28. Jahrgang | Nummer 5 | 10. März 2025

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Carmen“ – Gorki Theater / „Biedermann und die Brandstifter“ – Berliner Ensemble / „Berlin is ja so groß… Ein Berlinical“ – Renaissance Theater

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Gorki: Man lacht, muss schlucken, aber auch weinen.

Die Männer liegen ihr zu Füßen, sie tanzt ihnen auf der Nase: Carmen. Personifizierte Männerfantasie, Ikone weiblicher Selbstbestimmtheit, kühn nonkonformistisch, gefährlich freiheitlich, traumschön und sexy. Was für ein Weib! Das diesmal ein Mann verkörpert, ein Roma-Mann. Ladylike, königlich. Es ist der schwedische Schauspielstar Lindy Larsson. Ein baumlanger Kerl, von oben bis unten hauteng in Rosa mit rosa Haaren und wuchtigem Bariton. Auch traumschön und sexy.

Sein/ihr unglücklich fanatischer Liebhaber, der brave Soldat José in knallgelber Uniform, ist die Schauspielerin Via Jikeli. Zierlich, schüchtern, drei Köpfe kleiner als Carmen; ein ergreifender, eindringlicher Mezzo. – Was für Gegensätze. Gräben. Aber auch (toxische!) Brücken. Eigentlich wie bei Georges Bizet, Henri Meilhac und Ludovic Halévy.

Regisseur Christian Weise hat das ikonografische Opernpaar Carmen-José in seiner queer-parodistischen, intelligent kurzgefassten Adaption des weltberühmten französischen Opernklassikers (1875) zwar antiklassisch besetzt, freilich ohne die dramatische Grundkonstellation aufzulösen.

Die Geschlechter der Darsteller, ihre Rollenbilder und Stimmfächer sind also verfremdend verschoben. Auch bei Nebenfiguren: Den rauen Kneipenwirt Lillias Pasta gibt Catherine Stoyan, Till Wonka stolziert als Torero dickbäuchig daher, Riah Knight, eine Romnia, trägt meterlange Blondzöpfe als gewiefte, leider hoffnungslos Verlobte Josés. Dennoch entwickelt sich erstaunlicherweise keine Chaosveranstaltung.

Vielmehr entsteht ein hochgradig unterhaltsames artifizielles Gesamtkunstwerk, das Tradiertes aus gegenwärtiger Sicht fein ironisch kommentiert. Gewisse Klischees werden gewitzt hinterfragt. Einerseits durch die subtile Darstellungskunst des Ensembles. Anderseits durch sarkastisch (per Video) auf die strahlend weiß ausgeschlagene Bühne hingeworfene Bemerkungen und Karikaturen im Graphik-Novel-Stil (die tolle Bühnenbildnerin Julia Oschatz). Dazu passend im Kontrast die farbenfrohen, der Commedia dell’Arte entsprungenen Kostüme von Lane Schäfer.

Das Innige, Tragische und auch Komische dieser im Kern emanzipatorischen Geschichte liest man – großes Kunststück! – aufregend ernst. Und zeitgenössischer als in manch einer Regietheater-„Carmen“ an bedeutenden Opernhäusern.

Dass Carmen gelegentlich aus ihrer Rolle heraus an die Rampe tritt und auf Englisch diverse antirassistische und feministische Verlautbarungen vorträgt, verfasst von Lindy Larsson und Riah Knight, das hätte man lassen können. Zumal die Übersetzungen auf den beiden Monitoren in den Ecken unleserlich sind. Stört aber auch nicht diesen wundersamen Hybrid aus Comic, Camp, Burleske, Kammeroper nebst einer Prise Drag-Show – heutzutage eine modische Pflicht, die Larsson mit faszinierender Grandezza performt. Ohne im souverän Triumphierenden das Schmerzlich-Menschliche der Figur zu verraten. – Man darf lachen, muss schlucken, aber auch weinen.

Natürlich auch: weil die Partitur mit ihrer Überfülle hinreißender Hits sooo schön klingt. Gerade auch im grandiosen, Modernes nicht verleugnenden Arrangement von Jens Dohle (Chanson, Schlagerhaftes, Latino-Rhythmen). Mit Steffen Illner (Kontrabass, Cello), Devan Jovanovic und seinem betörenden Akkordeon sowie Jens Dohle an Klavier und Schlagzeug. Der ganze vitale Bizet auf ganz eigene Art.

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Berliner Ensemle: Puppenlustig

Der Biedermanns klein Häuschen ist ein Kasperletheater, ingeniös an die Rampe gesetzt von Bühnenbildnerin Jessica Rockstroh. Es spielt die eine Hauptrolle in Fritzi Wartenbergs Inszenierung von Max Frischs Lehrstück „Biedermann und die Brandstifter“. Die beiden anderen Hauptrollen, das Ehepaar Biedermann, glänzen gleichfalls – mit Kathrin Wehlisch (Gottfried B.) und Pauline Knof (Babette B.). Als zwei tolle grelle Püppchen, passend in jede Rheinische Jecken-Parade.

Erstaunlich, wie die beiden bravourösen Schauspielerinnen Gliederpuppen-Mechanik und -Mimik vorführen zum Gaudi des Publikums. Und noch dazu das tuntige Dienstmädchen Anna mit den „kilometerlangen“ Beinen auf Riesenhacken-Pumps (Maximilian Diehle).

