Diesmal zwei Große des Theaters: Rückkehr von Christoph Marthaler an die Volksbühne mit „Wachs und Wirklichkeit / Zum 100. Geburtstag – Gedenken an Peter Brook
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VB: Schönes Happening in ruinösen Zeiten
Irgendwie klemmt es am Klavier. Und der Tasten-Ritter, strahlend ganz in Weiß, steht auf, greift zum Mikro, tritt an die Rampe und haucht untertänigst ins Publikum: „Bitte haben Sie noch einen Moment Geduld, wir sind gleich wieder für Sie da.“ Zurück am Instrument, wieder ein paar Takte – der Schlager-Oldie „Rhythm is a Dancer“. Und wieder stockt es. Übers Wort „Rhythm“ kommt Strahlemann, der Pianist, einfach nicht weiter. Wieder Entschuldigung. Wieder „Bitte haben Sie …“ So geht das hin und her, bevor der Vorhang endlich hochgeht. Menschliche Funktionsstörung. Was für ein Sinnbild. Wie passend als Ouvertüre für Christoph Marthalers betörendes Melancholie-Stück „Wachs oder Wirklichkeit“.
Vor 33 Jahren begann an der Volksbühne mit „Murx den Europäer! Murx ihn, murx ihn ab!“ Marthalers Aufstieg in den Ruhm. Als einer der bedeutendsten und – indem er absurde Szenerien poetisch erweitert mit Musik und Gesang – zugleich stilprägendsten Theatermacher der Jahrtausendwende-Zeiten. „Murx“ blieb 14 Jahre im Spielplan. Die irritierende Verlorenheit der verzweifelt „Danke, danke für diesen guten Morgen“ singenden Figuren, derweil unerbittlich die Uhr tickt, die traf damals, anno 1993, den Nerv der Leute. Und träfe ihn wohl auch heute.
Nun ist der feinsinnige Gemütserforscher zurück mit einer neuen „ergebnisoffenen Wirklichkeitsbetastung“. Diesmal nicht in einem der von Anna Viebrock entworfenen traurig abgelebten Abstellräume. Sondern in einem Panoptikum, hell wie in den 1950ern. Mit Empore und vergoldeten Säulen. Im Hintergrund links ein Regal mit Archiv-Akten, rechts vorn die Fototapete einer hübsch alteuropäischen Stadt – aber unter Hochwasser. Soviel optisch untergeschobene Katastrophe muss sein.
Die überraschenderweise geradezu elegante Raumfantasie wird bevölkert von einer pittoresken Personen-Parade aus dem VIP-Bereich, lebensecht nachgebaut als Puppen, womit die Volksbühnen-Werkstatt ihrem exzellenten Ruf erneut gerecht wird. Mühelos erkennen wir Queen Elizabeth, Lagerfeld, Montserrat Caballé, Heino, Lady Di, Einstein oder Taylor Swift. Dazwischen geistert das leibhaftige Ensemble.
Und immer wieder rätseln wir für Momente, ob da nicht doch der eine oder die andere eine Puppe ist. Denn Hildegard Alex, Franz Beil, Magne Havard Brekke, Olivia Grigolli, Altea Garrido, Rosa Lembeck sowie das musikalische Leitungstrio Tora Augestad, Jürg Kienberger, Clemens Sienknecht, sie alle lösen sich nur behutsam aus ihrer Erstarrung. Und fallen urplötzlich immer wieder dahin zurück.
Solch Wechsel kennt auch das Leben – bis es endet. Zuvor jedoch umkreist es gern schwerwiegende Fragen: Lebt man noch oder schon nicht mehr – oder nicht mehr richtig? Was ist wirklich, was bloß Wachs? Und wer ist man? Was überhaupt ist das Ich? Philosophische Vexierspielchen, ganz leicht, wie nebenher. Lauter Endspielminiaturen. So ist diese Marthalerei auch ein (zugleich wohl privat gemeintes) Spiel um Abschied.
