28. Jahrgang | Nummer 15 | 8. September 2025

Verblüffende Parallele

von Stephan Wohanka

come fix it – Palantir

Slogan auf einem T-Shirt

 

Die Silicon-Valley-Technologien scheinen unaufhaltsam voranzustürmen, die Künstliche Intelligenz (KI) geradezu besorgniserregend; nichts scheint deren immer beschleunigteres Fortschreiten aufhalten zu können. Es sei denn, sie stoppten sich selbst, wofür es ein Vorbild gibt.

Lenins griffige Formel „Kommunismus ist gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ stand seinerzeit für die Vision einer Gesellschaft, die neu, anders sein sollte, die die Zukunft verkörpern wollte. „Sowjetmacht“ bedeutete die politische Herrschaft der Bolschewiki – zentralistisch, diktatorisch, ohne pluralistische Demokratie. „Elektrifizierung“ stand symbolisch für Industrialisierung und Modernisierung der technischen Infrastruktur, um das Land aus agrarischen Verhältnissen herauszuführen. Abstrakt formuliert: Eine totalitäre Gesellschaftsstruktur plus moderne Technik führen zu einer neuen, besseren Welt. Die letztlich scheiterte …

Ich sehe Parallelen zu aktuellen Vorgängen in den USA. Im Lenin-Sound gesagt: „Eine smart society ist gleich Monopol plus Algorithmus“. „Monopol“ bedeutet eine oligarchisch-zentralisierte Gesellschaftsstruktur in Gestalt privat organisierter, technokratischer Oligopole, Macht der Plattformbesitzer. „Algorithmus“ steht für algorithmusgesteuerte Cloud-Infrastruktur, Künstliche Intelligenz, Plattformen, Überwachungssysteme zur Durchdringung des Alltags mit digitalen (Informations-)Technologien. Wieder „passt“ die Abstraktion: Eine selbstherrlich-technokratische Gesellschaftsstruktur plus modernste Technik führen zu einer Welt des Smarten. Von Interesse ist die Frage, ob sie nicht auch scheitert, scheitern könnte, ja vielleicht muss?

Warum misslang der erste Versuch der Verbindung von autoritär-totalitärer Macht und Technik? Seine Protagonisten waren „Ingenieure“ – über Fachleuten und technischen Experten standen „Ingenieure der Macht“ sprich Parteifunktionäre. Nach Stalin „(bauen) wir bereits den Sozialismus auf, indem wir die nationalisierte Industrie aufbauen“. Dem diente die „ursprüngliche sozialistische Akkumulation“ – das heißt, (finanzielle) Akkumulations- und Investitionsmittel wurden beim Staat konzentriert und dann von diesem, einem Plan folgend, in die einzelnen Wirtschaftszweige respektive Betriebe gegeben. Als hauptsächliche Akkumulationsquelle wurde die Landwirtschaft geplündert; nur über eine repressive „Kommandowirtschaft“ war diese „(Um)Verteilung“ möglich.

Nach dieser Phase, also nach der Konsolidierung der politischen Macht und dem Aufbau der soziotechnischen Infrastruktur, hätte – wenn der Sozialismus überhaupt eine Chance auf seine Verwirklichung hätte haben wollen – diese „Kommandowirtschaft“ vulgo Diktatur des Proletariats rigoros beschnitten, ja in Teilen mit ihr gebrochen werden müssen! Bei Erhalt einiger genuin staatssozialistischer Grundlagen wie einem wirtschaftlichen Staatssektor wäre die Einführung gewisser demokratischer Elemente notwendig gewesen. Jedoch dazu kam es nicht. Die wirtschaftlichen und politischen Erfolge, die die administrativ-repressive „Zentralverwaltungswirtschaft“ in der Anfangsphase zeitigte, machten sie in den Augen der führenden Köpfe der „Partei“ zu dem generell unverzichtbaren Herrschaftsinstrument und nicht nur zu einem vorübergehenden, sondern zu dem sozialismusadäquaten überhaupt!

Rosa Luxemburg sah es klarsichtig voraus: „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt“. Es entstand so eine neue operativ-administrative Dienstklasse, in Teilen mit der „Partei“ identisch, die sich von der Arbeiterklasse abhob. Alles zusammen führte letztlich zu wirtschaftlicher Insuffizienz, die zum Scheitern des Systems beitrug.

Ist dieses Scheitern quasi die Blaupause auch für das Misslingen der Silicon-Valley-Utopie? Trägt die Parallele zwischen dem ideellen, machtpolitischen und technokratischen Ansatz bei Gründung der Sowjetunion und selbiger approach – um es in der Sprache der modernen Protagonisten zu sagen – in den heutigen USA?

Die „Ingenieure der Macht“ im Silicon Valley gleichen ihren Vorbildern an Machtbewusstsein, mussten im Gegensatz zu diesen jedoch keine „Elektrifizierung“ anleiten. Die ihnen adäquate, sich rasend fortentwickelnde Hochtechnologie, zugleich Treiber weiterer ganz klassischer „Konzentrationsprozesse des Kapitals zur Profitmaximierung“, ist schon vorhanden. Der Repressionsmechanismus des libertären Silicon-Valley-Kapitalismus, der oft subtil, geradezu klandestin ist, hat hier seinen Ausgang.

