrag.

 

Eine Umstellung war es schon! Zwar lebte ich 1954 schon fast zwei Jahre in der DDR, doch bis dahin in Bautzen, wo damals Deserteure aus westlichen Armeen angesiedelt wurden – die Mehrzahl wie ich aus der US Army, obwohl nur wenige wie ich aus politischen Gründen. Wir bekamen dort eine Berufsausbildung: Ich war stolz, mich offiziell als Dreher bezeichnen zu dürfen! Dennoch war ich froh, von der Karl-Marx-Universität angenommen worden zu sein, in eine Großstadt ziehen zu können (relativ gesehen, immerhin stamme ich aus Manhattan) und wieder Student zu werden, wenn auch schon mit 26 Jahren, umgeben von 18- oder 19-Jährigen. Als vermutlich erster Ausländer an der jungen Journalistik-Fakultät, dazu US-Amerikaner, galt ich gleich als Exot. Auch für mich war vieles neu, gerade im Vergleich mit meinen vier Jahren an der Harvard Universität.

Die erste Überraschung bot schon die Immatrikulationsfeier. Da sprach nicht ein roter Prolet, sondern eine stattliche „Magnifizenz“ mit feudal-goldener Amtskette und sogar einem Schmiss! Später erfuhr ich: Noch als Korps-Student war Rektor Georg Mayer zwar als „Sauf-Mayer, „Huren-Mayer“ und „Säbel-Mayer“ notorisch, wie er erzählte, später aber wurde er von den Nazis als Dozent entlassen und – wenn auch kurz – eingesperrt. Er war damals und blieb ein Linker!

Einige Unterschiede fielen schnell auf. Zu meiner Harvard-Zeit besuchten wir Studenten und die Studentinnen von Radcliffe, dem Schwester-College, zwar die gleichen Vorlesungen, doch nicht die gleichen Seminare. Wir wurden möglichst getrennt! In den Internaten, „Houses“ genannt, war weiblicher Besuch nur zwischen 13 und 19 Uhr erlaubt, mit strengem Ein- und Ausschreiben. In den Internaten des Schwester-Colleges kamen Männer grundsätzlich nicht weiter als bis zur Rezeption. Und in Leipzig? Zwar gab es verschiedene Gebäude, doch um mit der Freundin oder dem Freund allein zu sein, musste man nur die Zimmergenossen loswerden – per Vereinbarung oder zur Not mit ein paar Mark fürs Kino. (Später bauten auch Harvard und Radcliffe die strengen Trennwände ab und wurden eins!)

Auch das Seminargruppen-System war mir neu. Gleich im September 1954 wurden wir Neulinge in Gruppen von etwa 25 eingeteilt, die praktisch unsere Uni-Heimat blieben. Wir saßen nicht nur gemeinsam in Seminaren, sondern gingen auch gemeinsam zum Sport, ins Theater und – auf Anregung eines Studenten – ins Klassik-Konzert. Wir hatten Gruppenabende über einen Künstler, eine Autorin, ein neues Buch. Mindestens einmal gingen etliche in Leipzigs Pony-Bar: Dort gab es nicht nur die durch Fleischmarken begrenzten Portionen – die Rationierung dauerte bis 1958 –, sondern neben Kraut und Kartoffeln große Steakscheiben von nichtrationiertem Pferdefleisch. Das wie das nahe erste Vegetarier-Restaurant waren, wie Kino und Konzert, freiwillig, doch die meisten waren dabei. Es entwickelte sich ein recht enges Gruppengefühl. Das traf auch auf die LPG-Einsätze zu, die meisten Studentinnen und Studenten halfen beim Zuckerrübenhacken oder der Kartoffelernte, die damals nicht mechanisiert war. Wir halfen auch, die letzten Trümmer zu beseitigen und das „Stadion der 100.000“ vorzubereiten. Einmal, für mich unvergesslich, arbeiteten wir beim Schienen-Rücken im riesigen Braunkohletagebau; die nächtliche Szene ähnelte der damaligen Vorstellung von der Mondoberfläche. Für zwei Wochen stand ich um 3.00 Uhr auf, fuhr mit der Bahn und kletterte wohl 100 Stufen hinunter (und später wieder herauf!). Wir wurden dafür bezahlt und alles war freiwillig, doch ein moralischer Druck war schon dabei. Man half mit, zumal die große Mehrheit am „Roten Kloster“ sehr pro-DDR war, sonst hätten sie sich kaum an unserer Fakultät beworben. In den vier Jahren sind aus unserer Gruppe nur drei „in den Westen abgehauen,“ weniger bestimmt als etwa in den Bereichen Medizin, Zahntechnik oder Maschinenbau, wo Studenten während der Ferien bei „Westausflügen“ mit hohen Einkünften, Villen oder Reisen gelockt wurden, aber meist mit dem Rat versehen: „Erst das DDR-Studium zu Ende führen; die schöne Stelle wartet so lange!“ Doch wer in der BRD wollte DDR-Journalistik-Absolventen? Vom „Roten Kloster“?

