28. Jahrgang | Nummer 8 | 21. April 2025

Wo der Blaue Reiter geboren wurde

von Mathias Iven

Rund 70 Kilometer südlich von München liegt der kleine beschauliche Ort Murnau. Seit Ende des 19. Jahrhunderts erholten sich dort nicht nur stadtmüde Sommerfrischler, sehr schnell begeisterten sich auch zahlreiche Künstler für das zwischen Staffelsee, Riegsee, Froschhauser See und Murnauer Moos gelegene Städtchen. Zu denen, die hier ihre Motive fanden, gehörten die zwei Künstlerpaare Wassily Kandinsky und Gabriele Münter sowie Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky. Für jeden Einzelnen von ihnen sollte Murnau in der Rückschau zu einem der wichtigsten Orte ihres Schaffens werden. So vertraute Gabriele Münter ihrem Tagebuch schon 1911 an: „Ich habe da nach einer kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhaltes, zum Abstrahieren – zum Geben eines Extraktes.“

Jawlensky und Werefkin hatten sich in Sankt Petersburg kennengelernt und kamen 1896 nach München. Die durch eine Rente ihres Vaters finanziell unabhängige Werefkin, ehemals Privatschülerin von Ilja Repin, mietete eine Wohnung in Schwabing, die schon bald zum Treffpunkt für zahlreiche junge Künstler wurde. Einer von ihnen war der ebenfalls aus Russland stammende Wassily Kandinsky. Gemeinsam mit anderen gründete er in der bayerischen Metropole 1901 die Künstlergruppe „Phalanx“ und die dazugehörige „Schule für Malerei und Aktzeichnen“. Dort traf Kandinsky wenig später Gabriele Münter, die seine Schülerin wurde und mit der er sich – obwohl er seit 1892 mit seiner Cousine Anja verheiratet war – im Sommer 1903 verlobte.

Fünf Jahre darauf hielten sich die beiden Paare zu einem ersten gemeinsamen Malausflug in Murnau auf. In den wenigen Wochen vollzogen vor allem Kandinsky und Münter einen entscheidenden Schritt in ihrer künstlerischen Entwicklung. Es entstanden Gemälde, die heute zu den bedeutendsten Werken des Expressionismus gehören und deren Stil gemeinhin als Kunst des „Blauen Reiters“ bekannt ist.

Im Sommer 1909 kehrten Kandinsky und Münter nach Murnau zurück und bezogen eine neu errichtete Villa in der heutigen Kottmüllerallee. Das stattliche Gebäude, das bei den Ortsansässigen schon bald nur noch das „Russenhaus“ hieß, wurde für die beiden bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs abseits vom Münchner Bohèmeleben zu einem wichtigen Rückzugs- und Schaffensort.

Am Neujahrsabend 1911 lernten Münter und Kandinsky in der Münchner Wohnung von Werefkin und Jawlensky den Maler Franz Marc kennen. Zwischen ihm und Kandinsky entstand nahezu spontan eine enge, mit einem intensiven künstlerischen Austausch einhergehende Freundschaft. Gemeinsam entwickelten sie in den folgenden Wochen die Idee für einen Almanach, der unter dem Titel „Der Blaue Reiter“ erscheinen sollte. Die Namensgebung betreffend erinnerte sich Kandinsky 1930 in einem Beitrag für die Zeitschrift Das Kunstblatt: „Den Namen ,Der Blaue Reiter‘ erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf [dem damaligen Wohnort von Marc – M.I.]; beide liebten wir Blau, Marc – Pferde, ich – Reiter. So kam der Name von selbst.“ Zugleich schränkte er aber an anderer Stelle ein: „In Wirklichkeit gab es nie eine Vereinigung ,Der Blaue Reiter‘, auch keine ,Gruppe‘, wie es oft irrtümlich beschrieben wird.“

Zum Höhepunkt der gemeinsamen Arbeit wurde die im Oktober 1911 im Murnauer „Russenhaus“ abgehaltene Redaktionssitzung für den Almanach, an der neben Kandinsky und Münter Franz und Maria Marc, August und Elisabeth Macke sowie Helmuth Macke und Heinrich Campendonk teilnahmen. Was den Inhalt und die Zusammenstellung dieser wegweisenden Publikation betraf, so äußerte Kandinsky dazu später: „Marc und ich nahmen das, was uns richtig erschien, was wir frei wählten, ohne sich um irgendwelche Meinungen oder Wünsche zu kümmern.“

Doch schon im Frühjahr 1912 kam es innerhalb des Freundeskreises zu Verwerfungen. Die Euphorie über die aufsehenerregende „Erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter“, die in der Münchner Galerie Thannhauser stattfand und bis 1914 in elf europäischen Städten gezeigt wurde, sowie das Erscheinen des Almanachs „Der Blaue Reiter“ im Mai 1912 im Piper Verlag, war bald verflogen …

Was blieb und bleibt, sind die Bilder – und vor allem die Motive. Wer heutigentags das mittlerweile zum Zentrum der Tourismusregion „Das Blaue Land“ gewordene Murnau besucht, kann sie auf einem knapp drei Kilometer langen Kunstspaziergang wiederfinden. Da trifft man auf Kandinskys Bilder der „Grüngasse“, der „Johannisstraße“ oder der „Treppe zum Schloss“. Man kann Gabriele Münters Bilder des „Russenhauses“ mit dem Original, dem in den Jahren 1998/1999 renovierten und seither der Öffentlichkeit zugänglichen Münter-Haus, vergleichen. Auf einer Wanderung ins Murnauer Moos trifft man vielleicht auf die an Monet erinnernden Heuhaufen, die Kandinsky und Münter in den Jahren 1908 und 1909 gemalt haben oder man entdeckt in der Umgebung Motive, wie sie von Werefkin und Jawlensky festgehalten wurden.

Das Autorenduo Gloria Köpnick und Rainer Stamm, zuletzt hervorgetreten mit einer Biographie des Sammlerehepaares Osthaus, hat für ein gerade erschienenes Insel-Bändchen insgesamt 46 Gemälde ausgewählt, die einen repräsentativen Einblick in die Anfänge des „Blauen Reiters“ vermitteln. Dieses kleine, wohl gestaltete und mit einem instruktiven Nachwort versehene Büchlein sollte man bei einem Besuch in Murnau unbedingt in der Tasche haben.

Gloria Köpnick und Rainer Stamm (Hrsg.): Murnau. Wiege des Blauen Reiter [Insel-Bücherei Nr. 1550], Berlin 2025, 89 Seiten, 16,00 Euro.