Am auffälligsten ist noch Monopolmacht von Meta, Amazon, Google und Co: Sie dominieren die Märkte und verhindern Alternativvarianten, indem sie diese entweder aufkaufen oder ausmanöverieren. Weit weniger auffällig ist das Repressive in Form von Überwachung und Kontrolle der Menschen über Datenextraktion, algorithmische Steuerung, permanente Optimierung des Nutzerverhaltens. Dabei sticht eine Firma – Palantir – als Instrument für komplexe Analysen und Risikobewältigung in doppelter Hinsicht heraus: Zum einen leitet sich aus ihrem stark missionsgetriebenen Selbstverständnis der Anspruch her, die Welt „reparieren“ zu wollen. Ein früherer Mitarbeiter sprach davon, dass Palantir der „Arzt“ an der Welt-Infrastruktur sei, die Firma die Welt schützen, vor dem Kollaps bewahren wolle: „come fix it – Palantir“ (komm lös das Problem). Man stelle die „strategische Infrastruktur“ für Regierungen, sei Partner zur Sicherung demokratischer Gesellschaften.

Aber zum anderen führt gerade Palantir diese Idee von der Bewahrung der Demokratie ad absurdum: Die Firma ist ein explizites Macht- und Überwachungswerkzeug. Sie pflegt enge Verbindungen zu Geheimdiensten und Sicherheitsapparaten; in den USA zu CIA, FBI, NSA. Basis dafür ist die Fähigkeit, riesige Datenmengen zu verknüpfen: „Die Software fügt in Minuten zusammen, wofür Ermittler sonst Wochen bräuchten – ein digitales Puzzle aus Waffenregister, Einwohnermeldedaten und polizeiinternen Systemen. Damit ist die Software Zeitgewinn und eine Arbeitserleichterung“, betont NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Möglich wird so eine Massenüberwachung oder das „predictive policing“, die vorausschauende Polizeiarbeit für die Abwehr abstrakter Bedrohungen, zu denen konkrete Anhaltspunkte für ihr unmittelbares Bevorstehen noch gar nicht vorliegen. Aber auch die Manipulation von Wahlen … Das alles provoziert dann auch die weltweite Kritik an Palantir.

Neben derartigen abstoßenden und politischen Widerstand hervorrufenden Überwachungspraktiken könnte sozialer Druck die „Tech-Welt“ unterminieren. Dieser folgte aus einer „Always-on“-Kultur, dem Zwang zur (Selbst)Optimierung sowie einer „smarten“ – aus Sicht Auftraggeber – Arbeitswelt in Gestalt der Gig-Economy (kleine Aufträge werden kurzfristig an unabhängige (Schein)Selbständige, Freiberufler vergeben) und prekärer Beschäftigung mit digitalem Mikromanagement – also übermäßiger, kleinteiliger Kontrolle – durch „algorithmische Chefs“.

War die Repression im ersten Muster staatlich-totalitär, so ist sie jetzt marktwirtschaftlich-technologisch ausgerichtet: Die Menschen haben die Illusion der Wahlfreiheit – zum Beispiel zwischen Plattformen, die unterschiedlich daherkommen, aber die die gleichen Mechanismen nutzen, um ihre User zu manipulieren. Die Unfreiheit wirkt über Abhängigkeit und Verführung und nicht durch Gewalt. Die Folgen ähneln sich: In den Menschen wächst mit der Zeit das Gefühl, ihre Autonomie werde ihnen systematisch genommen, ihr Vertrauen missbraucht. Sie wenden sich ab.

Die potenziellen Bruchstellen, die gesellschaftliche Gegenwehr lägen wohl vor allem in einer wachsenden, von unten und außen kommenden Forderungen nach Daten- als Persönlichkeitsschutz und Regulierung, namentlich der Plattformmonopole und der KI. Soziale Instabilität könnte so durch gesteigerte materielle und kulturelle Ungleichheit sowie digitale Ausbeutung befördert werden; es könnte zu „digitalen Klassenkämpfen“ kommen. Mit vergleichbarem Konfliktpotenzial wie seinerzeit die Differenz zwischen „sozialistischer Dienstklasse“ und Arbeiterklasse im Sozialismus.

Last but not least könnte eine allzu große Konzentration auf wenige Konzerne mittelfristig zu einem Innovationshemmnis werden – die Monopole des Silicon Valley erstickten paradoxerweise ähnlich wie die Planwirtschaft im Sozialismus Dynamik, Kreativität und Vielfalt.

Ja – auch die Silicon-Valley-Welt könnte an ihrem repressiven Charakter scheitern, allerdings auf eine andere Weise als der Sozialismus: Weniger durch abrupten Zusammenbruch, sondern durch schleichende Erosion, Vertrauensverlust, Regulierung und gesellschaftliche Abkehr – langsam, aber unaufhaltsam. Totalitarismus und Technik sind offenbar eng miteinander verknüpft; wie, das näher zu untersuchen, wäre ein eigener Text.