Ein dritter Unterschied zu Harvard: In den Sommermonaten, vor dem Urlaub, gab es ein Praktikum, wohl für sechs Wochen. Nach dem ersten Studienjahr ging es bei der Leipziger Volkszeitung um Drucktechnik. Da es Elektronik noch nicht gab, lernten und übten wir Handsatz, Linotype, Seitenmontage bis zum Druck, was mir in meinem späteren Job beim Bulletin Democratic German Report sehr zugutekam. Das Praktikum nach dem zweiten Jahr galt der Gründung oder Stärkung einer Dorfzeitung, meistens in Mecklenburg (außer für mich – wegen Sprachproblemen und weil ich Vater wurde). Nach dem dritten Jahr arbeiteten wir bei einer Publikation oder einem Sender. Das Fernsehen war, wie ich, noch sehr mit Windelproblemen beschäftigt.

Jede Seminargruppe hatte ihre FDJ- und ihre SED-Gruppe; im „Roten Kloster“ glich sich die Mitgliedschaft sehr. Beide hatten regelmäßige Versammlungen. Ich war in der FDJ und wurde fast bis zuletzt eingeladen, an SED-Versammlungen teilzunehmen, in meiner Gruppe wie in der ganzen Fakultät. Gewiss übten sie eine Kontrollfunktion aus. Die Parteiorganisatoren aller Seminargruppen trafen sich, diskutierten Fakultätsprobleme und nahmen „das Wort von oben“ entgegen, also von der Universitäts-, der Bezirksleitungs- oder der Politbüro-Ebene. So funktionierte das damals eben, nicht nur im akademischen Bereich. Doch diese Struktur funktionierte auch in der anderen Richtung: Bei Fakultätsversammlungen der SED (und ähnlich der FDJ) erfuhr man auch von etwaigen Ärgernissen der Studenten, konnte manche Beschwerden loswerden und womöglich Änderungen bewirken.

Eine für mich amüsante Episode fällt mir ein: Studenten bekamen damals, wenn ich mich recht erinnere, 180 oder 240 Mark Stipendium im Monat (Arbeiterkinder die höhere Summe, um die Klassenstruktur deutscher Universitäten etwas umzukehren; später ausgeglichen). Ich, wie alle ausländischen Studenten, weil ohne hiesige Familie, erhielt 300 Mark. Die sehr junge DDR hatte aber gerade ökonomische Probleme (nicht zum ersten oder letzten Mal). Also kam – spontan? – die Forderung auf, die Stipendien zu kürzen, vielleicht auf einheitlich 100 Mark. Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass das Studium völlig frei war, der Internatsplatz kostete wohl nur 10 Mark, das Mittagessen höchstens 1 Mark; ärztliche und zahnärztliche Behandlung waren kostenlos. Keiner arbeitete neben dem Studium, niemand hatte nach dem Diplom Schulden abzutragen. Dennoch, 100 Mark waren für einen Monat sehr knapp. Wohl wünschte man sich begeisterte Zustimmung; schließlich seien Stipendien erst „durch Arbeitergroschen möglich“. Woche für Woche drängten SED- und FDJ -Zeitungen, Begeisterung oder zumindest Billigung zu propagieren. Und unser Marxismus-Dozent eröffnete jede Vorlesung mit dem eindringlichen Aufruf, die geplante Kürzung zu begrüßen. Die Studenten blieben wohl recht zurückhaltend – wenigstens im Vorlesungssaal. Doch offensichtlich war die Ablehnung „unten“ so stark, dass man es sich „oben“ anders überlegte. Eines Tages meldete die Morgenzeitung offiziell: Das Gerede von einer Kürzung sei „nur eine RIAS-Ente“ und „entbehre jeglicher Wahrheit.“ Es gab viel Gelächter. Aber nicht bei unserem Dozenten! Ich erwartete wenigstens einen kleinen Witz, ein Körnchen Selbstironie, dass er anscheinend einer „RIAS-Ente“ verfallen sei. Aber nichts Derartiges kam über seine Lippen!

