28. Jahrgang | Nummer 10 | 26. Mai 2025

Beschleunigung und Aggression

von Stephan Wohanka

… quia tempus non erit amplius

(… dass hinfort keine Zeit mehr sein soll)

 

Offenbarung 10.6

 

Epochen lassen sich anhand ihrer zentralen Spannungsfelder beschreiben. Während etwa das 20. Jahrhundert größtenteils durch die Systemkonkurrenz von Kapitalismus und Kommunismus bestimmt wurde, geriet die Weltordnung nach 2000 in einen globalen Malstrom, der neben autoritären Versuchungen durch einen tiefgreifenden Beschleunigungszwang geprägt ist. Diese Dynamisierung geht mit wachsender Aggressivität einher – gibt es einen Zusammenhang; und wenn ja – wodurch?

Nicht Zuwachs sondern stationäre Reproduktion war bis vor etwa 200 Jahren der historische Normalzustand; mit der Industriellen Revolution setzte ein ungezügeltes wirtschaftliches Wachstum ein. Ohne hier die Details nachzuzeichnen, kam es zu einem raubbauartigen Ressourcenabfluss aus der Natur; Rohstoffe und die natürlichen Medien wurden mit allen jeweils verfügbaren Mitteln und Methoden ausgebeutet. Metaphern wie „[…] bevölkert die Erde, unterwerft sie euch […]“ im Buch Genesis 1,26-28 stehen dafür und bilden das Jahrtausende alte jüdisch-christlichem Denken ab, das im Menschen den Herrscher über die Schöpfung sieht. Karl Marx spricht von der „Natur“ als „Gratisquelle […] der materiellen Reichtümer überhaupt“. Der Schlagerstar Udo Jürgens widmete 1999 dem Thema das Lied „Die Krone der Schöpfung“, in dem es heißt: „Was kümmert uns die Zukunft, wir beichten im Gebet: / Verzeih’ mir meine Habgier, denn mein ist der Planet“.

Der für die Industrialisierung notwendige Zustrom von Arbeitskräften, das „Humankapital“, wurde durch die Binnenmigration gesichert; durch Agrarreformen und Mechanisierung der Landwirtschaft freigesetzte Bauern bevölkerten die Städte. Auch beschäftigungslos gewordene Handwerker und Heimarbeiter stärkten die „Arbeiterheere“. Die Bevölkerung wuchs signifikant dank verbesserter Hygiene, medizinischer Versorgung und Ernährung, was auch die Sterberaten reduzierte. Ebenso trugen Kinderarbeit und Frauenarbeit sowie Arbeitsmigranten aus dem Ausland zum Arbeitskräftetaufwuchs bei. Die Disziplinierung der Arbeiter war grundsätzlich eine äußere; durch den ökonomischen Zwang zur Lohnarbeit.

Das „ökonomische Prinzip“ dieser Industrialisierung lag neben der Produktion anderer, „besserer“ Produkte vor allem darin, die Prozesse, die Abläufe in der Zeit zu beschleunigen. Das enorme Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum hatte als Basis jeweils „Kraftmaschinen“, die über Mechanisierung, Automatisierung und schließlich Digitalisierung zu stets höherer Geschwindigkeit führten: Diese Entwicklung begann mit der Dampfmaschine und ihren „Ablegern“ wie Eisenbahn und Dampfschifffahrt und setzte sich über den Elektro- und Verbrennungsmotor, die zum Automobil, dem Flugzeug, den Maschinen in Industrie und Haushalten führten, bis hin zum Computer und seinen „Derivaten“ fort. Eine desgleichen immer rasanter werdende Beschleunigung zeichnete den Transport von Rohstoffen und Waren, von Finanz-, Kapital- und Kommunikationsströmen, den Austausch von Ideen und Bildern aus. Die Zivilisations- und Technikgeschichte kann auch als eine stetige Steigerung der Geschwindigkeit erzählt werden; diese drückt unserer Gesellschaft heute mehr denn je ihren Stempel auf.

Offenbar kann unsere Gesellschaft nur als „dynamische“ bestehen; wie ein Radfahrer – verlöre er an Tempo, kippte er um. Mehr noch – sie muss immer dynamischer, noch schneller werden; Treiber sind heute vor allem die schon erwähnte Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz. Es sind die von Paul Virilio beschriebenen „Echtzeit-Technologien“. Sie erzwingen weitere Beschleunigungsprozesse; mit allen Folgen für das ökologische (Un)Gleichgewicht auf unserer Erde … das globale Karussell dreht sich immer schneller; wie lange noch?

Zeitlich parallel zu den sich immer deutlicher abzeichnenden natürlichen Grenzen sprechen Soziologen von „Optimierungsgesellschaften“; so wurde das 21. Jahrhundert als „Zeitalter der Selbstoptimierung“ ausgerufen, weil individuelle Optimierungsbestrebungen ein bislang unbekanntes Ausmaß, Radikalisierung und öffentliche Aufmerksamkeit erlangten. Das ökonomische Prinzip des „Schneller-Besser-Werdens“ wurde in erheblichem Maße sozusagen in den Menschen „verlegt“. Um den Soziologen Ulrich Bröckling paraphrasierend zu zitieren: „Nach der fremdgesteuerten Disziplinierung folgt […] die selbstgesteuerte Optimierung.“ Das Paradox, das Selbst aus sich selbst heraus zu optimieren, will ich hier nicht weiter verfolgen. Vermutlich gehen gleich zu beschreibenden innere Konflikte in Teilen darauf zurück.

