28. Jahrgang | Nummer 9 | 5. Mai 2025

Schande über die Geschichtsvergessenen

von Maritta Tkalec

Die abgewählte Bundesregierung fügt der Reihe ihrer Fehlleistungen eine weitere hinzu, und – schlimmer noch – der neu gewählte Bundestag schließt sich schamlos an: Auf Empfehlung des Baerbock-Ministeriums wird der Botschafter Russlands vom offiziellen Gedenken zum Tag der Befreiung ferngehalten. Der Repräsentant des Landes also, das am schrecklichsten unter dem deutschen Raub- und Rassekrieg gegen die Sowjetunion gelitten hat.

Deutlicher kann man nicht zeigen, wie sehr die Befreiungstat der Roten Armee in der westlich geprägten deutschen Politik verachtet wird, welch ungeheuerliche Ausmaße die Geschichtsvergessenheit angenommen hat, wie groß die Kluft zwischen den Regierenden und den Regierten im Osten Deutschlands ist.

Der Tag des Gedenkens auf den Seelower Höhen hatte die Realitätsferne der politischen Dilettanten unübersehbar gemacht: Seit langem waren nicht mehr so viele Leute gekommen, sie überschütteten den russischen Botschafter mit Sympathie – er wurde als Stellvertreter der Millionen Familien empfangen, die während der deutschen Gewaltherrschaft und der Befreiung vom Nationalsozialismus Angehörige verloren haben.

Die Reaktionen der Leserinnen und Leser der Berliner Zeitung auf das Ansinnen, die Russen vom Gedenken an ihre Toten auszuschließen, dürfen als im Osten mehrheitsfähig verstanden werden, hier einige Zitate: „ein Armutszeugnis“, „hoffentlich ignorieren viele die AA-Empfehlung und ehren die Millionen Opfer in Würde“, „diplomatische Ungeheuerlichkeit und Inkompetenz“, „es fehlt absolut jedes Wissen und Fingerspitzengefühl“, man hofft auf „möglichst viel politischen Ungehorsam“. So ist es.

Möglich, dass eine Pfälzerin oder ein Rheinländer, Menschen, die jahrzehntelang die Gräuelgeschichten von den Russen hörten und die Anerkennung des 8. Mai als Tag der Befreiung durch Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 als Zumutung empfanden, die Entscheidung des Bundestags gutheißen. Dessen neues Präsidium arbeitet vollständig frei von ostdeutschen Stimmen.

Ostdeutsche, die jahrzehntelang mit Russen Handel trieben, sie als Erntehelfer auf DDR-Äckern zu schätzen wussten, die „Sojus“ bereisten, dort studierten, Erfahrungen mit der Gastfreundschaft, Feierlust und Kulturbegeisterung machten und zugleich das Ausmaß der Unzulänglichkeiten kennenlernten, sind offenbar in der Lage, die gemeinsame Geschichte und die heutigen, massiven Konflikte voneinander zu trennen – statt sie ausgerechnet am Tag der Befreiung unheilvoll zu vermischen. Über den Toten von vor 80 Jahren heutige Konflikte auszutragen, ist schändlich.

Den Russen wird unterstellt, sie wollten das Gedenken für antiukrainische Kriegspropaganda missbrauchen – zugleich missbraucht die hohe deutsche Politik das Gedenken für die Beleidigung der Angehörigen der Kriegsopfer. Nicht in unserem Namen, sagen Ostdeutsche. Und sicherlich nicht nur sie.

Dem Bundestag, der sich den grotesken Empfehlungen eines ideologisch verblendeten Auswärtigen Amts unterwirft, muss man nun vorhalten, was Marschall Georgi Schukow, Verteidiger Moskaus, Sieger der Schlacht von Stalingrad und Befreier Berlins, angesichts schwer erziehbarer Deutscher im Sommer 1945 sagte: „Wir haben sie vom Faschismus befreit. Das werden sie uns nie verzeihen.“

Die deutschen Verbrechen waren so ungeheuerlich, dass mit Blick auf den 8. Mai einzig grenzenlose Demut infrage kommt. Deshalb heißt es am 8. und 9. Mai 2025: Jetzt erst recht – auf zu den Gräbern und Ehrenmalen, mit Blumen und gern mit einem besonders guten, wenn auch derzeit schwer beschaffbaren Wodka.

Es bleibt dabei, auch eingedenk des Unheils, das Putin-Russland heute über die Ukraine bringt: Dank den Sowjetsoldaten für die Befreiung, die die Deutschen selbst nicht zustande brachten. Dank den Ukrainern, Kasachen, Russen, Belarussen, Kirgisen, Usbeken, Burjaten, Tadschiken, Turkmenen, Polen und allen anderen, die für die Befreiung Berlins ihr Leben gaben.

Berliner Zeitung, 23.04.2025. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.

 

Am 4. Mai (nach Redaktionsschluss) findet in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Sachsenhausen eine zentrale Gedenkfeier zur Befreiung vor 80 Jahren statt. Wie nach dem Erscheinen des übernommenen Textes bekannt wurde, hat der Gedenkstättenleiter die Vertreter Russlands und aus Belarus ausdrücklich für diese Veranstaltung als unerwünscht bezeichnet und ausgeladen. Sollten die Botschafter dennoch erscheinen, sollen sie „mit Sicherheitskräften“ vom Gelände entfernt werden. Im Herbst 1941 wurden innerhalb von zehn Wochen mehr als zehntausend sowjetische Kriegsgefangene in einer „Genickschuss-Baracke“ des KZ Sachsenhausen heimtückisch ermordet. Weitere dreitausend starben bereits auf dem Transport oder im Lager. Dieser Massenmord gehört zu den grauenvollsten Kapiteln in der Geschichte des Konzentrationslagers.

Die „Enkel“ der damaligen Mörder und Verbrecher laden heute die „Enkel“ der Ermordeten und Befreier vom offiziellen Gedenken aus.