„Reisende, wer ihr auch seid, hütet euch in Catania vor dem Wirtshause zum goldenen Löwen! Es ist schlimmer, als wenn ihr Zyklopen, Sirenen und Szyllen zugleich in die Klauen fielet.“
Goethe,
Italienische Reise
In den nicht enden wollenden Jahren vor seiner Fertigstellung war der Berliner Airport BER die Lachnummer der Republik und hatte durchgehend schlechte Presse. An letzterer hat sich auch seither praktisch nichts geändert, wenn wir nur die Berichterstattung unserer täglichen Morgenpresse, der Berliner Zeitung, zum Maßstab nehmen. Auch hatte unser Reiseveranstalter, Gebeco, expressis verbis gemahnt, nur ja drei volle Stunden vor dem Abflug nach Catania auf dem Airport zu erscheinen, um nicht – im Abflugprozedere steckengeblieben – den Start zu verpassen …
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Der freundliche Taxifahrer, der uns samt Gepäck zu Hause aufsammelt, ist, wie sich in dem rasch zwischen meiner Frau und ihm entspinnenden lebhaften Gespräch ergibt, ein schon seit 20 Jahren in Berlin lebender und die meiste Zeit davon Personen kutschierender Türke. Mittleren Alters. Im Hintergrund läuft Klassik-Radio. Darauf angesprochen lässt der Fahrer uns wissen, dass er dafür plädiere, den Empfang dieses Senders allen Autofahrern im Lande hinter dem Steuer obligatorisch vorzuschreiben: kaum ablenkende Wortbeiträge und den Blutdruck hochpeitschende schon gar nicht, dafür durchgängig beruhigende Musik – das könne der allgemeinen Fahrkultur und der Rücksichtnahme gegenüber anderen, nicht zuletzt unmotorisierten Verkehrsteilnehmern doch nur förderlich sein.
Zwischendrin plötzlich ein Signalton. Meine Frau: „Ach, Sie haben so ein Warndings vor Blitzern?!“ „Ja.“ „Sie wissen aber schon, dass das illegal ist …“ „Kann nicht sein!“ Das Gerät sei völlig legal im Internet zu kaufen. Da könne doch hinterher die Benutzung nicht verboten werden. Jedenfalls nicht bei den streng logischen Deutschen. Das Grienen des Fahrers verrät, dass er mit gewissen Feinheiten der hiesigen Rechtssetzung offenbar bestens vertraut ist.
An diesem Samstagvormittag, in Berlin herrschen noch Osterferien, ist der BER rasch erreicht. Dortselbst stehen wir Minuten später vor der Gepäckaufgabe wie die Kuh vorm neuen Tor. Kein Personal mehr am Schalter. (Unser letzter Flug muss schon eine Weile her sein.) Doch eine aufmerksame Servicekraft – dem Akzent nach migrantischer Herkunft – lotst uns im Handumdrehen über diese Hürde. Die anschließende Sicherheitskontrolle samt Körperscan ist ohne Warteschlange ebenfalls in wenigen Augenblicken absolviert. Damit haben wir nun knapp drei Stunden Zeit, den Duty Free Shop im Abflugbereich leerzukaufen.
Gibt es also gar nichts zu meckern? Mitnichten! Auf einer großdimensionierten Anzeigetafel sind zwar sämtliche Shops (unter anderem: ein T-Shirt von McCain zu 199,00 Euro), Bistros und zumindest die WCs des Terminals ausgewiesen, nicht jedoch die wenigen Trinkwasserspender, auf die man daher nur zufällig stößt. Und: Keine Medienständer mehr, aus denen man als Reisender, wie früher üblich, Tagespresse und einschlägige Magazine kostenfrei entnehmen könnte. (Beim Zwischenstopp in München werden wir dieses Services noch teilhaftig werden; sogar die aktuelle New York Times ist dort zu haben.)