Diese Optimierung oder Streben nach (Selbst)Verbesserung kann einerseits zu (beruflicher) Leistungssteigerung und Selbstverwirklichung führen, aber auch zu permanentem Pflichtgefühl, zu einer Quelle ständiger Unzufriedenheit mit dem eigenen status quo, kann zur Selbstsabotage führen, denn übersteigertes Optimierungsstreben und Perfektionsdruck können das Gegenteil dessen bewirken, was beabsichtigt ist: Statt zu mehr Zufriedenheit und Selbstverwirklichung sind nicht selten innerer Kampf, Krampf und Selbstzweifel die Folge. Für diese Lage gibt es – anders als in der katholischen Kirche, die zwar in jedem Menschen einen Schwachen, Schuldigen sieht, ihm aber mit der Möglichkeit zur Beichte eine Abhilfe anbietet – keine Entlastungsmechanismen. Wir sind und bleiben „Sünder“ in Bezug auf alles, was uns (vermeintlich) nicht gelingt. Auch Prokrastination, das Aufschieben von Tätigkeiten, ist Ausdruck innerer Anspannung, die entsteht, weil ich mich mir selbst nicht gewachsen fühle.

Man arbeitet gegen sich selbst statt für sich. Andere Menschen werden als Konkurrenten wahrgenommen; an sich nichts Neues, aber mit Auswirkungen, die die „kapitalistische Arbeiterkonkurrenz“ so nicht kannte – nämlich im potentiellen und permanenten Widerstreit mit sich selbst, der ein erhebliches Autoaggressionspotential birgt.

Wenn der zeitgetriebene Mensch Selbstverbesserung nicht mehr als bewusste, flexible Entscheidung, sondern nur noch als inneren Zwang empfindet, schlägt sie – wie gesagt – in ein aggressives Selbstverhältnis um. Es kommt zu ihrer Pathologisierung und zu Aggressionen nach außen; anderen gegenüber. Geschieht das Vielen, summieren sich diese Frustrationen und es steigt der Level der gesellschaftlichen Aggression. Diesen Zustand haben wir heute erreicht – mit allen sozialen und politischen Folgen. Der Umgang untereinander wurde rücksichtsloser und brutaler; verbale Übergriffe im Netz nehmen zu; Beschimpfungen, Beleidigungen, Belästigungen, Mobbing, Drohungen namentlich gegen Politiker und engagierte Bürger sind an der Tagesordnung.

Der „autoaggressive Mensch“ verhält sich auch der Natur gegenüber immer „dynamischer“, das heißt auch aggressiver. Anstatt umwelt- und ressourcenschonender vorzugehen, bedient er sich deutlich zerstörerischer Beschaffungsmethoden von Rohstoffen. Fracking ist eine solche: Mit Hochdruck werden Wasser, Sand und Chemikalien in den Untergrund gepresst, um Erdgas und Öl freizusetzen mit der Folge von Grundwasserverschmutzung, Erdbeben, hohen CO2-Emissionen. Dieser Methode verwandt ist der desgleichen mittels chemischer Prozesse betriebene Ölsand- und Teersandabbau mit analogen Folgewirkungen.

In den Startlöchern steht der Tiefseebergbau, um mit gigantischen Maschinen seltene Metalle vom Meeresboden abzubauen; mit unabsehbaren Folgen für die Zerstörung von Unter-Wasser-Ökosystemen, mit Langzeitfolgen für marine Biodiversität. Wobei das Leben in den Meeren sowie schon durch Plastikvermüllung und infolge von Überfischung durch industrielle Fischerei mit dem Einsatz riesiger Fangnetze leidet, die Meeresökosysteme zerstören.

Um noch ein Stichwort zu nennen – das Mountaintop Removal Mining, also das Sprengen ganzer Bergspitzen, um an Erze zu gelangen. All das bewirkt ein weiteres Auseinanderfallen zwischen der Eigen- und Reproduktionszeit der Natur; potenziert die Umweltzerstörung …

Die Frage ist also: Wie kann der Mensch leben und sich auch (ver)bessern, ohne sich selbst und der Natur zu schaden? Der Schlüssel liegt wohl in einer achtsamen, selbst- und naturzugewandten Haltung; Optimierung als Möglichkeit, nicht als Zwang. Auch das Einbeziehen des Gegenpols der Dynamisierung in Gestalt der Entschleunigung, der Wiederentdeckung der Langsamkeit, wenigstens manchmal oder zu gewissen Zeiten, kann helfen. Desgleichen das Konzept des Zeitwohlstandes, das auf immaterielles Wohlergehen abhebt und auf das Ausmaß der „eigenen Zeit“ etwa in Form von Freizeit oder Muse kann Optimierungsdruck abbauen; auch die Selbstbestimmung über die Zeit als „Zeitsouveränität“, die die subjektive Qualität der gelebten Zeit im Auge hat.

Das den Text einleitende biblische Motto bezieht sich auf das Ende der Zeit, das Jüngste Gericht. Wir könnten auch ohne dessen Urteil bald im Fegefeuer schmoren – die Erderwärmung machte es möglich. Die Meldungen über deren Fortschreiten mehren sich.