Politik gehörte immer zu unserem Leben. Wir sprachen untereinander auch offen, wenngleich mit einigen Tabus, die etwa die SED-Führung, Stalin und den Gulag betrafen. Fünfzehn Monate nach dem 17. Juni 1953 gab es noch allerlei Erinnerungen und Schilderungen, doch danach begann wirklich ein „neuer Kurs“, ganz anders als in den ersten DDR-Jahren mit ihren strengen Sitten und Härten. Für uns brach ein gewisses Tauwetter an, wir brachten eine Studentenzeitung heraus, nicht mehr nur am Schwarzen Brett, sondern auf Papier. Und darin war gar Kritisches! Ein Artikel beanstandete, dass vom Aufstand in Polen fast völlig geschwiegen wurde. Einer bemängelte, dass in der Leipziger Volkszeitung nur begeisterte oder bejahende Leserbriefe zu finden wären, kaum jemals kritische. Mein Beitrag kritisierte, dass über die USA nur flach polemisch berichtet wurde und dass solche Einseitigkeit der Glaubwürdigkeit schade.

Doch die Welt drehte sich weiter. Die Folgen der „Geheimrede“ Chruschtschows waren in Ungarn blutig: Es kam zum Aufstand, zum Panzereinsatz und zu Kämpfen über viele Wochen. Manche meinten, die USA und ihre Verbündeten hätten auf ein Ende des sozialistischen Systems in Ungarn gesetzt, und Ungarn grenzte immerhin schon an die Sowjetunion. Auch an der Fakultät wurden die Schrauben wieder angezogen, es kam zu unschönen Parteirügen, etwa gegen eine Studentin, die einen Pullover in West-Berlin gekauft und dafür DDR-Mark in „Westgeld“ getauscht hatte, was streng tabu war! Es gab Fälle von Dogmatismus, manche gewiss von Karrieredenken genährt, die mich traurig machten, ebenso wie alles, was – wie ich zunehmend meinte – der DDR eher schadete als nützte. Ich hatte aber nicht den Mut, dagegen zu sprechen. Schließlich war ich Gast, wenn auch Ehrengast! (Zu einer zweiten Ausgabe der Studentenzeitung kam es zu meiner Zeit nicht!)

Im Allgemeinen aber führten wir ein recht kummerfreies Studentenleben, wobei ich allerdings nach meiner Heirat 1955 etwas weniger davon hatte (obwohl meiner Frau gerade das Studentenleben gefiel, selbst das Marschieren mit Gesang am 1. Mai. Dennoch bemerkte ich, dass die Chruschtschow-Rede, die Ereignisse in Polen und Ungarn, der Suez-Krieg die Diskussionen der Oberschul-Absolventen stark politisierte. Ein Jahr später erfolgte der Start des ersten Sputniks – ein Erfolg des Sozialismus, jubelten die DDR-Medien. Im April 1958 kam das Ende der Rationierung, die Atmosphäre wurde lockerer. Mir als Exoten begegneten alle freundlich, und wenn sie über meine Deutsch-Fehler lachten, war es stets ein freundliches Lachen. Eines war bemerkenswert: Nur neun Jahre nach Hitler und in den folgenden vier Jahren hörte ich keine einzige Silbe, die Antisemitismus – gegen mich oder die jüdischen Dozenten – auch nur entfernt andeutete

