28. Jahrgang | Nummer 8 | 21. April 2025

Gemeinschaft, Gesellschaft
und der Wert der Erzählung

von Stephan Wohanka

Die mentale und die intellektuelle Verfassung des Standorts Deutschland ist heute schon wichtiger als der Rang des Finanzstandorts oder die Höhe der Lohnnebenkosten.

Roman Herzog 1997

 

Im Blättchen 23/2024 erinnerte Erhard Crome an den verstorbenen Philosophen Peter Ruben. Dieser habe sich „mit zentralen gesellschaftstheoretischen Fragen beschäftigt […] die für das Verständnis des realexistent gewesenen Sozialismus und seines Endes zentral sind. Eines der sozialtheoretischen Probleme […] ist die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Unter Bezug auf den Soziologen Ferdinand Tönnies hob Ruben hervor, dass ,die Gemeinschaft durch die unmittelbare Kooperation in der Erhaltung des physischen Lebens via Produktion realisiert‘ ist, ,die Gesellschaft aber durch den Austausch, durch den Handel‘“.

Die Gemeinschaft zeichnet sich durch ein „Wir-Gefühl“ aus; bestimmt von Tradition und Nähe, die Familie, die Dorfgemeinschaft, den Freundeskreis und mehr derartige homogene Gruppen prägen. Es geht emotional, vertraut zu, in Maßen solidarisch; die Strukturen sind organisch gewachsen, oft – nicht nur – klein und überschaubar. Die Gesellschaft dagegen zeichnen zweckorientierte, rationale Beziehungen, funktionale Verbindungen aus, die die Arbeitswelt, Unternehmen und moderne Stadtgesellschaften prägen; Beziehungen sind eher unpersönlich, zweckgebunden, oft kurzfristig. Es dominiert das vertraglich geregelte Eigeninteresse, „künstlich“ geschaffene Regeln und Strukturen, die häufig groß und anonym sind. Rundum ein „Ich-Gefühl“. Tönnies sah die Moderne als den Wandel von der Gemeinschaft zur Gesellschaft.

Für Ruben stand fest, dass auch „die Nation zu jenen menschlichen Bildungen gehört, die wir unter den Begriff der Gemeinschaft subsumieren können. Die Nation ist […] keine Gesellschaft, sondern eine Gemeinschaft.“ Also eine organische, emotionale und kulturell zusammengehörige Einheit; mit gemeinsamer Geschichte, Sprache, Werten und Traditionen; die Nation also eine Art „erweiterte Familie“.

Dagegen stehen Auffassungen, wonach die Nation doch als Gesellschaft zu verstehen sei.

Sie wird als funktionale, vertraglich organisierte und durch Interessen geleitete Struktur verstanden, in der – klar – Individualismus und Eigeninteressen präsent sind, die jedoch durch staatliche Institutionen sowie durch Gesetze und Verträge eingehegt sind. Das abstrakte Konstrukt „Nation“ wird real zum modernen Nationalstaat, indem aus Individuen Citoyens werden: Zusammen mit dem Begriff „la Patrie“ (das Vaterland) bildet „le citoyen“ (der Bürger) eine während der Französischen Revolution verbreitete Idee ab, die eine gewaltige gesellschaftsbildende Macht entfaltete. (Markt)Wirtschaft, politische Organisation und Einbindung in internationale Gemeinschaften wie EU, UNO kamen hinzu. Nationalistisch oder kulturell argumentierende Konzepte betonen den Gemeinschaftsaspekt, während liberale, staats- und bürgerrechtliche Ansätze die Nation eher als Gesellschaft sehen.

Für den abgedankten Sozialismus kann der Spannungszustand zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft heute entspannt „sozialtheoretisches Problem“ genannt werden; für die „kapitalistische“ deutsche Nation ist er eine höchst praktische, politisch äußerst virulente Herausforderung! Für Tönnies war die „gegenseitige Bejahung“ Ausgangspunkt seiner Überlegungen und insofern können „Gemeinschaften“ auch als „Bejahungsgemeinschaften“ alias „Meinungsgemeinschaften“ verstanden werden, basierend auf geteilter Identität und ähnlichen (politischen) Überzeugungen. „Wutbürger“, „Querdenker“ und „Klimaleugner“ sind Beispiele, aber auch Fridays for Future oder „Omas gegen rechts“. Nota bene vermochten differierende Ansichten zur Coronaepidemie sogar Familien in feindselige Meinungsgemeinschaften zu spalten.

Meinungsgemeinschaften stehen für partikulare Ansichten; ihnen kann man analog eine (nationale) „Meinungsgesellschaft“ als Trägerin allgemein-gesellschaftlicher Ansichten gegenüberstellen. „Gute“, eine Mehrzahl der Bürger zufriedenstellende Politik kann wohl nur aus der Breite der Meinungsgesellschaft heraus gelingen. Und nicht nur die, sondern mehr noch die auf Zukunft, auf Veränderung abstellende Politik bedarf dieser Breite; das weitgehende Scheitern respektive die breite Abwehr der „grünen“ Klimaschutz- und Umweltpolitik demonstriert das im gegenteiligen Sinne exemplarisch.

