Laut Klappentext haben sich der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk und der prominente Linken-Politiker Bodo Ramelow zusammengesetzt, „um nach den Ursachen für den flächendeckenden Wahlsieg der AfD in den neuen Bundesländern“ zu fragen. Ja, es werden Fragen zu den Ursachen des unheimlichen Aufstiegs einer im starken Maße westgeführten und streng rechtskonservativen Partei im Osten Deutschlands aufgeworfen, aber die Antworten bleiben im Ungefähren, in dem Bereich jedenfalls, in dem am Ende wieder fast alles dort verschwindet, wo es auf „Versäumnisse und Fehler im Vereinigungsprozess“ hinausläuft. Die Stärke des Buches liegt woanders, denn mit Kowalczuk und Ramelow haben zwei Zeitgenossen zusammengefunden, deren politischer Kompass in vielen Fragen sehr gegensätzlich ausgerichtet ist. Doch sie sind sich in einer Frage sehr einig: „Wir denken gar nicht daran, den Demokratie- und Verfassungsfeinden das Feld zu überlassen.“
Kowalczuk, Jahrgang 1967, lief in einem übertragenen Sinn aus der DDR weg, ohne wegzugehen, verweigerte ihr jedenfalls die politische Gefolgschaft. Er darf mit gutem Recht in die Wolf-Biermann-Richtung eingefädelt werden. Mit dem sowjetisch-ukrainischen Familienhintergrund hatte er ein zusätzliches Fenster nach draußen, ganz abgesehen von der privilegierten Lage innerhalb des allgemeinen DDR-Blickes: „Ich bin in Ost-Berlin geboren und groß geworden. Das ist eine ganz andere Perspektive, als wenn man in Greifswald aufwuchs oder in Dresden.“ Kowalczuks Grunderfahrung nach 22 Jahren DDR war „die fehlende politische Freiheit“. Ihn hat die materielle Welt nie interessiert, nie hätte er sich im November 1989 auf den Ku´damm gestellt, um eine „Aldi-Tüte“ in Empfang zu nehmen. Kowalczuks Erinnerungen an die Zeit in der DDR sind präzis wie zugespitzt, sie sind, auch wenn man sich selbst anders erinnert, in ihrer faktischen Begründung selten zu bestreiten.
Ramelow, Jahrgang 1956, zog es 1990 in die untergehende DDR, der westdeutsche Gewerkschaftsfunktionär kam nach Thüringen und blieb. 1999 trat er, aufgerüttelt durch den Jugoslawienkrieg der NATO, der PDS bei, profilierte sich nach 2005 zu einem der markanten Köpfe der Linkspartei. Von 2014 bis 2024 war er Ministerpräsident Thüringens, vielleicht überhaupt der beste westdeutsche Ministerpräsident in einem ostdeutschen Bundesland. Thüringen kennt er bestens, die DDR kannte er viel weniger, auch wenn er zu denjenigen gehörte, die regelmäßige, meistens familiär bedingte Kontakte mit der anderen deutschen Seite pflegten.
Neben der Gewerkschaftsbindung gab ihm die Friedensbewegung der 80er Jahre entsprechendes politisches Profil. Wie eine Brücke für den Gesprächspartner wird dies eingeworfen: „Wir sind uns darüber im Klaren, dass politisches Engagement im Osten eine andere Vorgeschichte hat als politisches Engagement im Westen.“ Für Ramelow ist wichtig: „Die DDR war einfach anders. Ich sage nicht, dass sie schöner war oder besser – ich werte es nicht. Sie war einfach anders.“
Mitunter fliegen die Fetzen, zum Beispiel, wenn Kowalczuk dem Gegenüber vorwirft, dass dessen Partei in den 90er und Nullerjahren den „Exklusivitätsanspruch auf eine homogene ostdeutsche Gesellschaft“ massiv gefahren habe, was Ramelow vehement bestreitet: „So habe ich meine Partei nie verstanden.“ Es gibt außenpolitische Fragen, bei denen man sich in der Antwort aber einig weiß, so zum Nato-Mitglied Türkei: „Es ist ein ohrenbetäubendes Schweigen, das die Nato-Staaten und Europa zu Erdoğans Kriegen gegen die Kurden an den Tag legen“, meint Ramelow. „Ich finde das Schweigen auch unerträglich“, pflichtet Kowalczuk ihm bei. Oder zur deutschen Energiepolitik mit Russland: „Mit billigen Rohstoffen aus Russland haben wir uns Wettbewerbsvorteile verschafft. Der Preis war, dass wir stillhalten, wenn Putin marschiert. Das ist nicht aufgegangen“, sagt der ehemalige Ministerpräsident. „Genau das hat er gehofft“, so die andere Seite zustimmend.
An einem interessanten Punkt kommen die beiden Buchautoren sich sehr nahe, ausgerechnet in der Frage von Grundgesetz, neuer Verfassung oder neuer Staatshymne. Unlängst hat Ramelow einiges Aufsehen erregt, wagte er es doch, öffentlich eine neue Staatshymne anzuregen. In dem Buch wird zunächst der Artikel 146 im Grundgesetz angerufen: Beide Kontrahenten sind sich einig, dass nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes eben dieser Artikel hätte gezogen werden müssen. Wolfgang Schäuble habe das verhindert, meint der Historiker, der dessen kaltschnäuziges Argument anführt: „Die DDR-Menschen wollten zu uns und nicht wir zu ihnen und deswegen brauchen wir keine Verfassung“.
Einigkeit bei der neuen Staatshymne! Ramelow bricht eine Lanze für Brechts „Kinderhymne“: „Dass Brechts Hymnentext von der DDR-Führung verworfen wurde, macht die Sache schon wieder charmant. Ich finde den Text einfach toll.“ Und Kowalczuk: „Als ich letztes Jahr meine Ulbricht-Biographie in der Berliner Akademie der Wissenschaften vorstellte, fragte mich mein Freund Wolf Biermann, welche Lieder ich mir denn für diesen Abend wünsche.“ Auf der Wunschliste ganz oben stand die „Kinderhymne“, „die dann zwei Freunde von mir noch mit Gitarre und Schlagzeug verjazzten. Insofern, lieber Herr Ramelow, rennen Sie an dieser Stelle bei mir nur offene Türen ein.“
Das Buch ist ein trefflicher Diskurs über den Stand der Annäherung und die bestehende Ferne zwischen den beiden einst staatlich getrennten Teilen Deutschlands. Einstige Heftigkeit im Streit hat sich verzogen, jetzt überwiegt der sachlich-argumentative Ton, gerade dort, wo man nicht einer Meinung ist. Den Gründen für bisherige und kommende Wahlerfolge der AfD in den östlichen Bundesländern ist man zwar weniger auf die Spur gekommen, aber das Buch will als „ein Zeichen der Ermutigung“ überzeugen.
Ilko-Sascha Kowalczuk, Bodo Ramelow: Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten. C. H. Beck, München 2025, 239 Seiten, 24 Euro.
Schlagwörter: Bodo Ramelow, deutsche Einheit, Holger Politt, Ilko-Sascha Kowalczuk