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Catania – die Gründung der Hafenstadt im Osten Siziliens durch griechische Siedler wird auf das Jahr 729 vorchristlicher Zeit datiert. Für die bis dahin in der Region ansässige einheimische Bevölkerung hielt sich der damit verbundene zivilisatorische Fortschritt in Grenzen; sie musste sich ins unwirtliche bergige Umland zurückziehen, teils wurde sie versklavt.
Heute ist Catania nach Palermo die zweitgrößte Stadt der Insel, und was sich dem Besucher als historischer Stadtkern präsentiert, ist weitgehend spätbarocker Herkunft. Denn im bis zum heutigen Tage schwersten bekannten Erdbeben, das die Insel je heimgesucht hat, im Jahre 1693, war der Ort vollständig zerstört worden. Der Wiederaufbau wurde am Reißbrett und mit einem Netz rechtwinklig zueinander verlaufender, teils recht breiter Straßen geplant und realisiert. Daher eröffnen sich bei einem Bummel durch die Altstadt immer wieder weite Sichtachsen, die den Blick auf den 3400 Meter hohen Ätna freigeben. Doch die Dame – Ätna ist im Italienischen weiblich – ist launisch und umwölkt sich häufig. Es sollen schon Touristengruppen aus der Gegend wieder abgereist sein, ohne dass sie einen einzigen Blick auf die Kraterspitze hätten werfen können.
Zerstört worden ist Catania in seiner Geschichte mehrfach und keineswegs immer durch Naturgewalten. Friedrich II. von Hohenstaufen – dieser hochgebildete, kultivierte Kaiser gilt zu Recht als Solitär unter den mittelalterlichen Herrschern Europas – ließ die abtrünnige Stadt dem Erdboden gleichmachen und von 1239 bis 1250 am Ort das Castello Ursino errichten, eine wehrhafte Trutzburg zum Schutz des strategisch wichtigen Hafens. Das Kastell ist erhalten, doch liegt es heute 500 Meter landeinwärts. Der größte bisher registrierte Ausbruch des Ätnas im Jahre 1669 setzte immense Lavamassen frei, zerstörte die Stadt großenteils, umfasste das massiv gequaderte Kastell bis zu einer Höhe von etwa zehn Metern, füllte den Hafen und schob das Ufer einen halben Kilometer weit ins Meer hinaus. Der Lavaaustritt erfolgte einige hundert Meter unterhalb des Ätna-Kraters und war so massiv, das dieser schließlich einstürzte. Der Berg verlor dabei 300 Höhenmeter.
Dagegen war auch die Schutzpatronin Catanias, die Heilige Agatha, machtlos. Als Tochter der Insel und christlichen Glaubens hatte sie sich im dritten Jahrhundert der Vermählung mit einem Vertreter der römischen Nobilität verweigert und war darob den Märtyrertod gestorben. Unter anderem hatte man ihr die Brüste mit einer Zange entfernt. Beim Rundgang durch Catania begegnen wir der Heiligen des Öfteren: ihr Grab befindet sich im Dom der Stadt; an anderer Stelle in deren Weichbild als lebensgroße Skulptur mit Zange in der Hand, darin eingeklemmt eine ihrer Brüste, sowie in verschiedenen – Patisserien. Letztere offerieren mit „Minne di Sant‘Agata“ („Sankt-Agatha-Brüstchen“) ein in der Optik fast lebensecht wirkendes beliebtes Petit Four.
Diese Art blasphemischer Heiligenverehrung ist auf Sizilien im Übrigen kein Einzelfall. Die Schutzpatronin von Siracusa (Syrakus), die Heilige Lucia – auch sie sollte einem römischen Patrizier anheimgegeben werden – unterstrich ihre Verweigerung, indem sie sich eigenhändig die Augen ausriss und dem Aspiranten übersandte. Heute steht sie als Skulptur unter anderem über dem Portal des Domes der Stadt, in ihrer Linken eine flache Schale, in der ihre Augen gut zu erkennen sind. Und in den Auslagen der Feinbäckereien – „Occhi di Santa Lucia“ („Augen der Heiligen Lucia“), ein apartes Mandelgebäck. Doch jeder, der weiß, dass auch der rheinische Karneval katholische Wurzeln hat, wird sich darüber nicht wirklich wundern.