Doch worum geht es eigentlich im Stück? Oberspießer Gottfried, unentwegt dicke Zigarren paffend, öffnet sein Puppenstuben-Heim einem hereinstreunenden Gangster-Duo (Max Gindorff, Maeve Matelka). Das macht sich unverschämt breit, um in aller Seelenruhe das Abfackeln von Biedermanns Gehäuse vorzubereiten. Doch Herr B. lässt es entgegen aller Vernunft und Selbstachtung bereitwillig geschehen, hilft beim Legen der Zündschnüre, lädt die Brandstifter ein zu Speis und Trank. Aus Feigheit zum Widerstand gegen die drohende Katastrophe. Aus verlogener Großzügigkeit (und schlechtem Gewissen) des Wohlhabenden gegenüber Hungerleidern, selbst wenn sie Kriminelle sind. – Es ist irre: Immerzu steckt der Problemverweigerer seinen unheimlichen Holzkopf in den Sand. Bloß keine Ruhestörung. Wird schon nicht so schlimm …

Max Frisch (1911–1991) formte das Stück 1958 aus einem Hörspiel für die Bühne, sein Durchbruch am Theater. „Wer die Verwandlung scheut, mehr als das Unheil, was kann er tun wider das Unheil?“ Das ist die brennende Frage seines „Lehrstücks ohne Lehre“.

Das „ohne Lehre“ nahm die Regie ungebührlich ernst und konzentrierte ihre üppig sprudelnde Fantasie aufs pittoreske Ausstellen eines skurrilen Figurenpanoptikums. Da geht – große Klasse – wie verrückt die Post ab. Fragt sich nur: Wohin? – Nicht etwa ins Absurde, Abgründige, ins katastrophal Menschheitsdumme. Sondern ins Harmlose. Obwohl es am Ende ganz schlimm wird, bleibt alles puppenlustig. Dass da zum feurigen Finale ein läppisch rotes Tuch wedelt, stört nicht die Bespaßung.

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Renaissance Theater: Na wat denn, wat ist das für ne Stadt denn?

Golden Twenties, die Reichshauptstadt ist elektrifiziert und feiert die Moderne, die Zukunft, die neueste Technik und die Glühbirne mit einem gigantischen Spektakel: „Berlin im Licht“. Eine Woche lang sind nachts alle Wahrzeichen illuminiert, flimmern erste Leuchtreklamen, tobt lichterloh das Entertainment. Bertolt Brecht und Kurt Weill, mit ihrer „Dreigroschenoper“ eben erst in den Starruhm katapultiert, bekamen sofort den lukrativen Auftrag der Osram-Werke für eine Hymne auf Elektropolis:

„Das ist kein lauschiges Plätzchen, das ist eine ziemliche Stadt. Damit man auch alles gut sehen kann, da braucht man schon einige Watt. – Na wat denn, na wat denn, wat ist das für ne Stadt denn …“ Dichtet ironisch kalauernd B.B. Und Kurt gab dazu den schmissigen Ton.

Der Brecht-Weill-Hit „Berlin im Licht“ von 1928 passt prima als Auftakt für Guntbert Warns „Berlinical“. Sein Motto stiftet der Otto-Reutter-Klassiker von 1927: „Berlin is ja so groß“.

Und so kippt denn Warns heiteren Gemüts das im Liedgut der letzten 100 Jahre gesammelt Kaltschnäuzige, Grässliche und Geile, Sentimentale, Brutale, Witzige, das überhaupt Unkaputtbare der märkischen Location auszugsweise und mit Lust über die Revuetreppe.

Zum Ensemble, das dort auf der Treppe und davor sich tummelt, gehören Ivy Quainoo, Jaqueline Macauly, Hans-Werner Meyer, Jonathan Walz, Jakob Wenig und Instrumental-Allrounder Harry Ermer, der erstklassige Arrangeur. Die eingespielte Truppe, die Damen hübsch in Tüllwolken, die Herren gern hässlich genderfluid in Flatterhemdchen wie Nachtgespenster auf Stöckelschuhen, die Truppe weiß, wie gepflegte Show geht (abgesehen von der Kostümbildnerin). Man singt und bewegt sich gekonnt durchs Nummernprogramm der unterschiedlichsten Stimmungen und Stile von Schlager, Song, Chanson, Couplet, Rap und Pop bis Gassenhauer.

Freilich, von „Berlinical“, schon gar nicht von Musical, kann dabei keine Rede sein. Dafür braucht‘s wenigstens eine kleine Geschichte mit Geschichtchen. Doch der Chef des bunten Abends (sowie des Hauses) trompetet es selbst im Programmheft: „Lasst uns genießen!“; die Umstände draußen nerven genug. Tja, da hat er nun auch wieder Recht. Mithin werden harsche Hauptstadt-Dissonanzen nicht weiter vertieft, sondern flugs mit dem Federfächer beiseite gewedelt.

Also Leichtigkeit! Und ab durch die Hitliste. Man geizt nicht mit Ohrwürmern von Spoliansky, Mackeben, Knef, Kreisler oder Lindenberg bis Peter Fox, Pigor & Eichhorn, Pannach & Kunert. Sogar Grebe ist dabei mit seinem Brandenburg-Bashing. Und Beppo Pohlmann mit „Kreuzberger Nächte“. Die sind bekanntlich lang, lang, lang. Aber dann! – Was dann? Na nüscht weiter: Applaus, Applaus!