Die Geschichte zeigt: Wenn die letzten Zeitzeugen großer Kriege gestorben sind, scheint Krieg wieder eine realistische Option zu werden. Genau an diesem Punkt stehen wir heute, wo viele denken: ‚So schlimm ist das doch auch nicht. Da werfen wir wieder ein paar Bomben und bringen ein paar Leute um.‘ Doch diese Vorstellung, Konflikte mit Bomben zu lösen, führt ins nächste Desaster.
Prof. Hartmut Rosa,
Soziologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
und Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt
Die Art und Weise, wie Russland im Kontext der Ukraine bedroht wird, ist […] irrational, es sei denn, man ist bereit, die Konsequenzen eines nuklearen Konflikts in Kauf zu nehmen.
Ray McGovern,
Ex-CIA-Analytiker,
Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS)
Was nützt die schönste Schuldenbremse, wenn der Russe vor der Tür steht? Wir Europäer haben doch zugespitzt gesagt nur zwei Möglichkeiten: Wir können uns verteidigen lernen oder alle Russisch lernen“, sagte Jens Spahn, inzwischen Chef der CDU-Fraktion im Bundestag, im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen im März 2025. Das war so unsäglich dumm oder vorsätzlich bösartig, dass sich die Frage aufdrängt, was dieser Politiker im Hohlraum zwischen seinen Ohren eigentlich spazieren trägt. Denn, in drei Teufels Namen, womit oder auf welche Weise sollte es „der Russe“, wenn er denn wollte, bis vor die deutsche Haustür schaffen? „Der Russe“, der es in fast dreieinhalb sehr verlustreichen Kriegsjahren nicht einmal vermocht hat, die vier ukrainischen Oblaste, die er seinem Staatsgebiet bereits offiziell einverleibt hat, vollständig zu erobern … „Der Russe“, der der NATO selbst abzüglich der US-Militärmacht konventionell dermaßen unterlegen ist, dass er für den Kriegsfall dem Westen neuerdings den Ersteinsatz von Atomwaffen androht, um sich denselben gegebenenfalls vom Leibe zu halten …*
Fast noch schlimmer allerdings ist, dass hiesige Medien, die sich selbst gern als Leit- und Qualitätsmedien apostrophieren, den Spahnschen und ähnlichen Unsinn ein ums andere Mal wiedergeben, unhinterfragt als eine Rechtfertigung für die von der politischen Klasse NATO-Europas und der EU inzwischen losgetretene beispiellose Hochrüstungsorgie einfach stehenlassen und mit eigener permanenter, teils reißerischer Kriegsvorbereitungsberichterstattung eine entsprechende psychologische Zurichtung der Öffentlichkeit betreiben. Da eine zu detaillierte Darstellung von aktuellen Kriegsgräueln mit entsprechendem Fotomaterial etwa aus der Ukraine, dem Nahen Osten oder dem Sudan diese Zurichtung konterkarieren könnte, unterbleibt diese weitestgehend.
Der Terminus technicus dafür lautet: embedded Journalism. Ein Schimpfwort, jedenfalls wenn man Wikipedia folgt. Laut der Onlineenzyklopädie dient der Begriff dazu, einen „Journalismus zu charakterisieren, der sich den vorgegebenen politischen Strukturen und Erwartungen anpasst, also zum Sprachrohr der Regierung machen lässt“.
