28. Jahrgang | Nummer 6 | 24. März 2025

Temporäre Fresken und temporäres Wohlgefühl

von Jutta Grieser

Der Abend neigte sich, die niedergehende Sonne warf ihre Strahlen durch die Mohrenstraße auf den Deutschen Dom und tauchte auch den halben Gendarmenmarkt in warmes Licht. Und diesen konnte ich tatsächlich diagonal überschreiten, denn wenige Stunden zuvor hatte die Obrigkeit der Stadt den vermeintlich schönsten Platz Europas wieder eröffnet. Wie einen Autobahnabschnitt. Sie zerschnitten mit großen Scheren ein Band und jubelten in die Kameras, als hätten sie selbst die 14.000 Quadratmeter neu gepflastert und die 21 Millionen Euro aus ihrem Privatvermögen bezahlt. Naja.

Arbeiter verluden die letzten Gitter und Zäune, die dreißig Monate den Platz verriegelt hatten, als ich über das neue Natursteinpflaster in die Leipziger Straße 54 eilte. Dort hatte das Museum der Dinge. Werkbundarchiv zur Vorstellung eines Buches eingeladen. Seit Sommer vergangenen Jahres ist die Einrichtung mit seinen etwa zwanzigtausend Objekten und dreißigtausend Dokumenten dort. Ein Immobilienfonds – die technische Umschreibung für Heuschrecke – hatte sie aus der Oranienstraße in Kreuzberg vertrieben. Die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Mitte im Osten gewährte Obdach und zeigte sich einmal mehr als gemeinnützig und geschichtsbewusst; sie hatte beispielsweise schon die Bauchbinde am Haus des Lehrers am Alex restauriert und veranlasst, dass auch Womackas Wandbild „Der Mensch, das Maß aller Dinge“ nicht gemeinsam mit dem Ministerium für Bauwesen der DDR in der Breiten Straße entsorgt wurde. Die WBM ließ das neunzig Quadratmeter große Kunstwerk von 1968 – bestehend aus hunderten emaillierten Kupferplatten – vorsichtig abbauen, sanieren und an einem ihrer Häuser an der Friedrichsgracht wieder anbringen. Dort wärmt es die Herzen der Betrachter, während die triste Leere, die am Ort des geschleiften Ministeriums seit 2013 herrscht, nur wütend machen kann. Wer weiß, welche Heuschrecke dort auf die weiteren Sprünge der Grundstückspreise in Berlins Mitte spekuliert.

Nur wenige Hundert Meter von Breiter Straße und Friedrichsgracht entfernt, stellten Claudia und Günter Höhne das Buch ihres im Vorjahr verstorbenen Freundes Lutz Brandt vor. Der vielseitige Künstler hatte gemeinsam mit Walter Womacka die künstlerische Ausgestaltung der Hauptstadt besorgt, als diese 1973 Gastgeber der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten war. Brandt machte sich auch einen Namen als Fassadenmaler – sein wohl berühmtestes Bild befand sich in der Warschauer Straße: die auf eine Brandmauer perspektivisch verlängerte Fassade eines Neubaus. Ein anderes Wandbild, das vermutlich letzte im öffentlichen Raum erhaltene, sah man durchs Fenster des Veranstaltungsortes: ein Bild in einem Kindergarten, das mit Motiven aus dem Struwwelpeter spielt. (Heute vermutlich unstatthaft und somit undenkbar: Heinrich Hoffmanns Buch ist als pädagogische Handreichung in Verschiss geraten: zu grausam, zu brutal … Ach, ihr Pharisäer, als wäre die Wirklichkeit eitel Sonnenschein und Harmonie.)

Brandt war ein Tausendsassa, wie die Höhnes sehr überzeugend ausführten. Die beiden Designexperten und -sammler aus Pankow waren mit ihm befreundet, pflegten den Einmeterneunzig-Mann in den letzten Jahren, sichteten seinen Nachlass und sorgten dafür, dass seine unzähligen Bilder, Zeichnungen, Skizzen, Modelle und andere Hinterlassenschaften in seriöse Hände gelangten. In Museen und Einrichtungen wie diese hier. Und sie sind noch immer in dieser mühsamen Sache unterwegs.

