Die Frau mit der Flöte beugt sich über die Empore. „Weiß jemand, wo der Schalter für die Heizung in der Organistenbank ist?“ Als müsse sie sich entschuldigen, denn draußen scheint die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und die Temperatursäule nähert sich der dreißig, schiebt sie die Erklärung nach. Für ihre japanischen Kollegin Beni Araki – in Antwerpen studiert und jetzt in Berlin zu Hause – sei der Platz auf der Bank für die Dauer des Konzerts ein wenig zu kalt. Die Antwort, die von den Kirchenbänken nach oben gerufen wird, sorgt für noch mehr Heiterkeit im voll besetzten Saale. „Sie müssen um die Orgel herumgehen. Hinten links ist ein Stecker. Den müssen Sie ziehen.“
Oh, ruft die Fragerin mit der Flöte erleichtert, sie habe angenommen, dass es dann dunkel werden würde, wenn sie es täte. Deshalb habe sie es unterlassen. Neinnein, das hätte schon seine Richtigkeit. „Ziehen Sie den Stecker, dann wird alles gut.“
Wenn es doch überall so einfach wäre.
Die kleine Orgel hat vor Jahren die Schweizer Botschaft im nahen Berlin gespendet, und wenn demnächst die Förderung durch die evangelische Kirche endet, wird es für die vierzig Dorfbewohner und den Verein Schweizerkolonistendorf Nattwerder e. V. schwer, das Kleinod zu pflegen. Wegen der Eingemeindung ist das Domizil der Orgel das älteste erhaltene Gotteshaus in ganz Potsdam. Doch die Landeshauptstadt hat viele Schlösser, Parks und Kirchen, die aufwendig erhalten werden müssen: Kulturhistorisches Erbe ist immer teuer. Selbst wenn es – wie dieses – noch immer für den ursprünglichen Zweck und für Konzerte genutzt wird und innen wie außen schlicht und ohne architektonischen Schnickschnack ist. Bar barocker Putten und Vasen, nur nackte Wände und eine Decke aus glatten Brettern. Dennoch.
Draußen vorm meterdicken kühlenden Gemäuer gibt es Gräber mit Kreuzen aus Gusseisen und Sandstein. Dazwischen bunte Tupfen – Maiglöckchen und andere Frühlingsblüher, jenseits des Zaunes scharren Hühner auf der Wiese und auf dem Feldweg weist ein Pfeil die Richtung: 1401 km nach Bern. Und bis Krauchthal sind es noch zwanzig Kilometer weiter.
Von dort kamen 1685 vierzehn Bauernfamilien, um deren Niederlassung Brandenburgs Friedrich Wilhelm im Kanton Bern nachgesucht hatte. Die Schweizer reisten auf Kosten des Kurfürsten per Schiff über Aare, Rhein, Nordsee, Elbe und Havel, anderthalb Monate waren sie unterwegs, ehe sie den Fuß in sumpfiges Brandenburger Land setzten. Gemeinhin gilt die Gegend als sandig und wenig fruchtbar, doch es gibt auch ziemlich nasse Ecken: das Oderbruch, der Spreewald und eben das westlich von Potsdam gelegene Golmer Bruch, heute Niedermoorgebiet geheißen. Im Frühjahr und im Herbst wurde es dort damals besonders feucht, wenn Hochwasser alles überschwemmte. Deshalb sollte es nach den Vorstellungen des Landesfürsten melioriert und für Ackerbau und Viehzucht erschlossen werden. Mehrmals waren er und seine Abgesandten beim Schultheißen von Bern und dem Stadtrat vorstellig geworden und hatten angefragt, ob man nicht zehn bis zwanzig Familien, „die in der Wirtschafft und Viehzucht wohl erfahren seyn“, bekommen könnte. Man wurde sich einig, denn die neutrale Schweiz hatte im Dreißigjährigen Krieg mit dem Handel von Getreide gut verdient. Die Bevölkerung war seither stark gewachsen, explosionsartig, um im Bilde zu bleiben. Deshalb sahen viele Eidgenossen für sich keine Perspektive und kein Land mehr im Land. Da kam ein solches Angebot aus der Ferne sehr recht. Am 16. September vor dreihundertvierzig Jahren schlossen die Berner Obrigkeit und der Kurfürst einen für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Vertrag. Die Reisekosten gingen, wie schon erwähnt, aufs Haus, ebenso die Aufwendungen für die Anschaffung landwirtschaftlichen Geräts, die Saat für die erste Feldbestellung, die Höfe zu Erbpachtbedingungen und keine Abgaben in den ersten dreißig Jahren. Aber, und das war die Krönung, in Brandenburg, aus dem dann Preußen werden sollte, galt bis 1807 die Leibeigenschaft. Den Schweizern jedoch wurde nicht nur der Bau einer eigenen Kirche und ein reformierter Prediger aus Bern zugestanden, sondern auch die Freiheit, jederzeit ihr Ränzlein schnüren zu dürfen, wenn ihnen die neue Heimat nicht gefalle.
