28. Jahrgang | Nummer 7 | 7. April 2025

Deutsche Russlandpolitik – eine allzu vertraute Sicht der Dinge …

von Wolfgang Schwarz

Wenn jemand eine voluminöse „Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990“ vorlegt und die Publikation unter den Titel „Sonderzug nach Moskau“ stellt, ohne Fragezeichen, wohlgemerkt, dann weckt das schon vor dem Öffnen des Buches Zweifel daran, ob der Autor seinem Gegenstand mit Objektivität und Unvoreingenommenheit zu Leibe gerückt ist. Denn als „Sonderzug nach Moskau“ und mit vergleichbarem Vokabular sind seitens westlicher Politik und Medien schon zu Zeiten des ersten Kalten Krieges konsequente westdeutsche Bemühungen – nach 1969 unter der Kanzlerschaft Willy Brandts – um ein verbessertes, weniger konfrontatives, mehr kooperatives Verhältnis zu Moskau diskreditiert und in die Nähe eines Verrates an der westlichen Wertegemeinschaft gerückt worden. Dieses Menetekel wurde auch nach 1990 nicht wenige Male bemüht. Ganz in diesem Duktus heißt es für die unmittelbare Gegenwart: „Seit dem 24. Februar 2022 steht die deutsche Russlandpolitik vor einem Scherbenhaufen. Ihre Strategien sind gescheitert. Ihre Grundüberzeugungen erschüttert.“ (So auf der Homepage des Verlages zur vorliegenden Buchpublikation.)

Genau diese Sicht der Dinge breitet Bastian Matteo Scianna, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt der Universität Potsdam, auf über 700 Seiten aus.

Dass sein berufsethischer Leitgedanke dabei in einem unbedingten Misstrauen gegenüber jeglichen außen- und sicherheitspolitischen Konzepten und Initiativen sowjetischer, dann russischer Provenienz besteht, macht Scianna bereits auf den ersten Seiten seines Buches deutlich, als er auf die Gorbatschowsche Vision vom „Gemeinsamen Haus Europa“ zu sprechen kommt: Selbst dieser Ansatz war nur ein perfider Versuch zur „Spaltung der transatlantischen Allianz. Ein Faktum, das in der deutschen Gorbatschow-Nostalgie oft untergeht“. Dass Gorbatschow bei seiner Idee ausdrücklich den Großraum von Wladiwostok bis Vancouver im Blick hatte und dass mit der im KSZE-Rahmen 1990 verabschiedeten Charta von Paris das Grundgerüst einer entsprechend angelegten gesamteuropäischen Friedensordnung bereits kodifiziert worden war, ist Scannia hingegen keine Erwähnung wert. Passte ja auch nicht ins Bild.

Wiederholt werfen Passagen des Buches grundlegende Fragen zur Quellenauswahl sowie zur Darstellungs- und Interpretationsweise des Autors auf.

So waren CDU/CSU und FDP in ihren Koalitionsvertrag von 2009 – auf Initiative und nachhaltiges Drängen des damaligen FDP-Vorsitzenden und nachmaligen Außenministers Guide Westerwelle – übereingekommen: „[…] wir [werden] uns im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden“. Der Vertrag datiert auf den 26. Oktober 2009. Am 28. Oktober erfolgte Angela Merkels erneute Wahl zur Bundeskanzlerin, und nur wenige Tage später hatte deren erster sicherheitspolitischer Berater im Kanzleramt, Christoph Heusgen, ein Gespräch mit offiziellen US-amerikanischen Emissären. In deren Notizen, datiert auf den 12. November 2009 und Jahre später von Wikileaks öffentlich gemacht, lässt sich nachlesen: Auf die „Frage, wie die Regierung die im Koalitionsvertrag vereinbarte Verpflichtung, den Abzug aller verbliebenen Atomwaffen aus Deutschland anzustreben, umzusetzen gedenke, distanzierte Heusgen das Kanzleramt von diesem Vorschlag und behauptete, dies sei ihnen von Außenminister Westerwelle aufgezwungen worden“.

(Ein Vierteljahr später, am 26. März 2010, hatte übrigens auch der Bundestag mehrheitlich einem gemeinsamen Entschließungsantrag von CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zugestimmt, in dem es hieß: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, […] sich […] im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten mit Nachdruck für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen“.)

