So lautete die Frage, die Ingeborg Bachmann ihrem Schriftstellerkollegen Heinrich Böll im Februar 1956 stellte. Kennengelernt hatten sich die beiden vier Jahre zuvor in Niendorf auf der ersten Tagung der Gruppe 47. Wie die bislang gesperrte, jetzt erstmals im Rahmen der „Salzburger Bachmann Edition“ veröffentlichte und sich über zwei Jahrzehnte erstreckende Korrespondenz zwischen ihnen zeigt, herrschte von Beginn an nicht nur ein kollegiales, sondern vor allem ein vertrautes Verhältnis. So schließt Bachmanns erster Brief an Böll, geschrieben am 12. Dezember 1952, mit der Bemerkung: „Es ist gut zu wissen, dass es Sie gibt.“
Beide standen zu diesem Zeitpunkt am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere, beide waren dabei, neue Lebensorte für sich zu entdecken: Bachmann zog es nach Italien, Böll schaute Richtung Irland. In seinem Vorwort schreibt Hans Höller: „Die Briefe könnten unspektakulär erscheinen, wenn man sie an den konfliktbeladenen Korrespondenzen mit Paul Celan oder mit Max Frisch misst. Doch geht es in Bachmanns Briefwechsel mit Heinrich Böll um das Gegenteil, um die Vermeidung von persönlichen Konflikten.“
Anfangs standen vor allem Fragen des Schriftstellerdaseins im Mittelpunkt: Wovon sollte man leben? Worüber ließ sich schreiben? In ihren autobiographischen Aufzeichnungen hatte Bachmann dazu notiert: „Im Grunde aber beherrscht mich noch immer die mythenreiche Vorstellungswelt meiner Heimat, die ein Stück wenig realisiertes Österreich ist, eine Welt, in der viele Sprachen gesprochen werden und viele Grenzen verlaufen.“ Am 5. Februar 1953 gestand sie Böll: „Vor der Literatur als Beruf fürchte ich mich sehr. Meine Ahnungen finde ich auch in Ihrem Brief bestätigt – weil Sie schreiben, dass Sie wie ein Irrer schuften. Aber probieren möchte ich es trotzdem.“ An ihrer Courage zweifelnd hält sie noch am selben Abend fest: „Unter meiner ,Freiheit‘ stelle ich mir immer weniger vor. Ich werde länger schlafen, sehr viel schlafen. Aber es scheint mir unwahrscheinlich nebenbei arbeiten zu können.“
Unabhängig von ihrem bis dato schmalen Werk wird Bachmann bereits im Jahr darauf von den Verlagen umworben. Böll tritt, wie er schreibt, „offiziell beauftragt“ an sie heran, um „das Interesse des Hauses Kiepenheuer an Ihrem gesamten Werk (vergangen, gegenwärtig und zukünftig) zu bekunden“. Und auch aus München kommt ein Angebot. Unsicher fragt sie bei Böll nach: „Ich weiss nicht, was Sie von Piper halten, bezw. nicht halten.“ Nachdem Böll, der sie gern an seiner Seite bei Kiepenheuer & Witsch gesehen hätte, das Für und Wider abgewogen hat, rät er ihr schließlich: „vielleicht gehen sie doch besser zu Piper“.
Die Bindung an einen Verlag hieß nicht nur, regelmäßig etwas Druckreifes zu produzieren. Das Lesepublikum wollte die Schriftstellerin auch live erleben, wollte mit ihr ins Gespräch kommen. Jeder Auftritt wurde zur Herausforderung, war ihr doch allein schon das Reisen verhasst. Und dann war da noch die Frage: Wo sollte zukünftig ihr Lebensmittelpunkt sein? Klagenfurt, Wien, Rom, Neapel, Ischia, Paris? Bachmann hat ihre jahrlange „Ortlosigkeit“, wie im Vorwort zu ihren autobiographischen Schriften gezeigt wird, durchaus „als habituelles persönliches Leiden empfunden“. Allerdings sah sie „darin auch die utopische Möglichkeit, von diesem Nicht-Ort aus in der Phantasie ein Land ihrer Wahl zu erschaffen“.
Am intensivsten hat sie sich mit diesem Problem in ihrem zwischen Februar und September 1956 entstandenen „Neapolitanischen Tagebuch“ auseinandergesetzt. Die ihr eigene „pathologische Angst vor der Ortsveränderung“ geht darin einher mit der Klage über ein fehlendes Zuhause. Am 15. Februar 1956 hält sie fest: „Das Leben ist ein Monolog geworden. Weniger Kulissen. Man spielt im Dunkeln. Alle sind längst heimgegangen. Senza casa. Sono senza casa.“ Drei Tage später notiert sie: „Um zu sich selbst zu kommen, muß man aus sich heraus und weit fort gehen. Man erfährt auch nur etwas über sich selbst, wenn man nicht mehr mit sich selbst beschäftigt ist. […] Ein Ende will ich. Heim. Ruhe.“ Die italienische Hauptstadt scheint ihr dafür am geeignetsten: „Heimweh nach Rom […]. Dort leben und sterben dürfen.“
Anfang März 1956 hat Bachmann „Sehnsucht nach Hotelzimmern, dem neutralen Territorium“. Ganz anders klingt es in einem Brief an Gert Westphal, dem sie erklärt: „nichts wirft einen weiter zurück als das Herumzigeunern in Hotels“. Noch schlimmer als das Leben in gesichtslosen Hotels, sind die ersten Tage in einer neuen Wohnung. Ende Mai 1959, Bachmann lebte seit zwei Monaten in Uetikon, schrieb sie an Böll: „und es fing so an, wie es immer anfängt, mit der grossen Leere in den Zimmern […] dann schafft man sich mehr Dinge an […] es ist ganz furchtbar, was man zu brauchen glaubt, denn wir bleiben doch nicht sehr lange auf der Welt“.
