Ein jeder, der hierher [gemeint ist Sagard auf Rügen – D.N.] zum Baden kömmt, wird gebeten, sich vorher mit einem Erlaubniß-Schein seines Arztes, oder des Landphysici Herrn Assesor v. Willich in Bergen zu versehen“ (Stralsundische Zeitung vom 21. Juni 1800).
Neben der Auffassung, Seebaden bedürfe vorheriger ärztlicher Untersuchung, hielt sich lange die Meinung, das Bad in der offenen See sei unschicklich. Zwar durfte man in Putbus/Lauterbach bald offiziell in die „kalte“ See des Greifswalder Boddens steigen, allerdings in einer Prozedur, die der 1823 in Berlin aufgelegte „Reisegesellschafter durch Rügen“ des Bergener Amtsjustitiars Carl Schneider folgendermaßen beschreibt: „Wer sich des kalten Seebades bedienen will, es aber nicht liebt, sich im Freien zu entkleiden, benutzt einen der Badekarren […]. Auf einer kleinen Treppe steigt der Entkleidete ins Bad – und auch die züchtigste der Frauen darf sich nicht scheuen, eines solchen Badekarrens sich beim Baden zu bedienen, denn außer, daß ein solcher an den Seiten bekleidet ist, auch die Eingangsthür verschlossen werden kann, ist auch dafür gesorgt, daß durch einen seewärts niederzulassenden Vorhang die Badende sich dem Blick jedes Lauschenden gänzlich entziehen kann.“
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts verloren die Karren an Bedeutung. Kleine Bretterhäuschen, Schilf- oder Korbhütten und Badehütten aus Segeltuch, von denen man über Stege das Wasser erreichte, stellten den Übergang zu festen Badeanstalten dar. In Putbus zählte man 1820 acht solcher Häuschen, ausgestattet mit Tisch, Stuhl, Spiegel, Kleiderriegel, Stiefelknecht und Pantoffeln. Ernst Boll berichtete 1858, das Bad zu Crampas bestehe in einer am Ufer errichteten Hütte zum Auskleiden, von welcher ein Steg zu einer 3-4 Fuß tiefen Stelle im Wasser hinführt. Bei der geringen Anzahl der Badegäste in diesem Dorf sei es noch nicht nötig gewesen getrennte Männer- und Frauenbäder anzulegen, da „man sich, um Collisionen zu verhüten, leicht miteinander über die Zeit der Benutzung des Badeplatzes verständigen kann“.
Etwa im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann die Zeit der festen Badeanstalten, „natürlich“ sorgfältig geschlechtergetrennt. So waren in Putbus bis 1908 das „Herrenbad“ und das „Damenbad“ nicht nur durch Bretter vor neugierigen Blicken geschützt, sondern auch räumlich schicklich weit voneinander entfernt. Wege, die entlang des Damenbades führten, waren für Männer verboten. Wer die Grenze überschritt oder gar durch ein Astloch ins Damenbad schaute, musste mit namentlicher Nennung im „Badekurier“ rechnen – wie peinlich – und konnte dann nur noch die Flucht aus dem Badeort ergreifen. Zwei junge Mädchen, die den mit Badeanzügen bekleideten Herren im Herrenbad mit dem Fernglas zuschauten, hatten sich in Saßnitz um 1900 dadurch „ganz unmöglich gemacht und mussten schleunigst abreisen“. Der ganze Ort soll sich damals empört haben. Wer mag wohl die jungen Damen bei ihrer Freveltat auf einem Balkon der Villa „Seestern“ beobachtet haben?
Wo eine ausreichende Entfernung nicht möglich war, wurden die Badezeiten so gelegt, dass sich beide Geschlechter nicht begegnen konnten. In der Stralsunder Badeanstalt am Knieperstrand soll es diese Regelung bis 1920 gegeben haben. In Göhren galt: „Herren dürfen, solange die Flaggen auf den Badeanstalten aufgezogen sind, das Damenbad und den begrenzenden Strand nicht betreten!“. Lange Zeit galt auch: „Ganz entschieden ist gemeinschaftliches Baden von Männern und Frauen zu verwerfen, weil die sinnliche Reizung die Wirkung des Bades vereitelt.“ (Meyers Konversationslexikon, 1895).
