28. Jahrgang | Nummer 9 | 5. Mai 2025

Tatjanas Treue – zu Tschaikowskis „Eugen Onegin“

von Gerhard Müller

In der ersten Zeit unserer Verbannung glaubte ich, sie würde wohl fünf Jahre dauern“, schrieb die Fürstin Maria Wolkonskaja in ihren Memoiren. Sie war das Vorbild der Tatjana in Alexander Puschkins Versroman „Eugen Onegin“ und Peter Tschaikowskis gleichnamiger Oper. „Dann dachte ich, sie würde nach zehn Jahren zu Ende sein, später, nach fünfzehn Jahren. Doch als fünfundzwanzig Jahre vorbei waren, hörte ich auf zu warten und bat Gott nur um eines: dass er meine Kinder aus Sibirien herausholte.“ Sie war ihrem Mann freiwillig in die sibirische Verbannung gefolgt und hatte unermessliche Leiden auf sich genommen.

Man versteht die Oper nicht, wenn man das ausblendet und sie auf eine sentimentale Liebesgeschichte reduziert, wie es meist geschieht. Sie hat noch eine andere Seite. Ihre Protagonisten waren Zeitgenossen: Hinter der Bühnenfigur der Tatjana verbarg sich die Fürstin Maria Wolkonskaja, hinter Gremin (ihr nur episodisch auftretender Gatte) der Dekabrist Sergej Grigorjewisch Wolkonski, hinter Lenski der Dichter Kondrati Rylejew. Onegin selbst könnte auch als ein ironisches Puschkinporträt verstanden werden.

Puschkins Poem ist ein Roman über die russischen Adelsrevolutionäre, die am 14. (26.) Dezember 1825 (daher der Name „Dekabristen“) dem Zaren Nikolaus I. den Eid verweigerten und zum Aufstand aufriefen. Sie scheiterten, wie 117 Jahre später Stauffenberg mit dem Hitler-Attentat. Fünf von ihnen zahlten mit ihrem Leben, darunter Kondrati Rylajew, einer der fünf zum Tode verurteilten und gehenkten Verschwörer. Hunderte gingen in Verbannung und Zwangsarbeit nach Sibirien. Puschkin vermied in seinem unvollendeten Versroman jede direkte Anspielung. Eine neue Sicht auf das Werk eröffnete der Dichter Nikolai Nekrassow, indem er Puschkins poetische Erfindungen in die Realität zurückübersetzte und in seinem Poem „Russische Frauen“ von 1872 die wirkliche Geschichte erzählte.

Tschaikowski und sein Librettist Konstantin Schilowski kannten es und ebenso die Memoiren von Maria Wolkonskaja und legten sie ihrer Oper zugrunde. Sie gaben der Tatjana einen Gatten zur Seite, der bei Puschkin nicht auftritt, den Fürsten Gremin. Die ergreifendste Arie wird ihm zugeteilt, die Romanze „Ein Jeder kennt die Lieb auf Erden“. Gremin und Tatjana sind das Liebespaar der Oper. Hinter ihnen erscheint das wirkliche Spiel, eine Serie von Tragödien.

 

„Umringt von Schwätzern und von Heuchlern,

von hohler, dummer Arroganz,

von albernen, bornierten Schmeichlern

und jeder Art von Ignoranz,

von eitlen Gecken und Kokotten

mit ihren gräßlichen Marotten,

inmitten all der Kriecherei und faden Liebedienerei,

in dieser Welt, wo alle lügen,

wo Schurkerei und Niedertracht

zuallererst Karriere macht,

wo täglich Haß und Bosheit siegen:

Da leuchtet mir Tatjanas Stern …“

 

Das ist die Geschichte hinter der Geschichte: Die Dekabristen wurden zum Tode oder Zwangsarbeit verurteilt. Für die Frauen erdachte Nikolai I., inspiriert von seiner deutschen Mutter, ein teuflisches Spiel: Sie sollten im Besitz ihrer Titel und Güter bleiben, wenn sie sich von ihren Männern trennten. Alle zogen es vor, das Schicksal ihrer Männer zu teilen, und folgten ihnen nach Sibirien. Sie hatten zu unterschreiben, dass sie auf ihre Adelsprivilegien verzichten; sie durften kein Geld, keine Wertgegenstände, keine Diener und Vertrauten mitführen; sie mußten sich von ihren Kindern trennen und schriftlich einwilligen, dass ihre in Sibirien geborenen Kinder ihrer Adelsrechte verlustig gingen und Leibeigene der Krone würden. Sie unterschrieben alles und auch noch, dass sie als Frauen von Staatsverbrechern Freiwild für Kriminelle und Militärs seien. Sie unterschrieben, ohne zu zögern. Das bedeutete 30 Jahre Sibirien. Erst 1856 wurden die wenigen noch Überlebenden, weniger als ein Dutzend, amnestiert.