Auf der Piazza del Duomo – dem Hauptplatz der catanesischen Altstadt und vis-à-vis dem Dom – betrachten wir den Elefantenbrunnen. Den hatte der Architekt Giovanni Battista Vaccarini, ein Hauptvertreter des sizilianischen Barocks, 1736 parallel zum auch von ihm verantworteten Wiederaufbau des Rathauses von Catania, das sich wenige Meter hinter dem Brunnen erhebt, errichten lassen. Den Elefanten, in römischer Zeit und aus schwarzem Lavagestein gearbeitet, hatte Vaccarini ebenso in den Trümmern der Stadt (Erdbeben von 1693) gefunden wie den antiken ägyptischen Obelisken, den das Rüsseltier auf dem Rücken trägt.
Beim weiteren Schlendern durch die Altstadt passieren wir ausgegrabene Überreste eines römischen Amphitheaters. Und da die Quecksilbersäule in diesen letzten Apriltagen gegen Mittag die 20-Grad-Marke doch schon überschritten hat, ist das Zusammentreffen mit einem ambulanten Durstlöscher besonders angenehm – gegen sehr kleines Geld gibt es Frischgepresstes von Orangen oder Granatäpfeln, mit ordentlich Eiswürfeln. Der Händler hat sein Gefährt üppig geschmückt – nicht nur mit Zitrusgewächsen, sondern auch mit zahlreichen Marionetten. Diese Kunst hat eine lange Tradition auf der Insel. Uns rufen die Figuren Werner Tübke und sein großartiges Gemälde „Sizilianischer Großgrundbesitzer mit Marionetten“ von 1972 in Erinnerung.
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Siracusa – In diesem sympathisch-verschlafenen Provinzstädtchen knapp 60 Kilometer südlich von Catania (734 vor Christus als griechische Siedlung gegründet und heute mit kaum 120.000 Einwohnern) weist nichts mehr darauf hin, dass die Stadt vor über 2000 Jahren mal das Zentrum der antiken Welt war, so etwas wie das New York des Mittelmeerraumes. Mit einer halben Million Einwohner bereits im vierten vorchristlichen Jahrhundert …
Auf dem Weg zum Archäologischen Museum passieren wir die Wallfahrtskirche von Siracusa, ein brutalistisches Monster aus Beton, etwa 80 Meter hoch und einer Zitronenpresse nicht unähnlich. 1953 soll am Ort eine Madonna aus Gips geweint haben, als sie Zeugin einer schweren Geburt wurde. Die Geschäftsidee „Wallfahrtsort“ kam rasch auf, doch der Bau zog sich hin: Einweihung war erst 1994.
Im kleinen Park vor dem Museum blühen Kamelfußbäume.
Die Sammlung selbst verfügt auch über eine paläonthologische Abteilung, in der uns zwei gut erhaltene Skelette von nur etwa einen Meter großen Zwergelefanten an Erdzeitalter erinnern, in denen Teile des heutigen Siziliens eine Landverbindung zu Afrika hatten. Die Schädel weisen mitten auf der Stirn eine Öffnung auf, die der Verbindung des Rüssels mit dem übrigen Körper diente. Funde solcher Schädel, so mutmaßen Experten, könnten auf Sizilien siedelnde Griechen zu ihren Vorstellungen von den mythischen Kyklopen, den Riesen mit nur einem Auge mitten auf der Stirn, inspiriert haben. Odysseus blendete einen solchen, den Polyphem, und konnte so mit seinen Kameraden der Gefangenschaft in dessen Höhle und damit dem Tode entrinnen.
Im Archäologischen Park der Stadt streifen wir durch die Überreste des griechischen Amphitheaters aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, mit 140 Metern Durchmesser und 15.000 Plätzen eines der größten antiken überhaupt. Heutzutage im Sommer bespielt mit Aufführungen von Tragödien und Komödien des klassischen Altertums; in diesem Jahr auf dem Programm: Sophokles, Aristophanes und Homer.