Die Entwicklung in Richtung abnehmender Verklemmung war aber letztlich nicht aufzuhalten. Bald wurde das „gemischte Freibaden in der offenen See“ erlaubt, es entstanden die ersten Familienbäder auf Rügen. In einer am 1. Juni 1913 in Kraft getretenen Polizeiverordnung war noch klar geregelt, dass Männer und Frauen jeweils nur die für sie bestimmten Badezellen zum Aus- und Anziehen sowie die entsprechenden Laufstege und Treppen benutzen durften („Amtlicher Führer für das Ostseebad Sassnitz“ von 1913). Auch das änderte sich aber bald, zum Beispiel in Binz: „Im Gesellschaftsbad werden Abonnementszellen von doppelter Größe der gewöhnlichen Zellen mit eigenem Vorplatz und eigener Treppe zum Strand an Familien vermietet“, hieß es 1928 („Ostseebad Binz auf Rügen. Praktische Winke“). Nicht Jedem gefiel das. Während Ringelnatz augenzwinkernd klagte: „Wenn ich im Badeanzug bin / und im Familienbade / geht die Erotik fort. Wohin / weiß Gott. Wie schade“, protestierten besonders sittenstrenge Damen gegen die „unmoralischen“ Familienbäder. Sie sollen – so noch 1924 in Stralsund – dreimal in der Woche je eine Stunde Baden unbeobachtet von männlichen Blicken durchgesetzt haben. Auch die Kirche wandte sich gegen die Einrichtung der Familienbäder: Das Rügensche Kreis- und Anzeigenblatt vom 5. November 1903 berichtete, die pommersche Provinzialsynode habe sich damit beschäftigt. Man sei einem Antrag des Konsistorialrates Prof. D. Cremer aus Greifswald gefolgt, wonach die Zulassung der Familienbäder bedauert und gebeten wird, „das gemeinsame Baden von Männern und Frauen grundsätzlich zu verbieten und die Familienbäder, wo sie schon bestehen, unverzüglich schließen zu lassen“. Am Ende der Sommersaison auf Rügen fühlte sich ein anonymer Schreiber veranlasst, die „Sinkende Moral in den Seebädern“ anzuprangern. Sein Schreiben wurde unter diesem Titel in der Stralsundischen Zeitung vom 16. September 1920 veröffentlicht. In die Bilanz der Badesaison, so der Schreiber, sei „die in diesem Sommer ganz außerordentlich tief gesunkene Moral“ nicht eingeflossen. Fast wehmütig erinnert er sich, dass man noch vor etwa zehn Jahren an den Damenbadeanstalten die „sittlichernste“ Mahnung lesen konnte, „Stehenbleiben ist bei Strafe verboten“. Jetzt seien sogar die Familienbäder schon überholt und man überlege allen Ernstes, an ihnen die Inschrift zu befestigen: „Für Säuglinge und Mummelgreise“. Überdies würden weder der moderne Badejüngling mit Monokel, Ring und Badehose, noch die moderne Badenixe mit Ring und Spinnweb-Badekostüm noch baden. Die früher übliche Sitte, seinen müden Körper eine halbe Stunde in salziger Flut zu stählen, sei ihnen völlig fremd. Allenfalls stippten sie ein wenig ins Wasser, um sich dann vier bis fünf Stunden auf dem Strand zu räkeln. Sie würden sich in ihrem „adamischen und evalischen Kostüm“ sogar auf die Strandpromenade und noch weiter wagen – ohne Rücksicht auf das Gefühl der vorübergehenden Frauen und Kinder und auf die Bewohner der Hotels und Wohnhäuser. Wenn die Polizei einschreite, würde sie verlacht und verhöhnt, ja man beschwere sich sogar über die „Rückständigkeit“ der geltenden Vorschriften. Es käme dabei zu Konflikten, die an Verhöhnung der Staatsgewalt und an Landfriedensbruch grenzten. Insgesamt sei die Polizei gegenüber der großen Zahl der Gesetzesverachter machtlos. Dieser Zustand sei unhaltbar, „die öffentliche Nacktkultur im Massenbetrieb sollte man lieber den Zulukaffern überlassen“. Derartige Zustände ersetzten Anstand, Sitte und Moral durch „Spanferkelei“. In Binz beabsichtige man deshalb, im kommenden Frühjahr alle Leugner der Bedeutung des paradiesischen Feigenblattes in einem hoch eingezäunten, vom Wohn- und Promenadenstrand abseits liegenden Lido-Strand von der gesitteten Welt abzuzweigen.
Fazit des Schreibers: Mit dem Gestatten des Familienbades habe man der sinkenden Moral einen Finger gereicht, mit dem Lido-Strand reiche man ihr die ganze Hand.
Noch 1931 mahnte Franz Ebhardt in „Der gute Ton in allen Lebenslagen“, die Familienbäder hätten zwar unnützer Prüderie ein Ende bereitet, aber auch hässliche Auswüchse gezeigt. Dazu gehöre das Herumlungern im Badetrikot außerhalb des Wassers, das gemeinsame Frühstücken in diesem Aufzug und auch manches Wasserspiel, das die Beteiligten in gar zu nahe Berührung bringe. Der gute Ton verlange ein Wegsehen über die Bekleidung der Beteiligten, keinesfalls ein Beobachten mit dem „Operngucker […] wie man das von Herren, die nicht mitbaden, häufig sieht“.
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