Freilich bei freundlich wehender Musik von Klassik bis Pop. – „Nimm mich mit in die Wirklichkeit, irgendwas nimmt mir die Sicht. / Nur durch einen Spalt seh‘ ich dieses wunderbare Licht…“, säuselt samtig sentimental Tora Augestad einen Schlager aus den Neunzigern; ein Motto des Abends.
Dann wieder kommt wie ein Chor von Engeln das Kollektiv: Mit Dionne Warwicks Hit „That‘s what friends are for“. Dazu schnappt jeder sich jemanden, gleich ob Wachs oder in echt, zum herzbewegend komischen Anschmachten. Da glüht „Freundseligkeit“; denn noch ist nicht alles verweht, versunken.
Natürlich, nicht alles ist Singsang. Durchsetzt sind die 100 Marthaler-Minuten mit knappen Schüben surrealer vertrackter Texte von Jürg Laederach, dem 2018 verstorbenen, hoch geehrten universellen Experimentalkünstler aus der Schweiz. Es sind Brocken aus „Das ganze Leben“, „Emmanuel“ oder „Flugelmeyers Wahn“, bei denen immer wieder die Sprache versackt. Eine Leerstelle entsteht, die fordert, dass wir selbst sie füllen. Oder sie provoziert kreatives Kopfschütteln. Also kabasurdes Abrett; kapiert?
Deutlich rätselhafter hingegen das Oratorium „Hitler in Pankow South“, von der Gruppe als dreiteiliges Lesestück von der Rampe runtergekippt. Wir ahnen mehr als wir wissen: Es geht um die unerwiderte Liebe eines Führers zu einer Dame aus dem Volk. Oder zum Volk. Immerhin, auch das eine Art Verschwinden.
Wachs, Wahn, Wirklichkeit – und dazwischen jeweils ein „oder“. Eine Meditation mit Worten und Tönen, meisterlich arrangiert als, ganz wichtig, schönes „Happening in ruinösen Zeiten“. Da klingt mehr vom Leben und von Zeiten als in vielen schwer lastigen Diskurs-Stücken unseres Gegenwartstheaters.
Und wenn da eine herrlich freche Alte (Hildegard Alex) immerzu an den Figuren, ob aus Fleisch oder Pappe, mit dem Staubwedel herumfummelt und „Nicht einschlafen!“, „Nicht einschlafen!“ brüllt, gilt das uns, dem Publikum. Doch darüber hinaus dem Dasein – bis wir endlich fort sind.
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Peter Brook: Theater als Ort, wo das Glück eine gute Chance hat
Eine Szene des Grauens: Als Peter Brook 1964 mit der Royal Shakespeare Company in London die Kollektiv-Improvisation „US“ als Protest gegen den Vietnamkrieg auf die Bühne setzte, ließ er seine Schauspieler lebende Schmetterlinge verbrennen. Es war wohl eine der maßlosesten, zugleich aufrüttelndsten politischen Aktionen, die seinerzeit das europäische Theater erlebt hat.
Dieser Moment markierte ein besonderes Wollen: Nämlich, Theater selbst zu einem Teil des Lebens machen. Brook meinte, durch die Adern des Menschen fließe zu viel Theatersirup, und im Schmerz klinge zu viel Theaterdonner mit.
Peter Brook gehörte in die Reihe derer, die das Welttheater in den vergangenen 100 Jahren mit entscheidenden Impulsen in neue Richtungen geführt haben. Er ist von ähnlicher Bedeutung wie Konstantin Stanislawski, Antonin Artaud, Giorgio Strehler und Jerzy Grotowski. Brook vermittelte auf unspektakuläre Weise eine Dimension, die das Leben nicht erklärte, sondern dessen Rätsel als Erlebnis darstellte.