Im Folgenden einige Beispiele aus einem flutartigen Aufkommen aus der jüngsten Zeit:
- Der Stern26/2025 fragte in einem Beitrag: „Was darf die NATO kosten? […] Fünf Fragen zum Fünf-Prozent-Ziel“. Und hat anschließend in der Manier einer Propagandabroschüre durchdekliniert: „Was ist das Fünf-Prozent-Ziel? […] Wer soll das bezahlen? […] Wofür sollen die vielen Milliarden ausgegeben werden? […] Kann man überhaupt so viele Waffen kaufen und Soldaten rekrutieren? […] Kann das Fünf-Prozent-Ziel noch kippen?“ Der Beitrag erschien vor dem NATO-Gipfel in Den Haag, der das Ziel zum Beschluss erhob – zu erreichen bis 2035 (in der Erwartung, dass Putin solange wartet?). Gleich drei Stern-Reporter (Miriam Hollstein, Veit Medick, Jan Rosenkranz) waren aufgeboten worden und orakelten abschließend: „[…] sollten sich [sic!] die USA doch einmal von dem gemeinsamen Verteidigungsbündnis abrücken, stünden wohl ganz andere Zahlen für die Verteidigung in Rede. Die fünf Prozent würden dann mickrig wirken.“
- „Die Front gegen Putin“ war ein Beitrag im Focus 27/2025 übertitelt, der in der Unterüberschrift informierte: „Ein 60 Kilometer langer Grenzstreifen könnte Ausgangsort des Dritten Weltkrieges sein“. Gemeint war die sogenannte Suwałki-Lücke zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus, die einzige Landverbindung des Baltikums zu NATO-Europa. Dort aber ist man vorbereitet: „Vorige Woche haben sie in Suwałki den Häuserkampf geübt. Als beunruhigte Anwohner die Polizei alarmierten, weil Russisch sprechende Gestalten um ein Elektrizitätswerk schlichen, zeigte sich der Befehlshaber hochzufrieden: Mit der Operation ‚Glühender Vollmond‘ sollte getestet werden, ob die Bevölkerung auch wirklich wachsam sei.“ Und die Focus-Reporterin war ganz dicht dran: „Margot Zeslawskl hat bei der Recherche in Suwałki gelernt, dass eine Pistole erstaunlich viel wiegt […].“
- Eine Ausgabe später legte der Focus nach; Beitragstitel: „Im Tiefflug an der Ostflanke […] Unterwegs im NH-90-Hubschrauber der Heeresflieger“. Der Manöverbericht teilt mit: „An der Ostflanke trainiert die NATO das hochintensive Gefecht.“ Das sieht so aus: „Die Helikopter setzen auf. […] Wenig später geht es bei geöffneter Seitentür im Tiefflug zum Zielort. Die Baumwipfel scheinen zum Greifen nahe. Niemand spricht.“ Ein Bundeswehr-Staffelkapitän ist sich sicher: „Wenn es jetzt zum Kriege käme, dann würden wir funktionieren.“ Lieber würde er allerdings „noch zwei, drei Jahre mit den Crews üben“. Nach dem Manöver bedankt sich ein litauischer Kommandeur „herzlich – […] mit zwei Flaschen Schnaps. So läuft das offenbar unter Verbündeten an der Ostflanke.“ Und Reporter Mike Szymanski „ist froh, dass ihm im Hubschrauber nicht schlecht wurde“.
- Der Spiegel stellte gleich eine gesamte Ausgabe (28/2025) unter den Titel „Die neue Kriegsangst“ und begann seine Bedrohungs- und Bedrohungsbewältigungsberichterstattung mit der knalligen Überschrift „Alarmstufe rot“: Eine Lena Speckmann hat Katastrophen- und Notfallschulungen beim Arbeiter-Samariter-Bund besucht und weiß nun, „was zu tun wäre, wenn sie je einer radioaktiven Wolke ausgesetzt sein sollte: sofort nach Hause gehen, Klamotten ausziehen, sie in dicke Plastiksäcke packen und vor allem duschen, duschen, duschen“. Ein Christian Klaus baut sich einen Bunker mit „einer Panzertür, die etwa eine Tonne wiegt“, und ist überzeugt: „Selbst wenn hier im Umkreis von 500 Metern eine Atombombe wie in Hiroshima gezündet werden sollte, bietet der Bunker einen sicheren Schutz.“ Mittendrin dabei ist auch Jens Spahn mit seinem Spruch zur Schuldenbremse. Natürlich unhinterfragt. – Nächster Beitrag: „Erste Nadelstiche“. Mitgeteilt wird: „Geheimdienstler beobachten schon heute ein kriegsähnliches Vorgehen Moskaus.“ Der Kanzler wird zitiert: „Was bedeutet eigentlich das Wort Krieg?“ Denn: „Deutschland sei längst einer Vielzahl von Angriffen ausgesetzt. Merz zählte auf: zerstörte Unterseekabel in der Ostsee, mit Drohnen ausspionierte Bundeswehrkasernen, Kl-generierte Falschnachrichten. […] Auch wenn keine russischen Panzerarmeen auf Deutschland zurollen, so Merz‘ Lesart, befinde sich das Land bereits in einer Art Kriegszustand.“ – Dritter Beitrag: „Die Rückkehr der Abschreckung“, ein Plädoyer für eine eigenständige westeuropäische Atomstreitmacht. Mit dabei wieder Jens Spahn mit seiner „Forderung nach einem eigenen Atomschutzschirm mit deutscher Beteiligung“.
