Flood the zone with shit
Steve Bannon
Das Magazin Focus wurde 1993 aus der Taufe gehoben; Chefredakteur Helmut Markwort wollte „Fakten, Fakten, Fakten“ an die Leser bringen. Das Magazin sollte dem Spiegel Konkurrenz machen; dessen Gründer Rudolf Augstein das Leitmotiv seiner publizistischen Arbeit in „sagen, was ist“ sah.
Beide Leitsprüche lesen sich heute wie Nachrufe auf die journalistische Sachlichkeit. Selbige steht in der gegenwärtigen medialen Welt unter erheblichem Druck. Und zwar doppelt: Einerseits ist das Geschichtenerzählen, die „anekdotische Evidenz“, fester Bestandteil der Alltagskommunikation, zum anderen bemängeln Kritiker den seit 2024 wirksamen europäischen Digital Services Act (DSA), der die Verantwortlichkeiten von Online-Plattformen und Vermittlungsdiensten regelt. Der Koalitionsvertrag der Merz-Regierung nimmt darauf Bezug und führt aus, dass „die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt (ist). Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können“.
Selbst ernannte Aufklärer erkennen in „solche(n) Fake-News-Gesetze(n) ein absolutes Unding“; nun kämen solche Gesetze nicht nur in „totalitären“, sondern auch „in demokratischen Staaten zum Einsatz“. An anderer Stelle wird – in Teilen zurecht – gegen einen moralisierenden „Haltungsjournalismus“ polemisiert. So heißt es dann auch aus unberufenem Mund: „Wir müssen diesem Wahnsinn ein Ende setzen. Deutschland ist zum Zensurlabor des Westens geworden“.
Mit der anekdotischen Evidenz ist es ganz einfach: Jemand berichtet, er habe gehört, dass ein anderer etwas gesagt habe, was dann zu (verbalen) Attacken auf letzteren führte. Der Berichterstatter zieht daraus den Schluss, sich (öffentlich) zu äußern, sei gefährlich, man könne „nicht mehr alles sagen“. Aus dem Einzelfall wird hysterisch auf das Ganze geschlossen, es wird generalisiert und das Fazit gezogen – eben nicht mehr alles sagen zu dürfen. Wer jedoch bewirkt(e), dass angeblich nicht mehr alles gesagt werden könne? Der Staat? Die diverse Gesellschaft in ihrer ganzen vielfältigen Widersprüchlichkeit? Mindestens 40 Prozent der Deutschen haben derzeit das Gefühl, ihre Meinung nicht frei äußern zu dürfen – obwohl die Meinungsfreiheit im Grundgesetz gesichert ist.
Die anekdotische Evidenz geht ein in das Erfahrungs- respektive Alltagswissen. Im Unterschied zu wissenschaftlichem Wissen ist dieses Wissen Kenntnis, die durch praktisches Handeln, sinnliche Wahrnehmung und sozialen Austausch erworben wird und daher im hohen Maße personengebunden und kontextbezogen ist; sie erscheint sofort vertraut. Anders als die Arbeit von Forschern. Der Virologe Christian Drosten wurde zur Zielscheibe von Hasskundgebungen, obwohl er wiederholt betonte, dass sich seine Einschätzung mit neuen Daten und Ergebnissen zwangsläufig verändere. Genau das ist Wissenschaft – aber viele werten das als Widersprüchlichkeit oder Lüge. Werden wissenschaftliche Dispute aus politischen Gründen öffentlich, dann mischen sich schnell politische, emotionale und mediale „Stimmen“ ein – und der eigentliche wissenschaftliche Disput wird vereinfacht, verzerrt, instrumentalisiert.
Gleiches trifft zu auf Debatten rund um den Klimawandel; ein langsamer, globaler Prozess mit potenziell katastrophalen Folgen, aber schwer greifbar. Obwohl quasi alle Klimaforscher den menschengemachten Klimawandel bestätigen, wird diese Einsicht immer wieder bagatellisiert; es müsse doch „ausgewogen“ zugehen. In reichweitenstarken Accounts findet sich dann ein williges wie ahnungsloses Auditorium, das „Panikmache“, „Alarmismus“ schreit und alles für einen Schwindel hält. In Zeiten autoritärer Machtverschiebung wird die Wissenschaft deutlicher häufiger angegriffen als vorher.
Es ist ein fundamentales Missverständnis der Meinungsfreiheit: Sie bedeutet nicht, man könne für seine Äußerungen in jedem Falle nur Beifall und Zustimmung erwarten, sondern man muss auf Widerrede und Einsprüche gefasst sein. Im schlimmsten Falle wird man tatsächlich Opfer aggressivster, in verrohter Sprache vorgetragener Angriffe von rechts oder links, deren Urheber anonym bleiben. Die Wehrlosigkeit gegen den Anonymus und nicht ein übergriffiger Staat mit seinen „Fake-News-Gesetzen“ löst die blanke und verständliche Furcht aus, sich in den digitalen Medien Hassreden ausgesetzt zu sehen. Die Verachtung von menschlicher Unterschiedlichkeit und Andersartigkeit bewirkt, dass die so Attackierten eine gesellschaftliche Stigmatisierung befürchten, dass ihr Leben und das ihrer Familie durchleuchtet werden könnte, sie „gecancelt“ würden und verstummen. Andere schweigen nicht und machen gottlob den Hass öffentlich.