Maria Wolkonskaja war eine alte Bekannte von Alexander Puschkin. Er begegnete der betörenden schwarzgelockten Tochter des Generals Rajewski 1820 auf der Krim und in Odessa und verliebte sich in sie. Ihr sind in seinen Dichtungen „Die Fontäne von Bachtschissarai“ und „Eugen Onegin“ schmeichelhafte Verse gewidmet. Das letzte Mal traf er sie Ende Dezember 1827 im Salon ihrer Schwägerin in Moskau, ein Jahr nach dem Aufstand und ein halbes nach den Hinrichtungen. Sie befand sich auf der Durchreise von Petersburg nach Sibirien, wohin sie ihrem Mann in die Verbannung folgte. Sinaida veranstaltete ihr zu Ehren ein Konzert mit italienischer Opernmusik, und Puschkin versprach, sie in Nertschinsk (dem berüchtigten Verbannungsort) zu besuchen. Nach Nertschinsk kam er nie, doch es kam sein „Sendschreiben nach Sibirien“, später eines der berühmtesten Gedicht der russischen Literatur.

 

„Harrt aus! Sibiriens Bergwerksnacht

darf euren Stolz nicht niederzwingen!

Was ihr erstrebt, so kühn erdacht,

wofür ihr büßt, wird einst gelingen.“

 

So heißt es darin. Ein anderer Verbannter, der Dichter Alexander Odojewski, antwortete mit den nicht minder berühmten Zeilen:

 

„Was wir gewagt, wird nicht vergehn,

aus Funken werden Flammen schlagen,

erleuchtet wird das Volk aufstehn

und unsere Fahne vorwärts tragen.“

 

Die Frauen sorgten dafür, dass die Stimmen der Dekabristen nicht verstummten, sondern sich zu einem Orkan auswuchsen, der ganz Russland und dann die Welt erfasste und bis in die Gegenwart fortwirkt. Die Zeile „aus Funken werden Flammen schlagen“ wurde das Motto aller russischen Revolutionsbewegungen von Bakunin bis Lenin. Die Oper ist keine Reminiszenz an eine Jugendliebe, sondern ein kollektives politisches Porträt der Dekabristen-Frauen, für die das Wort „Heldinnen“ ein vielleicht zu schwacher Ausdruck ist. Die Memoiren der Wolkonskaja sind ein einzigartiges Dokument menschlicher Größe. Auch Tschaikowski kannte sie, und ihre Vorbilder begegneten ihm im Leben. Der Schwiegervater seiner Schwester Alexandra war der Dekabrist Wassili Dawydow, zugleich ein Onkel der Wolkonskaja. Dessen Familie wohnte auf einem Gut bei Kamenka (Kamjanka) in der Ukraine, wo einst Puschkin das (verlorene) zehnte Kapitel seines „Eugen Onegin“ geschrieben hatte und Tschaikowski ein halbes Jahrhundert später seine Oper. Den subversiven Hintergrund des Poems wird ihm in Kamenka auch der historisch gebildete Nikolai Dawydow erläutert haben, ein anderes Mitglied dieser Dekabristenfamilie. Modest Tschaikowski, der Bruder und Biograf des Komponisten, überlieferte von ihm ein literarisches Porträt, das Gremins Züge trägt: „Pjotr Iljitsch war nicht wenig erfreut, in ihm einen zwar ältlichen, aber frischen, schönen und sehr mitteilsamen Mann zu finden, welcher sich durch eine sehr eigenartige Verstandesrichtung aus­zeichnete und dessen Ansichten und Meinungen mit den damals allgemein üblichen liberalen Ideen durchaus nicht harmonierten. Dieser urwüchsige und kraftvolle Mensch imponierte ihm in hohem Maße und hat sogar seine politische Überzeugung in ein anderes Fahrwasser zu bringen vermocht.“

Eine andere Gremin-Spur führt uns zu dem Wladimir Odojewski, dem „russischen Faust“. Der 1804 geborene Schriftsteller, Musikkritiker und Naturwissenschaftler bildete das Bindeglied zwischen Puschkin und Tschaikowski. In den 1860er Jahren verkehrte Tschaikowski in dessen „Moskauer KünstlerZirkel“. Wenn Odojewski dort über „Eugen Onegin“ sprach oder über Glinkas „Iwan Sussanin“ („Ein Leben für den Zaren“), dessen Sujet von Kondrati Rylejew stammt, dann wird er von den wirklichen Umständen dieser Werke nicht geschwiegen haben. Hinter den eleganten Versen und Melodien Puschkins und Tschaikowskis erstand die Passionsgeschichte ihrer Generation. Diese Welt finden wir in Tschaikowski erster Oper wieder Wolkonski als Gremin, Rylejew als Lenski, die Wolkonskaja als Tatjana. (Auch bei Puschkin ist Lenski ein Pseudonym für Rylejew).

Für Gremins Arie „Ein Jeder kennt die Lieb auf Erden“ gibt es kein Vorbild bei Puschkin. Sie ist eine originale Erfindung von Tschaikowski und seinem Librettisten Konstatin Schilowski. Oder auch nicht? Hier beginnt die Spekulation. Puschkins nachdekabristische Dichtung ist häufig ein Rätsel, er hat sie mehrfach verschlüsselt und kodiert. Denn jede seiner Zeilen mußte von Nikolai I. persönlich genehmigt werden, und nicht alles wurde genehmigt. Manches blieb in der Schublade, manches verschwand in Archiven der „Ochrana“, der zaristischen Geheimpolizei. Darunter sollen sich auch die Schlußkapitel des „Onegin“-Romans befunden haben, die Puschkin angeblich verbrannt habe. Er habe Freunden daraus vorgelesen, heißt es. Vielleicht gehörte auch Odojewski dazu und hat später davon erzählt. Dann könnten sowohl die Figur des Gremin als auch seine Romanze Reminiszenzen von Puschkins verschwundener Dichtung sein.