Das Babylon“ war übervoll: 737 Interessen wollten der Vorstellung des dritten Erinnerungsbandes von Egon Krenz beiwohnen. Zwei Tage später saßen nicht weniger Zuschauer in diesem renommierten Berliner Kino. Allerdings handelte es sich um ein gänzlich anderes Publikum. Das gefühlte Durchschnittsalter lag unter dreißig, die Mehrheit der Gäste war weiblich und erkennbar aus Asien. Die Langnasen im Saal bildeten die Ausnahme. Diverse Institutionen hatten eingeladen zum Auftakt des China Filmfestivals. In den folgenden anderthalb Wochen sollten im Babylon Filme verschiedener Genres gezeigt werden.
Sinn und Zweck der Filmwoche wurden von Offiziellen vor Beginn des Films in variierten Reden mitgeteilt. Die jungen Leute im Parkett und auf der Empore harrten geduldig die Dreiviertelstunde der Ansprachen aus. Sie lauerten auf den Film, den die meisten – wie sie später per Handzeichen auf eine entsprechende Frage der Regisseurin und Buchautorin bestätigten – bereits kannten. Dass es sich hier um eine Fan-Gemeinde handelte, war bereits deutlich geworden, als in einer Rede der Name Shao Yihui fiel und in der Reihe vor mir ein kleines Persönchen armeschwenkend aufsprang. Wie bei einem Rockkonzert jubelte und kreischte der ganze Saal. Shao Yihui war vernehmlich ein Star in ihrer Heimat. Als ihr Film, dieser Film, im Dezember 2021 in die chinesischen Kinos kam und zum Kassenschlager wurde, war sie gerade dreißig. Wie könne man so jung einen solch fulminanten Film machen, wurde sie anschließend gefragt. Hatte sie bei diesem Debüt, denn es war ihr erster Spielfilm, einfach nur Glück oder sei sie ein Genie? Darauf reagierte sie ironisch wie selbstbewusst: ein Genie.
Ein wenig extrovertiert wirkte sie durchaus, als sie gestenreich und eloquent in ihrer Muttersprache die Fragen aus dem Saal beantwortete. Doch irgendwie haftete ihr auch noch die Frische, das Unverbrauchte und Unverstellte eines Teenagers an. Die Antworten kamen rasch, pointiert, klug, aber nicht angelernt altersweise. Die Frau war wie der Film oder umgekehrt: modern und weltoffen. Die Chinesen können also nicht nur Sonden auf den Mond schießen und Elektroautos bauen, sondern sind inzwischen auch in der Lage, Hollywood Konkurrenz zu machen. Ohne Kitsch und Lebensfremdheit, frei von Pathos und Patriotismus. Filme tauglich für ein globales Massenpublikum.
Shaos Film spielt in Shanghai, aber nicht vor den glitzernden Hochhausfassaden, sondern in einer der verwinkelten, keineswegs idyllischen Seitenstraßen, abseits des brodelnden Verkehrs. Da ist ein geschiedener Mann und Vater, ein erfolgloser Maler und Zeichenlehrer, der seine Existenz mit Malkursen für Erwachsene sichert und einen Teil seiner Wohnung untervermietet an Menschen, die keine Miete zahlen, ein Looser in der Mitte seines Lebens. Er sucht nach neuem Glück und nach Ausstellungsräumen für seine Bilder, es gibt drei Frauen um ihn herum, selbstbewusste, anhängliche und nervende. Und Freunde und Bekannte. Ein lockeres Beziehungsgeflecht, wie es überall in der Wirklichkeit existiert. Shanghai kommt einzig in der Sprache vor: Die Schauspieler sprechen den ortsüblichen Dialekt, weshalb der Film nicht nur deutsch, sondern auch chinesisch untertitelt wurde. Die Shanghaier Sprache ist nicht nur für den Rest des Landes so gut wie unverständlich, sondern obendrein auch sehr schnell, weshalb bei manchem Wortwechsel die Transkription sowohl platzmäßig als auch inhaltlich nicht hinterherkam. Geschenkt. Der Typ (Xu Zheng) war nicht nur ein Typ, sondern auch ein richtig guter, exzellenter Schauspieler. Man verstand auch ohne Worte, was er sagte, dachte, fühlte. Großartig.
Aber warum Shanghai? Hätte die Handlung nicht ebenso an jedem anderen Ort Chinas spielen können? Ja und nein. Die Industrie- und Hafenstadt Shanghai, mit um die fünfzehn Millionen Einwohnern nicht nur eine der größten Siedlungen Chinas, sondern der Welt, ist eine Chiffre. Der Name steht für das moderne, aufstrebende, fortschrittliche China, für die gelungene Verbindung von Tradition und Zukunft in der Gegenwart. Shanghai ist Wirtschaft und Kultur, Lebensqualität und Freiheit. Eine chinesische Rezensentin aus Shanghai beendete ihre Filmkritik vom 5. Januar 2022 mit dem Satz: „Ich bin stolz, in dieser Stadt zu leben und freue mich auf die weiteren spannenden Dinge, die die Stadt für uns bereithält.“
Dieser Subtext des Werks war den Machern des Films bewusst, sie stellten ihn absichtsvoll her. Dazu rechne ich nicht nur die unterlegte internationale Musik, die verbalen Bezüge zu Europa und Anspielungen auf übersteigertes Konsumverhalten. Auch die Tatsache, dass der Film zwei Titel hat, gehört dazu. Für den nationalen Markt nannte man ihn – übersetzt natürlich – „Mythos der Liebe“, eine romantische Komödie. Für den internationalen Markt titelte man „B for Busy“, wobei unklar ist, ob B für Lao Bai steht, die Hauptperson, oder ob das Kürzel Geschäftigkeit und dynamische Unruhe meint. Vermutlich beides. Und romantisch? Naja, das genau ist es eben nicht. Es ist weitaus mehr Realismus als Illusion im Spiel. Es geht nicht um Gefühlsduselei, sondern um den individuellen Glücksanspruch in einer technisch hochtourig laufenden kapitalistischen Industriegesellschaft, um Emanzipation von überholten Rollenvorstellungen: von Frauen wie von Männern. Und das unterhaltsam und vergnüglich, mit einer souveränen Erzählhaltung dargeboten.
Bedauerlich, dass nur wenige einheimische Berliner den Weg ins Babylon fanden, denn Filmwochen werden ja nicht in erster Linie für die lokale Community des Landes veranstaltet, das seine Kunst auswärts präsentiert. Es braucht wohl doch noch einige Zeit, bis sich herumgesprochen hat, dass aus China inzwischen nicht nur hochwertige Konsumgüter, sondern auch anspruchsvolle, ansehenswerte Kunst kommt.
„B for Busy“, 112 Minuten, China, Buch und Regie Shao Yihui mit Ma Yili, Wu Yue, Ni Hongjie, im Internet mit Untertiteln zu sehen.
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