Einer der zahlreichen Orte, an denen sie sich neu einrichten musste, war West-Berlin. Nach der Trennung von Max Frisch lebte Bachmann von April 1963 bis Dezember 1965 dort als Stipendiatin der Ford Foundation. Erstmals hatte sie die Stadt im Mai 1955 während einer Tagung der Gruppe 47 besucht. Kurz darauf teilte sie Heinrich Böll mit: „An Berlin denke ich viel, es hat sich sehr eingeprägt und ich möchte im Winter oder im nächsten Frühling gern auf länger hin, einen Monat vielleicht.“
Konkret wurden ihre Pläne Ende September 1956, wobei sie nicht nur West-Berlin, sondern auch die „Ostzone“ besuchen wollte. Eine Angelegenheit schien ihr in diesem Zusammenhang besonders wichtig, „weil sie mir viel zu wenig beachtet zu werden scheint, nämlich […] die Vokabular-Frage, wie ich sie für mich nenne, denn wenn man eines Tags in zwei verschiedenen deutschen Sprachen spricht und schreibt, dann braucht man sich auf politischem Gebiet nicht mehr sehr um einen gemeinsamen Nenner zu bemühen – und sollen wir zwei Literaturen bekommen oder bei einer bleiben?“ Trotz unangenehmer Erfahrungen mit der Staatssicherheit riet Böll ihr: „Ich glaube, es wird das beste sein, du machst einen Besuch, siehst und hörst selbst […] es ist ganz gewiss so, dass es zweierlei Deutsch gibt.“ Auf Grund eines unverhofften Krankenhausaufenthalts musste die Reise jedoch verschoben werden und fand erst im März 1958 statt. Während ihres achttägigen Besuchs hielt sie sich, wie beabsichtigt, erstmals auch im Ostteil der Stadt auf, wo sie Peter Huchel, den Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form, traf.
Als Bachmann im Juni 1964 in Berlin von der Zuerkennung des Büchner-Preises erfuhr, musste sie nicht lange über das Thema ihrer Dankesrede nachdenken. „Es wird“, so vernahmen es die bei der Preisverleihung Anwesenden, „von einer Gegend hier die Rede sein, umständehalber, von einer Stadt, da mehr sich nicht anbietet, einer die sich auf ,Teilung‘ hinausreden möchte.“
Bachmann überschrieb ihren Berlin und die jüngste Berliner Geschichte in den Blick nehmenden Text mit „Deutsche Zufälle“. Die überarbeitete, jetzt in einer exzellent kommentierten Fassung vorliegende Rede wurde im Frühjahr 1965 unter dem Titel „Ein Ort für Zufälle“ als Buch im Berliner Wagenbach Verlag veröffentlicht. Der schmale, 26 Absätze umfassende, von Günter Grass illustrierte Band blieb Bachmanns einzige selbständige Veröffentlichung in den Jahren zwischen dem Erzählungsband „Das dreißigste Jahr“ (1961) und dem Roman „Malina“ (1971). Mit dem Buch konnte die Autorin eine jahrelange, von Krankheit und Verzweiflung verursachte Schreibkrise überwinden.
Selbst wenn sich dieser von der Literaturwissenschaft zumeist vernachlässigte Text gattungsmäßig kaum einordnen lässt, so lohnt sich gerade heute die Lektüre. Ist es doch, wie Hans Höller herausstellt, Bachmanns „literarisch konsequentester Einspruch gegen die Verdrängung der Kriegstraumen“.
Ingeborg Bachmann / Heinrich Böll: „Was machen wir aus unserem Leben?“. Der Briefwechsel (Hrsg.: Renate Langer), Piper Verlag / Kiepenheuer & Witsch / Suhrkamp Verlag, München / Köln / Berlin 2025, 487 Seiten, 40,00 Euro.
Ingeborg Bachmann: „Senza casa“. Autobiographische Skizzen, Notate und Tagebucheintragungen (Hrsg.: Isolde Schiffermüller, Gabriella Pelloni und Silvia Bengesser, unter Mitarbeit von Michael Hansel), Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 336 Seiten, 42,00 Euro.
Dies.: Ein Ort für Zufälle (Hrsg.: Martina Wörgötter), Suhrkamp Verlag, Berlin 2025, 192 Seiten, 38,00 Euro.
Schlagwörter: Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Mathias Iven