Probleme gab es gewiss. Die Fakultät stand unter doppelter Aufsicht, einerseits der Abteilung Agitation des Zentralkomitees der SED, andererseits des Staatssekretariats für Hochschulwesen. Die erste wollte vor allem politisch hochmotivierte Verbreiter der regierenden Politik und die Verteidigung der DDR gegen „bourgeoise Attacken und Einflüsse,“ ob im Ausland oder in der DDR. Das Staatssekretariat wünschte das sicher auch, nur legte es wohl mehr Wert auf Journalisten, die in Weltgeschichte, Kunst und Kultur möglichst umfassend gebildet waren, was sich auch in deren Schreiben widerspiegeln sollte. Es gab Vorlesungen, die sehr parteitreu – und sehr langweilig – waren. Es gab aber auch die von Wieland Herzfelde, Leiter des berühmten Malik-Verlages in der Weimarer Zeit, Bruder des weltberühmten politischen Collagenschöpfers John Heartfield, und wie er Früh-Kommunist – sie hatten ihre Parteibücher direkt von Rosa Luxemburg erhalten. Herzfelde lehrte Weltliteratur mit sehr hohem Anspruch. Wir waren begeistert von der beliebten Hedwig Voegt aus Hamburg, die von den Faschisten mehrmals eingesperrt, große Liebe zur deutschen Literatur ausstrahlte, was für mich besonders wichtig war, weil ich davon kaum eine Ahnung hatte. Das galt auch für unseren Dekan Hermann Budzislawski, der außerordentlich lebendige Vorlesungen zur deutschen Pressegeschichte hielt und mir erstmalig Kenntnisse von deutschen Bauernaufständen, von Aufklärung, Romantik, Vormärz und dem geheimen Vertrieb der verbotenen SPD-Presse in den 1880er Jahren vermittelte.

Ich weiß nicht, ob das „West-Emigrantentum“ noch eine Rolle spielte. Unser „Budzi“ war in den USA Berater der bekanntesten Rundfunkjournalistin gewesen. Er kam in die DDR wohl in der Hoffnung, wieder die Weltbühne zu leiten. Daraus wurde zunächst nichts. Nach einer Zeit als Übersetzer (sicher keine leichte Zeit) wurde er Dekan in Leipzig – wo er gewiss vorsichtig zwischen manchen Eisschollen steuern musste.

Das galt vermutlich auch für die Assistenten: etwa den korrekten, etwas steifen Franz Knipping, den damals noch recht linienharten Klaus Höpcke und den noch DDR-begeisterten, stets über „das Feuilleton-Schreiben“ schwärmenden Reiner Kunze. Als Kunze die Fakultät und später die DDR verließ, war ich schon in Berlin. Doch zu jeder Zeit war der Seitenwechsel eine Schlüsselfrage, vielleicht auch ohne gezielte Abwerbung. Gerade am „Roten Kloster“, von wo Journalisten als „Influencer“ und DDR-Vertreter in alle Welt geschickt werden sollten, spielten die Auswahl, die Einschätzung und gewiss auch die Beobachtung wohl unausweichliche Rollen. Und der Mangel an offener, kontroverser Diskussion und Argumentation trug zu einer unleugbar politisch vermieften, muffigen Atmosphäre bei, die stärker oder schwächer wurde je nach den Ereignissen – in Bonn, Warschau, Budapest, Moskau, am Suez-Kanal, im Weltall oder auch im nächsten HO-Geschäft –, aber nie völlig verschwand. Jene allzu prävalente Engstirnigkeit einiger mit lauten Stimmen führte an der Karl-Marx-Universität zum Verlust zweier führender Denker, des Philosophen Ernst Bloch und des Literaturexperten Hans Mayer.

Zum Teil auch deshalb verloren wir zwei Studentinnen, die ich sehr gut kannte. Wenn auch etliches, was Brigitte Klump später in ihrem Buch zum „Roten Kloster“ schrieb, sich als erfunden, verdreht oder verlogen erwies: Es war schade, eine zu verlieren, die mit ihrer Beziehung zum Brecht-Theater und zu Helene Weigel vielleicht einen eigenen Beitrag hätte leisten können. Ihr Plan, Interessierte zum Ausflug nach Berlin einzuladen, um dort eine Brecht-Produktion zu erleben und den Dichter selber zu treffen, wurde kurz vorher gestoppt. Leider starb Brecht kurz danach. Und sie – haute ab.

Trauriger stand es um Helga Noack, die ich sehr mochte! (Übrigens waren Brigitte und Helga wohl die Allerschönsten an der Fakultät.) Helga war überzeugte Kommunistin, freiwillig hatte sie beim anstrengenden FDJ-Einsatz „Max braucht Wasser“ geschuftet, als die Maxhütte – vorher im Besitz Friedrich Flicks – nun als Volkseigener Betrieb dringend Kühlwasser von der Saale brauchte.