Keinerlei Rolle spielt in dieser Art von Berichterstattung und in dem dahinter stehenden bellizistischen Denken offenbar ein gleichwohl existenzieller Sachverhalt: Sollte es – aus welchen Gründen und auf welche Weise auch immer – zu einem Krieg zwischen der NATO oder auch nur zwischen NATO-Europa und Russland kommen (als Zielvorgabe für diesen Fall hat der amtierende Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, schon 2023 die Devise ausgegeben: „Gewinnen wollen. Weil wir gewinnen müssen.“) und sollte Moskau angesichts seiner konventionellen und militärökonomischen Unterlegenheit gegenüber dem Westen dabei an den Rand einer Niederlage geraten, dann wird der Kreml auf die atomare Ebene eskalieren. So ist die geltende russische Nukleardoktrin abgefasst, inklusive (frühzeitigem) nuklearem Ersteinsatz (siehe Blättchen 25/2024 [1]). Zu den dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit primären Angriffszielen auf deutschem Boden würden neben der US-Basis Ramstein und dem Bundeswehrfliegerhorst Büchel in der Eifel, wo US-Kernwaffen lagern, neuralgische Elemente der logistischen Infrastruktur für Nachschub an die NATO-Ostflanke wie etwa die schwertransportfähigen Eisenbahnbrücken über Rhein, Elbe und Oder zählen. Allein die dabei zu gewärtigenden zivilen Kollateralschäden würden nicht nur das deutsche Gesundheitswesen, sondern große Teile der Gesamtgesellschaft kollabieren lassen. Daher ist die unbedingte Vermeidung eines Krieges mit Russland das essentiellste unter allen deutschen Sicherheitsinteressen.
Die von der westlichen Sicherheitscommunity derzeit wieder einmal favorisierte militärische Abschreckung kann versagen. Dieser Gefahr, respektive der damit einhergehenden Existenzbedrohung, ist mit militärischen Mitteln nicht beizukommen, auch nicht mit dem angelaufenen Hochrüstungshype des Westens – unter anderem in Gestalt der Beschaffung tausender zusätzlicher Panzer für die Bundeswehr (siehe Letzte Meldung in dieser Ausgabe).
Dazu bedürfte es vielmehr eines politischen Ansatzes, der folgendes – in diesem Magazin mindestens seit 2018 [2] wiederholt formuliert – zur Voraussetzung nimmt: „Wirkliche Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland [oder China – S.] ist […] gegen diese und in einem militärischen Konflikt mit dieser schon gar eine Schimäre. Sicherheit vor einer Atommacht […] ist vielmehr nur als gemeinsame, kooperative Sicherheit zu haben. Daher sollte man mit Russland keinesfalls verfeindet, besser befreundet, noch besser verbündet sein, um jede Möglichkeit einer militärischen Auseinandersetzung schon vom Grundsatz her auszuschließen.“ Das ist die Möglichkeit, die Europa hat – nicht „uns verteidigen […] oder […] Russisch lernen“.
Wer unfähig oder unwillig ist, dies in Rechnung zu stellen, ist als Wahrer deutscher Sicherheitsinteressen eine Fehlbesetzung. Das gilt derzeit leider für die politische Klasse des Landes fast durchgängig.
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Vor kurzem gab Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius der Financial Times ein Interview, in der er darauf insistierte, „dass Truppen aus Deutschland […] bereit wären, russische Soldaten zu töten, falls Moskau einen NATO-Mitgliedstaat angreifen sollte“. So könnte in einem solchen Falle die Umsetzung von Artikel 5 des NATO-Vertrages aussehen.
Die Frage ist allerdings, ob ein deutscher Kanzler wie Friedrich Merz die Bundeswehr – die nach seinem Willen in absehbarer Zukunft stärkste konventionelle Armee Europas – gegebenenfalls bereits dann in Marsch setzen würde, wenn Moskau noch gar nicht angegriffen hätte. Bei einem Staatschef, vulgo Oberbefehlshaber, für den seinen eigenen Äußerungen zufolge der Krieg mit Russland bereits begonnen hat und der den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Israels gegen den Iran mit der Bemerkung rechtfertigte: „Wir bekräftigen, dass Israel das Recht hat, seine Existenz und die Sicherheit seiner Bürger zu verteidigen.“, sollte man diese Frage keinesfalls nicht aus dem Auge verlieren.
Nachtrag: In seiner Ausgabe 30/2025 beklagte Der Spiegel eine „Verflachung und Überhitzung des Diskurses, in dem die Geduld für komplexe Argumente oder Problemlösungen fehlt“. Doch praktisch noch bevor die überlieferte Sentenz „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung“ bei mir vollständig aus der Erinnerung aufploppen konnte, erklärte der Chefredakteur des Magazins im selben Heft: „Wir recherchieren, wir dokumentieren, wir analysieren, wir kommentieren. Das nenne ich Aufklärung […].“ Und: „In unseren Diskussionen waren wir uns einig, dass wir nicht milder werden, nicht bei·der Kontrolle der Mächtigen nachlassen. Dabei bleibt es, Sie [also die Spiegel-Leser – S.] können sich darauf verlassen.“
* – Siehe dazu ausführlicher Blättchen 15/2022 [3], 21/2024 [4] und 7/2025 [5] sowie den Beitrag von Gerhard Schewe in dieser Ausgabe.