Geboren wird Brook am 21. März 1925 in London als Sohn russischer Emigranten (er starb 2022 in Paris). Nach dem Studium in Oxford begann seine Theaterlaufbahn in Birmingham. Erfolgreiche Regie-Anfänge (mit Shakespeare) bescherten ihm bald ein Engagement in Stratford-upon-Avon sowie am Royal Shakespeare Theatre London, dessen Chef er neben Peter Hall wurde. Auch am Königlichen Opernhaus Covent Garden inszenierte er – von „Boris Gudonow“ bis „Salome“.
Alle seine Arbeiten hatten ausgesprochen provokativen Charakter. Ihm ging es darum, die Sinne einer überwiegend konservativ gestimmten Gesellschaft zu schärfen für die Zumutungen der Wahrheiten des menschlichen Wahns samt der daraus folgenden Gier auf Gewalt. Dabei imponierte er mit dem damals aufsehenerregenden Verzicht auf jegliche Dekorationen. Der „leere Raum“ (so auch der Titel seines bekanntesten Buches), der Dichter sowie die Schauspieler sind ihm alles. Bühnenbild, Requisiten, „Stil“ bedeuten ihm nichts.
Mit den Jahren jedoch setzte sich bei ihm die – im Gegensatz zu Brecht – eher wenig fortschrittsgläubige Einsicht durch, dass man den „realen Horror der Welt“ szenisch zwar durchaus erregend darstellen, doch daran nichts ändern könne. „Ich würde“, erklärte er, „nicht vom Prinzip Hoffnung reden, sondern vom Prinzip Hilfe.“
Mit dieser Haltung verabschiedete sich Brook 1970 von der konventionellen Theaterarbeit und gründete 1974 in den Pariser Bouffes du Nord sein „Centre International de Recherches Théatrales“. Das „Bouffes“ mit seinem verblichenen Glanz der vorletzten Jahrhundertwende galt seinem Herrn als Verfremdungskulisse für dessen sachlich konzentrierte, das menschliche Dasein nüchtern hinterfragende „theatralische Recherchen“. Die sind für ihn in etwa das Gleiche wie für Brecht, Brooks Bruder im Geiste, das epische Theater und seine V-Effekte im alten neubarocken Theater am Berliner Schiffbauerdamm.
Der Kommentar des fast 50-Jährigen bei seinem Antritt in Paris: „Früher fand ich das Bühnenleben aufregend, jetzt ist es mir nur noch ein Mittel, mir wichtige Themen ans Licht zu bringen.“ So wurde er zum Guru einer theatralischen Kommunikationsform, die – auch unabhängig von der Sprache – das Zeichenhafte der Schauspielkunst erforscht und (komödiantisch) demonstriert.
Auf den Tourneen seines Ensembles durch alle Welt hat Brook versucht, Grenzen zwischen Kunst und Existenz einzureißen. Das Stück „Die Konferenz der Vögel“, erarbeitet mit Taubstummen, fand in Nordafrika auf Marktplätzen und in Oasen statt, um auch einfachsten Menschen Theater als ein Stück Leben nahezubringen. – Seine Idee: „Wenn Theater es für einige Stunden schafft, die Zuschauer zu befreien von allem, was sie mit sich herumschleppen; wenn eine Gruppe ein Klima herstellt, das es erlaubt, Lebensprobleme zu erkennen und zu ertragen oder ihnen zu trotzen, dann hat Theater seine Aufgabe erfüllt.“ Als Ort, wo das Glück eine schöne Chance hat.
Deswegen ist er immer wieder auch zu Beckett („Glückliche Tage“), dem angesichts des unerträglich Absurden dennoch tröstlich tief Liebenden, und auch zu Shakespeare („Sturm“) zurückgekehrt. Weil er bei Beckett und besonders im letzten Werk des Elisabethaners das zu entdecken glaubte, wonach er sich selbst immer verzweifelt gesehnt hat: Verstehen und Verzeihen aus Leidenschaft und Liebe.
Peter Brook‘s Bücher gibt‘s gesammelt im Alexander Verlag Berlin.
Schlagwörter: Christoph Marthaler, Peter Brook, Reinhard Wengierek, Theaterberlin, Volksbühne, Wachs oder Wirklichkeit