Neben dem Park ist der frühere Marmorsteinbruch der Stadt zu besichtigen. In der Antike wurde unter Tage abgebaut, aber beim Erdbeben von 1693 stürzte die Deckschicht ein, so dass das Gelände heute wie ein aufgelassener Tagebau wirkt.
Im Park und im Steinbruch zahlreiche, teils monumentale Bronzen und andere Skulpturen einer Ausstellung des 2014 verstorbenen polnischen Bildhauers Igor Mitoraj, für dessen häufig antikisierende Sujets kein besserer „Rahmen“ vorzustellen ist.
Am Sonntagnachmittag herrscht auf in den Straßen und Gassen sowie auf den Plätzen der Isola di Ortigia, der Wachtelinsel, die über drei Brücken mit dem Festland verbunden ist und die das mittelalterliche Siracusa beherbergt, lebhaftes, quirliges Treiben wie in deutschen Innenstädten üblicherweise nur zur Rushhour. Geschäfte, Cafés und Patisserien haben geöffnet. Nach freien Plätzen an den Tischen auf den Trottoirs muss man suchen. Und über allem das schrille Pfeifen tausender pfeilschneller Schwalben oder Mauersegler.
In diesem Ambiente ruht die Kathedrale von Siracusa, ein einzigartiges architektonisches Monument, wie ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch. Der wurde im siebten vorchristlichen Jahrhundert als Athene-Tempel errichtet und ist seither durchgehend Heimstatt wechselnder Götter. Den Griechen folgten Römer und christliche Byzantiner, bevor das Gebäude unter arabischer Herrschaft als Moschee diente. Die anschließenden Normannen brachten den Katholizismus zurück, dem das Gotteshaus bis heute dient. Große Teile des ursprünglichen Athene-Tempels, etwa zahlreiche dorische Säulen, sind erhalten – als tragende Elemente in der Gebäudesubstanz außerhalb wie innerhalb gut sichtbar. Diese Säulen wurden schon nicht mehr in archaischer Bauweise, also am Stück, in Steinbrüchen aus dem gewachsenen Fels gehauen, sondern aus mehreren Segmenten, folglich in klassischer dorischer sogenannter Trommelbauweise errichtet. Spätere Erdbeben haben die Trommeln teilweise gegeneinander verschoben, weshalb seither Stützmauerwerk die Zwischenräume zwischen den Kolumnen ausfüllt. Ein Highlight an architektonischer Ästhetik ist diese Kathedrale allerdings nicht, doch wer nach historischen Wurzeln für eine Philosophie der Nachhaltigkeit suchte, hier würde er fündig.
Beim Rückmarsch zu unserem Reisebus, für den und seinesgleichen die Wachtelinsel gottseidank gesperrt ist, kommen wir am Brunnen der Arethusa – benannt nach einer Nymphe aus dem Gefolge von Artemis, der griechischen Göttin der Jagd – vorbei, der von einer kräftig sprudelnden Süßwasserquelle gespeist wird und mit seiner schon seit dem Altertum ummauerten Wasserfläche von etlichen hundert Quadratmetern einer Papyruskolonie ebenso Heimstatt ist wie einer ausgewachsenen Palme, diversen Enten und Gänsen sowie unter Wasser üppigem Grün nebst zahllosen Fischen. Das Besondere: der Brunnen befindet sich nur wenige Schritte vom Strand des Mittelmeeres entfernt. An dieser Oase ergötzten sich schon Cicero, Virgil und Ovid. In der Quelle sehen Fachleute ein wesentliches Motiv dafür, den Ort in antiken Zeiten für eine Stadtgründung auszuwählen.
Goethe übrigens machte um Siracusa einen Bogen, weil er zu wissen meinte, „daß von dieser herrlichen Stadt wenig mehr als der prächtige Name geblieben sei. Allenfalls war sie von Catania aus leicht zu besuchen.“ Es war nicht sein einziger Irrtum während seines Sizilien-Aufenthaltes.