Doch Helga war eine Rebellin, die in ihrem Denken und Schreiben nicht eingeengt werden wollte. Sie haute mit einem Isländer ab, wobei die Liebe vielleicht nicht der einzige Beweggrund war. In Island wieder unzufrieden, kehrte sie in die DDR zurück, arbeitete in einem Großbetrieb, studierte am angesehenen Leipziger Literatur-Institut „Johannes R. Becher“, verschwand aber wieder westwärts und wurde eine erfolgreiche Schriftstellerin, stets rebellisch und unzufrieden und, wie ich glaube, auch unglücklich.

Ihr Leben war gewissermaßen symbolisch. Auch ich, obwohl ich nie daran dachte zurückzukehren, solange das auf längere Zeit in einem Armeegefängnis hätte enden können, musste mit mir zurechtkommen. In Leipzig bekam ich ja Einblick in die Realität, in verbreitete Engstirnigkeit, einseitige Berichterstattung und Entmutigung unabhängiger Ideen, die das erwünschte Bild vom Sozialismus trübten.  Wenn also nicht geografisch, so musste ich doch geistig eine Wahl treffen: hier oder da? Eine Entscheidung, die bis 1961 noch nicht durch Mauerwerk befestigt wurde.

Obwohl ich leider nie in engerem Kontakt mit ihnen stand, wog die Präsenz unserer Lehrer recht schwer: Budzislawski, Voegt, Herzfelde, Eildermann, Bruhn, Teubner, Spiru – alle hatten gegen den Faschismus gekämpft – und manche sehr gelitten. Dazu war unser ganzer Geist damals ein Bekenntnis zu kämpfenden Menschen in Guatemala, Iran, Südafrika, Algerien, Vietnam, Indonesien, zu Streiks gegen Ford und Bergbau-Monopole in den USA, zu angegriffenen Künstlern wie Paul Robeson, Pete Seeger, Dalton Trumbo, Howard Fast.

Und die andere Seite, die das aufmüpfige Stückchen Deutschland unbedingt wieder schlucken wollte? Ich wusste damals vieles nicht, was ich später beim Democratic German Report recherchierte, doch das Gesamtbild war klar und gefährlich – oder wieder gefährlich. Der Historiker Michael Jung beschrieb die Situation an der Universität Hannover: „Kurz nach Kriegsende hatte man eine kleine Besinnungsphase und sagte: Menschen, die auf Grund ihres NS-Engagements ihren Job bekommen haben, dürfen nicht bleiben. Das hat man dann aber schnell vergessen. Man hat zum Beispiel die Lehrstühle der zehn 1945 entlassenen Nazis freigehalten und nur Vertretungen eingestellt, bis die anderen zurückkommen konnten. Alle sind zurückgekehrt. 1954 war auch der Letzte wieder da …“

Wohl wichtiger war die Wirtschaft. Fritz ter Meer, verantwortlich für den Aufbau des IG Farben-Werks in Auschwitz, in dem rund 30.000 Zwangsarbeiter den Tod fanden, wurde in Nürnberg zu sieben Jahren Haft verurteilt, aber nach vier Jahren entlassen. Er wurde dann Aufsichtsratsvorsitzender der BAYER AG.

Oder: 1951 begnadigte der Hohe Kommissar John Jay McCloy den Herrn Alfried Krupp von Bohlen und Halbach und ließ ihn aus dem Kriegsverbrechergefängnis entlassen. 1953 kam es zum Vertrag zwischen ihm und den Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs, wodurch er sein gesamtes Vermögen zurückerhielt. Die dankbare Familie war großzügig: Das „Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald“ ist nur eines von den Geschenken ihrer Stiftung.

Oder Hans Globke, Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze und verantwortlich für die Verordnung, die Juden durch die erzwungenen Vornamen „Israel“ oder „Sarah“ erkennbar und fassbar machte. Als Chef von Adenauers Bundeskanzleramt galt Globke als „zweitmächtigster Mann im Lande“.