Scianna hingegen fasst die Vorgänge um den Koalitionsvertrag, den er entweder nicht zur Kenntnis genommen oder geflissentlich unterschlagen hat, folgendermaßen zusammen: „Westerwelle forderte mehrfach einen Abzug der US-Kernwaffen von deutschem Territorium und somit auch das Ende der nuklearen Teilhabe. Dies rüttelte an den Grundpfeilern der NATO-Abschreckung und der strategischen Balance in Mitteleuropa – und war Musik in russischen Ohren. Das Kanzleramt wies eine Mitwisserschaft oder gar Unterstützung dieser Idee von sich: Der Vorstoß zeige nur, dass Westerwelle ‚die außenpolitische Matrix nicht überschaute‘.“

Nur ein Fauxpas? Oder doch eher Verfälschung? Und wie viele davon vertrüge eine wissenschaftliche Monographie, bevor sich der Autor selbst mit dem Label unseriös geadelt hätte?

Mindestens ein Geschmäckle hat es darüber hinaus:

  • wenn Scianna für die Zeit nach 1994 erklärt: „Die Neujustierung der Sicherheitsarchitektur in Europa konzentrierte sich immer mehr auf die NATO [sprich: deren Osterweiterung – G.M.], da andere Konzepte keine Dynamik entwickelten“ und wenige Absätze später „französische Pläne für einen gesamteuropäische Sicherheitsvertrag“ erwähnt, die von westlicher Seite, darunter vom Auswärtigen Amt („bewusster Versuch […], die ‚NATO politisch zu entwerten‘“), gezielt daran gehindert wurden, überhaupt Dynamik entfalten zu können.
  • wenn Scianna die am 24. März 1999 einsetzende Luftkriegsführung der NATO gegen Serbien – mit deutscher Beteiligung unter der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer – durch kommentarlose Widergabe von deren damaliger Begründung rechtfertigt: „Der außenpolitischen Richtschnur ‚Nie wieder Krieg‘ müsse nun, wie es Joschka Fischer in einer wegweisenden Rede ausdrückte, ‚Nie wieder Auschwitz‘ hinzugefügt werden.“, andererseits jedoch den angeblichen serbischen „Hufeisenplan“ als Beleg für einen drohenden Völkermord und als einen der maßgeblichen Hintergründe für Fischers Auschwitz-Parallele überhaupt nicht erwähnt und schon gar nicht die Tatsache, dass es sich dabei um eine Fälschung aus dem SPD-geführten Bundesverteidigungsministerium (der verantwortliche Minister hieß Rudolf Scharping) handelte. (Siehe dazu ausführlich Blättchen 6/2019.) Im Übrigen lässt Scianna auch Gerhard Schröders späteres öffentliches Eingeständnis, dass die NATO-Bombardements gegen Serbien völkerrechtswidrig waren, unter den Tisch fallen.
  • wenn Scianna zur Causa Irak schreibt: „Im Kern ging es bei der Irak-Problematik um die Fragen, ob das Regime von Saddam Hussein Massenvernichtungsmittel besaß und verbreiten wollte“, den Auftritt von US-Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003 hingegen unerwähnt lässt, bei dem Powell für den „Kern […] Irak-Problematik“ komplett gefakte Informationen präsentierte, um die Zustimmung des Gremiums zur bereits beschlossenen US-Invasion gegen Bagdad zu erwirken. Vergeblich, wie man ebenso weiß, dass es irakische Massenvernichtungsmittel nicht gab.

Weitere Beispiele ließen sich hinzufügen.

Das Auffinden all dieser kritischen Punkte wäre im Übrigen leichter zu bewerkstelligen gewesen, wenn dem Personenregister am Ende des Buches auch ein Sachregister zur Seite gestellt worden wäre. Darauf ist leider verzichtet worden.

Insgesamt ist diese Publikation so überflüssig wie ein Kropf. Die abermalige Ausbreitung von Interpretationen historischer Abläufe, die allein die im Westen verbreitete Auffassung stützen, auf das heutige Niveau der Konfrontation gegenüber Moskau hätte man schon nach Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, respektive dem (von Tbilissi vom Zaun gebrochenen) Georgien-Krieg von 2008, allerspätestens jedoch nach der Krim-Annexion von 2014 einschwenken müssen, braucht kein Mensch.

Und wer zu diesem Buch in der Erwartung greifen sollte, darin Anregungen zu finden, unter Vermeidung welcher politischen Entscheidungen, Weichenstellungen und Schritte der jetzt in vollem Gange befindliche Kalte Krieg 2.0 sich unter Umständen hätte vermeiden lassen und die mit der Charta von Paris intendierte gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur (unter Einschluss Nordamerikas) hätte errichtet werden können, dem wird das Irrige seiner Erwartung rasch bewusst werden …

 

Bastian Matteo Scianna: Sonderzug nach Moskau. Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990, C.H. Beck Verlag, München 2024, 719 Seiten, 34,00 Euro.