Nur einer machte davon Gebrauch. Einer von 103 Kolonisten.
Allerdings sorgten die Immigranten für Unmut. Die Einheimischen fremdelten mit Kleidung, Sprache und Bevorzugung der neuen Nachbarn. Der unausrottbare Neid eben. Irgendwann erließ Potsdam Befehl, dass die Schweizer nicht zu beschimpfen seien, andernfalls setze es Strafen …
Es gibt nur einen asphaltierten Weg zur Wublitz, auf dem man nach Nattwerder gelangt. Links und rechts steht das Wasser in den Gräben, und die Gefahr, dass die von den Schweizern aufgeschütteten Dämme und Wege von Hochwassern hinweggespült wurden, wie dies vier Jahre nach ihrer Ankunft geschah, ist heute gering. Seit hundert Jahren sorgen ein elektrisches Pumpwerk und andere Schutzmaßnahmen für Sicherheit. Damals wurde das Golmer Bruch als letztes urwüchsiges Moor in der Nähe von Berlin unter Naturschutz gestellt. Was aber nicht verhinderte, dass im Jahre 1934 etwas mehr als siebzig Hektar für die Ablagerung von Berliner Müll freigegeben wurde. Dafür legte man sogar einen Stichkanal an, durch den die Schuten mit Schutt ihren Weg nahmen. In wenigen Jahren wuchs das Areal um etwa zwei Meter in die Höhe.
In der DDR wurde mit Pappeln aufgeforstet und die Wiesen wurden landwirtschaftlich genutzt, doch es blieben noch genügend „vernässte Bereiche“ übrig, über die weder Rinder noch Traktoren zogen. Fauna und Flora konnten sich üppig entfalten. Darum gehört das Golmer Luch inklusive Nattwerder mit seinen vierzig Bewohnern und der Kirche zum heutigen Landschaftsschutzgebiet „Potsdamer Wald- und Havelseengebiet“. Mit allen Vorzügen und Nachteilen, je nachdem, wie man die idyllische Abgeschiedenheit empfindet. Hier hat weder eine Buslinie ihre Endstation noch kann man in einem Gasthof einkehren. Kaffee und Kuchen zum Konzert kommen aus den umliegenden Häusern. Na klar, man ist darauf vorbereitet. Ach, die Milch … Und schon eilt eine Frau zum Kühlschrank daheim. Unterdessen kann man die Aushänge an der Wandzeitung studieren. Die Amtsverwaltung warnt vorm Verzehr von Pilzen und Wildfrüchten, der Boden sei aus der Deponiezeit noch kontaminiert. Der Rhabarberkuchen in diversen Varianten, das Stück für zwei Euro, schmeckt dennoch köstlich. Ist ja auch aus kultivierten Vorgärten auf dem höchsten Punkt des Luchs.
Dann beginnt das Konzert. Der Mann mit der Geige kommt unüberhörbar aus der Schweiz, und als er zwischendurch erzählt, er habe mit 19 in Basel mit Astor Piazzolla musiziert, da jubelt die Bankreihe vor mir. Schweizer, was sonst, und der eine von den Zuhörern ist Musiker, wie ich mitbekam, als er den Vertreter des Fördervereins vorm Konzert anbot, hier im kommenden Jahr zu spielen. So man es ihm erlaube.
Er habe, sagt Florian Kellerhals mit der Violine von der Empore, nächtelang nicht schlafen können, weil er mit dem weltberühmten Argentinier, Begründer des Tango Nuevo, auf einer Bühne gestanden habe. Und schon erklingt ein Tango, schluchzend und mit Schmackes. Und Alina Gabriel, die in Bukarest geborene Flöte, auch im wahren Leben verheiratet mit der Violine, schmilzt dahin. Die Schweizer vor mir bewegen ihre Häupter im Rhythmus der himmlischen Klänge. Weltmusik eben.
Ach, wie international kann es doch in der brandenburgischen Provinz zugehen. Und wie entspannt. Am 21. Juni soll es schon das nächste Konzert geben für Flöte und Orgel. Und Alphorn, natürlich. Und alles für wohlfeile 15 Euro Eintritt sowie Kaffee und Kuchen aus der Nachbarschaft.
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