Wie kann die Politik diese Breite herstellen? Kann das noch gelingen auf dem Hintergrund des schon apostrophierten antigesellschaftlichen Meinungspluralismus? Das – wenn überhaupt – gelingt nicht über den viel beschworenen (politischen) Konsens oder über Politsprech-Blasen wie „Man muss Mehrheiten gewinnen“. Ohne deren Bedeutung im politischen Alltagsgeschäft zu unterschätzen, ist das angesichts der die Gesellschaft zersetzenden Meinungsgemeinschaften eine recht simple Vorstellung.

Es bedarf mehr! Führten in der Vergangenheit größere gesellschaftliche Bestrebungen wie die Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts langfristige Veränderungen herbei, so geht es hier und heute um „Erzählungen“, neudeutsch „Narrative“. Das weltweit bekannteste ist das vom „Tellerwäscher zum Millionär“. So abgestanden es heute auf uns wirken mag – für Millionen von Immigranten war und ist es Verheißung und beschreibt den klassischen US-amerikanischen Traum, das eigene Glück aus eigener Kraft zu schaffen. Es machte das Land zu einer starken Nation. Möglicherweise macht Donald Trump diesem Leitbild jetzt den Garaus; und doch bleibt es ein starkes Symbol für Hoffnung und Selbstverwirklichung in vielen Kulturen.

Für die alte Bundesrepublik galt lange das Wort: „Die Kinder sollen es mal besser haben.“ Darauf konnten sich „alle“ verständigen, wodurch enorme soziale und politische Kräfte freigesetzt wurden. Es stand für Optimismus und Vertrauen in steigenden Wohlstand und eine verheißungsvolle Zukunft; es war die ideelle Basis des „Wirtschaftswunders“. Aber gilt es noch immer? Kaum; im Gegenteil: „Herkunft klebt wie Scheiße am Schuh“, sagt eine Frau, aufgewachsen als Arbeiterkind in Bautzen. Der Satz könnte auch in Gelsenkirchen gesagt worden sein … Wohlergehen, Zukunft, Wandel zum Besseren?
Eine andere deutsche „Erzählung“ mit erheblichen Folgen war diese: „… wir nehmen die Schwarze Null, weil die so eindeutig ist“, erinnerte sich Wolfgang Schäuble. Angela Merkel assistierte, brachte beflissen die sparsame „Schwäbische Hausfrau“ ins Spiel, und schon war die fatale Sparpolitik „erzählerisch“ legitimiert und von der Masse gläubig angenommen; eine Strategie, die unserem Land eine Vielzahl von Langzeitrisiken bescherte: Für Wirtschaft, Klima und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie passte zum Zeitgeist-Motto, wonach „Geiz geil“ sei.

Gerade wenn ideelle und politische Strukturen zerbröseln, wird der Ruf nach Erzählungen, gar „Metaerzählungen“ laut; Menschen sind „narrative Wesen“: „Wir denken und leben in Geschichten“, sagt der Kognitionswissenschaftler und Germanist Fritz Breithaupt. Er betont, dass Politik nicht nur auf Fakten oder rationalen Argumenten basiert, sondern vor allem auf Erzählungen. Parteien, Bewegungen und Regierungen konkurrieren mehr denn je darum, Menschen emotional anzusprechen, statt abstrakte Konzepte anzubieten. Das deckt sich mit dem seit der Jahrtausendwende festzumachenden emotional turn in den Wissenschaften.

Oben erwähnte „Erzählungen“ zeigen: Sie weckten unterschiedlichste Emotionen und verbanden Menschen. Sie stehen jeweils für die „Herstellung einer gemeinsamen Welt“; sie können sich dabei auch manipulativ oder gefährlich auswirken. Narrative helfen uns, die Welt anhand ihrer Botschaften zu ordnen; sie gehen als „Erzählformular“ – so der Literaturwissenschaftler Alfred Koschorke – der Politikgestaltung voraus.

Vermag die (mögliche) Regierung Merz ein derartiges „Formular“ zu finden? Willy Brandt hat es vorgemacht mit dem „Mehr Demokratie wagen“, verkündet in seiner Regierungserklärung 1969. Nie hat die Regierungserklärung eines deutschen Bundeskanzlers mehr Aufsehen erregt. Keine andere ist so in Erinnerung geblieben und beflügelte eine ganze Generation … und hatte damit das Zeug, negativ eingestellte Meinungsgemeinschaften aufzubrechen und eine kraftvolle Meinungsgesellschaft auszubilden, so dass laut dem Historiker Bernd Faulenbach ein „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ folgte. Angesichts der Herausforderungen, mit denen sich das Land konfrontiert sieht, in Erkenntnis der medialen Spaltung der Gesellschaft und der Ohnmachtsgefühle vieler, sollte eine „Merz-Erzählung“, so sie denn verkündet würde, das Niveau der Brandt´schen mindestens erreichen. Es muss wieder um positive Emotionen wie Zuversicht, Interesse, Inspiration gehen.