Ein Kritiker des DAS behauptet, was wir anstelle „von zu viel Staat und zu viel Regulierung“ brauchten, seien Bürger, „die selbst denken und herausfinden, ob eine Information irreführend sein könnte“. Also mündige Bürger; eine betagte synkretistische Spezies, wenn man die Aufklärung zu ihrer Geburtsstunde erklärte. Trotz ihres greisen Alters ist sie noch immer umtriebig und politisch einsetzbar. Ich erinnere mich noch gut, wie sie herhalten musste, als Regierung und Lobbyverbände die „Nahrungsmittel-Ampel“ – heute ein anerkanntes Hilfsmittel beim Einkauf von Lebensmitteln – erst einmal auch mit der Begründung abschmetterten, sie führe zur „Verdummung“ der Konsumenten, der „aufgeklärte Käufer“ wisse schon Bescheid. Durch die Beliebigkeit seines „Einsatzes“ läuft der „mündige Bürger“ Gefahr, zur Floskel zu verkommen …
Womit es die Menschen und so auch mündige Bürger heute zu tun haben, ist ein riesiger Medienkosmos – von öffentlich-rechtlichen TV- und Radiosendern bis zu seriösen, aber auch obskuren Internetangeboten, von Printmedien bis hin zur „Informationsquelle“ Freunde, Bekannte und Verwandte, die laut Untersuchungen 78 Prozent der Informationen abdecken. Von seriös recherchierten und gut aufbereiteten Beiträgen bis hin zu fake news, von Einflüsterern in der eigenen Blase, die mehr und mehr die Ansichten, die Meinungen ihrer user diktieren oder manipulieren; alles das ist les-, hör- und sehbar. (Des)Informationen sind zur Flut angeschwollen; manchem steht so Quantität für Glaubwürdigkeit. Es fehlt oft Zeit oder Energie, Quellen zu bewerten, Fakten zu prüfen oder manipulative Sprache zu erkennen; manchmal gebricht es schlicht an Wissen.
Selbst mündige, „demokratiekompetente“ Bürger vermögen häufig nicht, diesen Dschungel zu lichten. Das auch deshalb, weil sie so genannten kognitiven Verzerrungen aufsitzen, das heißt unbewusst der Neigung folgen, den (Falsch)Informationen (mehr) zu glauben, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen und sie veranlassen, widersprüchliche Fakten zu ignorieren. Derartige Nachrichten sind oft emotional aufgeladen mit Wut und Empörung. Und starke Gefühle führen dazu, dass Menschen impulsiv Inhalte schneller teilen und weniger kritisch hinterfragen. Vertrauensverluste in klassische Medien, in „Systemmedien“, kommen hinzu; „alternative“, oft unseriöse Quellen gewinnen an Attraktivität.
Vor diesem Hintergrund ist es naiv, ja gefährlich, lediglich – wie postuliert – auf den mündigen Bürger zu setzen. Oben zitierter Kritiker des DAS gesteht dann auch: „Die Kompetenz, Täuschung und Manipulation unmittelbar zu erkennen, hatten wir, glaube ich, noch nie“. Richtig; dass mündige Bürger häufig überfordert sind, Tatsachen von Lügen, Falschheit unterscheiden zu können, ist kein Zeichen ihrer Dummheit, sondern dem komplexen Zusammenspiel aus Technologie, insbesondere den unregulierten Algorithmen in digitalen Medien, Psychologie und gesellschaftlicher (Fehl)Entwicklung geschuldet. Auch geht es in der heutigen Politik technokratischer und komplizierter zu als früher, so dass es Bürgern schwerer fällt, sich im Detail in (medien)politische Themen einzuarbeiten. Um dem in Teilen wenigstens abzuhelfen, brauchte es mehr entsprechende Bildung und auch Plattformen, die Verantwortung übernehmen. Bislang jedenfalls bedarf es staatlicher Regelungen, eben auch des DAS, auch wenn da und dort übergriffig angewandt. Gerichte verhindern offensichtlichen Missbrauch; laut Bundesverfassungsgericht bildet die Meinungsfreiheit auch die „Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“ ab.
Der obige „unberufene Mund“ gehört dem US-Vizepräsidenten James David Vance, dessen Regierung nota bene anfangs ihrer Amtszeit über 200 Begriffe aus der offiziellen Regierungssprache hat verbannen lassen. „Rassismus“? Gestrichen. Desgleichen Begriffe wie „Frau“ und „weiblich“; „Feminismus“ sowieso. Diese „rote Liste“ umfasst vor allem Wörter im Zusammenhang mit sexueller Identität, Diversität und Klimakrise. Muss man sich nicht also eher um „the feedom of speech“ in den Trump’schen USA Sorgen machen?
Schlagwörter: anekdotische Evidenz, Digital Services Act, J.D. Vance, Meinungsfreiheit, Stephan Wohanka