Gewiss führten solche Gegensätze zu einer vereinfachenden Weltsicht, und nicht nur die Stasi-Mitarbeiter verglichen die Ost-West Trennlinie mit den Barrikaden von 1936, an denen Madrid gegen Francisco Franco, Hitler und Mussolini verteidigt wurde. Auch ich sah das so: Manches Unangenehme musste man schlucken, auch wenn es zuweilen hart war.

Gegen Ende des Studiums sollten alle Absolventen (außer den wenigen von den „Blockparteien“) in die SED eintreten. Das betraf mich zwar nicht, dennoch wurde mir nahegelegt, wenn ich meiner Überzeugung treu sein wolle, auch in ihre wichtigste Organisation einzutreten. Ich fand zwei Bürgen und reichte meine Bewerbung ein. Beim folgenden Treffen mit der Parteigruppe kam es zur Diskussion über zwei Fragen: Würde man daran Anstoß nehmen, dass ich auch den Soldatensender AFN höre? Nur dort könne ich amerikanische Volksmusik hören, sagte ich (vielleicht ohne Augenzwinkern). Die Gruppe sah darin kein Problem. Dann aber sagte ich, dass ich natürlich die Notwendigkeit von Parteidisziplin in einer Kampfsituation begreife, Dennoch müsse ich mir das Recht vorbehalten, eigene Gedanken zu haben, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen, für mein Denken verantwortlich zu sein. War das geschickt oder ungeschickt ausgedrückt? Der Gruppensekretär, ein Assistent, befand es jedenfalls doch für zu individualistisch. Nach recht freundlichem Hin und Her meinte er, es wäre vielleicht besser, wenn ich meine Bewerbung zurücknähme. Vermutlich würde ich es später anders sehen. Später aber kam ich nie dazu, in die Partei einzutreten – und mir blieb sicher manches erspart, sowohl Gutes wie Ärgerliches, jedenfalls sparte ich viel Zeit.

Noch eine Bemerkung zur „Stasi“ – gewiss ein kompliziertes Thema. In Leipzig und Berlin, bestimmt zwei der am dichtesten mit Spionen und Agenten besetzten Orten der Welt, musste ich als Amerikaner annehmen, dass man mich nicht aus den Augen verlieren würde. Ich war froh, die eigenen kurzen Beziehungen ungetrübt beenden zu können. Jahre später bekam ich meine FBI-Akten, und zwar 1100 Seiten! Darin erfuhr ich, dass in meiner Harvard-Zeit sieben Menschen (Namen geschwärzt) über mich berichtet hatten. Als ich meinen damaligen Zimmerkameraden wiedertraf (einen alten Freund von der Oberschule), sagte er mir, die FBI-Männer, die ihn später über meinen Aufenthaltsort ausfragten (vergebens), hätten erkennen lassen, dass sie von Gesprächen damals in unserem Zimmer wussten, wohl von einem der anderen beiden Zimmerkameraden. Ich erfuhr auch, dass ein Kommilitone (Name geschwärzt) mich direkt beim FBI denunziert hatte. Vielleicht kam die Army deshalb darauf, meine linke Aktivität unter die Lupe zu nehmen – und mein Schicksal damit zu bestimmen. Cosi fan tutti, sage ich. So tun es ja alle!

Dazu noch: Ein recht befreundeter Kommilitone in Leipzig, wie ich etwas älter, als Kriegsgefangener der Engländer in Ägypten gewesen und fließend im Englischen, bot sich an, mit mir an einer Forschungsaufgabe zu arbeiten. Zu meinem Erstaunen schlug er vor, gemeinsam in ein amerikanisches Archiv in Westberlin zu gehen, wo es gutes Material gäbe. Er wusste genau, was mich dort erwarten könnte. Ich verzichtete. Jahre später erfuhr ich, dass der „Freund“ von der Stasi als Agent entlarvt und eingesperrt wurde.

Wir befanden uns damals wie in einem Wirbelsturm, der um die ganze Welt zog und hier und dort herunterstürzte, ganz gewiss auch in Leipzig. Oder war es in der DDR wie in einer belagerten Stadt? Wenn man die Geschichte belagerter Städte betrachtet, etwa Konstantinopel, Rom, Paris, wird man wohl kaum entdecken, dass dort die Toleranz blühte. Bei Gefahr von außen werden die Schrauben eher fester gedreht. Manchmal auch heute noch – auch wenn die Gefahren erfunden sind.