28. Jahrgang | Nummer 11 | 16. Juni 2025

Wenn Bekenntnisse gefordert werden

von Lars Niemann

Seit dem Parteitag der Linken in Chemnitz konzentriert sich die mediale Kritik, denn irgendetwas musste ja gefunden werden, auf eine offenbar knappe Entscheidung zugunsten der „Jerusalem declaration on antisemitism“ (JDA) bezüglich der Frage, was Antisemitismus denn nun sei, gegenüber der in Deutschland staatlich (Bundestag, Bundesregierung) und medial favorisierten Definition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) aus dem Jahre 2016. Nun liegt die Vermutung nahe, dass letztere hauptsächlich dem Versuch dient, Kritik an der israelischen Politik möglichst zu erschweren oder am besten ganz unmöglich zu machen, indem sie als „Israel-bezogener Antisemitismus“ kategorisiert und damit diffamiert wird, und dass sie den aktuellen Antisemitismus eher „links“ und „islamisch“ verortet.

Für mich gibt es keinen „linken“ oder „muslimischen“ Antisemitismus, ebenso wie keinen „rechten“, keinen „protestantischen“ oder „katholischen“, sondern eben nur Antisemitismus gibt. Dem ist entgegenzutreten, wie auch jeglicher anderer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Die Kritik an der Politik Israels steht auf einem ganz anderen Blatt und ist legitim. Insofern kann ich die überwiegende Sympathie der Delegierten auf dem Linken-Parteitag für die weiter gefasste und weniger auf Isreal fokussierte JDA-Definition verstehen und teile sie. Ebenso verstehe ich, warum im weitesten Sinne bürgerliche, aber auch rechte Parteien die IHRA-Definition bevorzugen. Schließlich wird auch gegen jegliche antikapitalistische Strömung nach einiger Zeit verlässlich die Antisemitismus-Keule geschwungen; als Beispiele fallen mir die „Occupy Wallstreet“-Bewegung, die britische Labour Partei unter Jeremy Corbyn oder Jean-Luc Mélenchons „La France insoumise“ ein. Es ist erstaunlich, dass dieser Trick propagandistisch immer wieder zu funktionieren scheint; allmählich sollte man sich auf der linken Seite eine dickere Haut zulegen und nicht über jedes Stöckchen springen.

Natürlich ist es so, dass beispielsweise die Übernahme der IHRA-Definition durch das deutsche Parlament und die deutsche Regierung für mich als Bürger im Grunde bedeutungslos ist. Ebensowenig hat es auf mich einen Einfluss, was auf dem Parteitag der Linken oder irgendeiner anderen Partei in dieser Frage entschieden wird. Selbst bei einer 100-prozentigen Zustimmung zur IRHA-Definition im Bundestag und einer Ablehnung derjenigen der JDA würde sich keine Notwendigkeit ergeben, das persönlich ebenso zu sehen. Und rechtlich bindend ist eine solche Zustimmung ohnehin nicht, während Gesetze befolgt werden müssen, auch wenn sie einem nicht passen. Die Gedanken sind bekanntlich frei, und das soll auch so bleiben.

Nun gibt es aber die beunruhigende Tendenz, dass die Anerkennung von Richtlinien oder eben Definitionen zum Maßstab der Treue zum Staat oder zur Demokratie oder meinetwegen zur „Freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ betrachtet und Menschen nach ihrer jeweiligen Haltung dazu sortiert werden. Und dies hat in Deutschland bereits Auswirkungen auf Beschäftigung, die Möglichkeit öffentlticher Äußerung oder den Zugang zu öffentlicher Förderung. Zunehmend werden Bekenntnisse gefordert, wobei sich der Staat zumeist, das war in meiner Erinnerung auch in der DDR üblich, mit Lippenbekenntnissen zufrieden gibt, zum Glück und noch zumindest.

Die Diskusson um die Antisemitismus-Definitionen erinnert an die Auseinandersetzungen in der Corona-Zeit, die jetzt überall beschwiegen werden in der (vermutlich vergeblichen) Hoffnung, sie verdrängen zu können. Konkret sehe ich Parallelen zum staatlich als Richtschnur akzeptierten „John Snow-Memorandum“ im Gegensatz zur als angeblich unwissenschaftlichen und, was in dem Zusammenhang völlig irrelevant war, „rechtslastig“ diffamierten „Great Barrington Declaration“. John Snow hat in diesem Zusammenhang nichts mit dem Helden aus George R.R. Martins „Game of thrones“ oder der dort eingeführten allgemeinen Bezeichnung für einen Bastard zu tun, sondern er hat als Arzt im London des 19. Jahrhunderts wohl zum ersten Mal epidemiologische Evidenz zur Seuchenbekämpfung eingesetzt, indem er nämlich während einer Cholera-Epidemie Zusammenhänge zwischen der Häufung von Krankheits- und Todesfällen und der Trinkwasserentnahme aus bestimmten Brunnen erkannte, deren Sperrung die weitere Ausbreitung der Krankheit stoppte. Great Barrington ist ein Ort.

Beide Erklärungen wurden kollektiv entwickelt und jeweils von einer Reihe ausgewiesener Fachleute unterschrieben und unterstützt. Das John-Snow-Memorandum empfahl zur Bekämpfung von Covid 19 strikte Kontaktsperren und bildete letztendlich die Grundlage für endlose Lockdowns, Schulschließungen und diverse Zwangsmaßnahmen, denen (in den Ländern unterschiedlich krass umgesetzt) die gesamte Bevölkerung unterworfen wurde und die letzten Endes heftige Kollateralschäden mit sich brachten und nach sich zogen. Die „Great Barrington”-Leute gingen stattdessen offenbar von der Beobachtung einer extremen Häufung von schweren und tödlichen Verläufen bei älteren Menschen aus und favorisierten gezielte Maßnahmen zum Schutz vulnerabler Gruppen. Für und gegen beide Herangehensweisen gab es Argumente, und man muss vor allem auch den damaligen Wissensstand und die anfängliche Nichtverfügbarkeit von Impfstoffen beachten. Letztendlich folgten die Regierungen weltweit eher dem John-Snow-Ansatz. Ob das richtig war, wird man retrospektiv wohl nicht klären können. Aber was mit Sicherheit falsch und unberechtigt war, aber nunmehr der sogenannten und anscheinend immer kleiner werdenden „bürgerlichen Mitte“ und ihren Medien als Blaupause für den Umgang mit Andersdenkenden dient, ist die Verächtlichmachung der „Great Barrington“-Anhänger, der Versuch, ihre wissenschaftliche Kompetenz zu bezweifeln (Stichwort „umstritten“) und ihre Reputation zu zerstören, unter anderem durch den Hinweis, dass die Tagung selber von reichen Menschen mit Beziehungen zum Gott-sei-bei-uns Trump finanziell unterstützt worden ist.

Die so ganz unterschiedlichen Themen, wie Antisemitismus zu definieren und wie die Pandemie zu bekämpfen wäre, haben eines gemeinsam: Sie sind sehr extrem komplex und unterschiedliche Sichtweisen nur natürlich. Gelten soll aber jeweils nur die eine. Heute sollen und wollen gute Menschen wieder „fest in einem Weltbild stehen“, wie Konstantin Wecker mal gesungen hat. Noch mehr fühle ich mich ans alte DDR-Jugendlied erinnert „Sag mir, wo Du stehst“. Haltung und Bekenntnis sind gefragt, aber das ist in unserer komplexen Welt doch so verdammt schwierig.