Das optisch opulente Buch gibt den Forschungsstand von 2024 wieder, als der Autor 85-jährig verstarb. Das Buch weist ihn auch als begnadeten Erzähler aus, nicht nur als originellen, witzigen Illustrator. Voller Stolz projizierte Günter Höhne Bilder an die Wand, die er erst in den letzten Wochen in der Unmenge des aus der Charlottenburger Wohnung geräumten Materials entdeckt hatte. Fotos aus DDR-Tagen zum Beispiel, auf denen – weil die meisten Hinterlassenschaften von Brandt weder Datum noch andere Daten aufwiesen – oft nur unbekannte Menschen zu sehen sind. Wie gut, dass Weggefährten und Zeitgenossen im Publikum saßen: Sie halfen mit Zwischenrufen.

Brandt war Mitte der achtziger Jahre nach Westberlin gegangen. Nicht im Zorn, er wechselte allenfalls in geografischer, nicht in politischer Hinsicht die Seiten. Zuvor hatte er professionell die Stelen an den Grenzübergangsstellen der DDR gestaltet wie den U-Bahnhof unterm Wittenbergplatz. Er verschönte Fassaden beidseits der Mauer, zeichnete hüben Einrichtungstipps für die Zeitschrift NBI und setzte Bronzefiguren vor eine Berufsschule drüben. Dann meldete er sich ab. Im Unterschied zu vielen DDR-Künstlern, die hart im Westen landeten und strauchelten, ging es für Brandt bruchlos weiter. 1985 malte er in Westberlin das Gemälde „Sprunghafte Abwendung“ – Höhne warf die Reproduktion an die Wand. Man sieht einen Mann, der von einer Kante in bodenlose Tiefe springt, mit den Armen rudernd, der rote Schal weht im Wind. Die Betonpiste, auf der er Anlauf nahm, ist von Gittern gesäumt, und die Männer im Hintergrund haben keinen Kopf. In einer Ecke erkennt man die Plattenbauten in Berlins Mitte. – Das Stadtmuseum Berlin erwarb das Bild nach dem Tode Brandts für seine Kunstsammlung.

Für die Weltausstellung 1992 in Barcelona besorgte Lutz Brandt die Ausgestaltung des deutschen Pavillons. Er arbeitete für den Filmarchitekten Ken Adams, der beeindruckende Kulissen für James Bond baute, für Dussmann und für Meermann in Berlin. Der eine wollte ein riesiges Blow-up für sein im Bau befindliches Kulturhaus in der Friedrichstraße. Brandt nahm eine Anleihe bei da Vinci, doch Dussmann durchkreuzte mit dem Rotstift auf dem Entwurf das Gemächt des vitruvianischen Menschen und schrieb NEIN daneben. Der Bauunternehmer hingegen ließ ihn wenige hundert Meter weiter einen Gaskessel gegenüber der künftigen BND-Zentrale verschönern. Brandt machte daraus eine italienische Rotunde. Hinter einer Säule stand ein Schlapphut und beäugte mit Fernglas die Umgebung. Das ging durch, der Baulöwe hatte nichts dawider. Der Nachbar auch nicht. Zumindest nicht so lange, wie der Kessel stand. Nun ist auch der weg.

Viele Brandt-Briefe und -Geschichten sprudelten aus den Höhnes heraus. Damit bewiesen sie, dass sie sich nicht nur mit dem Mann, sondern auch mit der Materie auskennen. Der Verweis aufs Buch erfolgte darum nicht aus Verlegenheit. Darin kann man einen Künstler entdecken, der zu Lebzeiten nahezu unbekannt war. Die Berliner kannten zwar viele Werke in der Stadt, wussten aber nicht, wer sie geschaffen hatte. Das lässt sich nun nachholen. Zumindest in dieser Form. Denn die Originale sind oft nicht mehr existent. Sie überdauerten leider nicht wie die Fresken früherer Meister.

Es war inzwischen Nacht, als ich über den Gendarmenmarkt beschwingt nach Hause lief. Am schwarzen Himmel hing ein wundervoller Vollmond. In den Nachrichten zu Hause zeigten sie Bilder vom Marsmond Deimos, die die ESA-Sonde „Hera“ gemacht hatte. Dieser Mond sah aus wie eine Kartoffel. Unser Vollmond überm sanierten Gendarmenmarkt und Brandts Bilder im Kopf – was für eine Verschwendung von Wohlgefühl.

Günter Höhne (Hrsg.), Lutz Brandt: Malstock, Reißbrett und Fassaden. Mein Berliner Künstlerleben. Verlag Neues Leben, Berlin 2024, 224 Seiten, 30,00 Euro.