Ostern 1925, am Karsamstag, fand in Elgersburg die Eröffnungsfeier des Kinderheimes der Roten Hilfe Deutschlands statt. Bei dieser Hilfsorganisation für politisch Verfolgte, zu deren Gründungsmitgliedern neben Clara Zetkin der Künstler Heinrich Vogeler gehörte, handelte es sich um die deutsche Sektion der auf Beschluss des Vierten Kongresses der Kommunistischen Internationale 1922 gegründeten MOPR (Internationale Hilfsorganisation für Kämpfer der Revolution). Die eindrucksvolle Demonstration durch den Ort, die während der Kundgebung am 12. April 1925 gehaltenen Reden, die bis 1928 praktizierte Betreuung der Arbeiterkinder aus Deutschland und Bulgarien sind in den anlässlich der Jubiläen 1985 und 2000 erschienen Veröffentlichungen beschrieben worden.
Ende 2008 stimmte der aus Thüringen stammende Historiker Gerd Kaiser dem Vorschlag zu, die wechselvolle Geschichte des Heimes in idyllischer Lage zu untersuchen. Schon während der Materialsammlung wurde ihm klar, dass das Ergebnis seiner Forschungsarbeit den Rahmen der zunächst beabsichtigten Überarbeitung der 2000 vorgelegten Broschüre „Zur 75-jährigen Geschichte des Hauses“ sprengen würde. Es sei an der Zeit – so sein erklärtes Anliegen – die „Gesamtgeschichte“ vom Kinderheim über die „Führerschule“ der Hitlerjugend, das Marine Kinderheim, das Kinderheim der Volkssolidarität, das (auch von Genossen der DKP und SEW genutzte) Erholungsheim der SED, die Nachwendegeschichte sowie den Umbau zum Hotel „Am Wald“ ausführlich darzustellen. Eine von Bezügen zu Jahrestagen befreite Studie könnte, hob Gerd Kaiser hervor, für die politische Bildungsarbeit in Thüringen und darüber hinaus genutzt werden.
Es war eine Herausforderung an den Autor, der zuvor mit Publikationen über den antifaschistischen Widerstand in Thüringen und die Thüringer Russlandfahrer hervorgetreten war, denn zahlreiche, in den von der SED initiierten Veröffentlichungen zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung im Bezirk Suhl ausgeklammerte Themen wie die Kontakte zum Barkenhoff in Worpswede, die Rolle der KPD(Opposition) vor Ort, das Schicksal der Erzieherinnen und Lehrer in Nazideutschland, im Exilland Sowjetunion und in der DDR galt es zu untersuchen. Weitere – durch die Wiedervereinigung hinzugekommene – Themen sind die Verhandlungen mit der Treuhand über die Besitzverhältnisse und der Umgang der PDS mit der ihr gehörenden Immobilie.
Der in der Region gut vernetzte Gerd Kaiser recherchierte in Archiven in Berlin, Meiningen und Moskau und interviewte, unterstützt von Elke Pudszuhn, der letzten Leiterin des Bezirksparteiarchivs der SED Suhl, viele Zeitzeugen. Nach einem arbeitsintensiven Jahr lieferte er das Manuskript an den Karl Dietz Verlag, der das Buch über das Heim in idyllischer Lage 2010 veröffentlichte.
Die Berliner Rosa-Luxemburg-Stiftung nutzte das 1995 der PDS zugesprochene und von 1990 bis 1997 als Hotel dienende Haus sporadisch für Treffen der Landesstiftungen. Mir bleibt das von Theodor Bergmann angeregte internationale Symposium „Die russischen Revolutionen von 1917“, es fand im März 1997 statt, in Erinnerung. Die Teilnehmer reisten aus China, England, Israel, Japan, Ungarn, den USA, Russland, Schweden, der Schweiz und der Bundesrepublik an. Da damals nicht alle Referenten und Gäste im Hotel untergebracht werden konnten, das Hotel Kaiserhof hatte geschlossen, der Mönchhof war ausgebucht, mussten Räume im nahegelegenen leerstehenden ehemaligen FDGB-Heim angemietet werden. Der einstige Luftkurort unterhalb der Elgersburg schien zu verfallen. Die Produktion von Hart- und Laborporzellan im Ort war lange vor der Wende bereits 1984 eingestellt worden. Die Villen am Berg standen leer, unermüdliche Wanderer, die auf Goethes Spuren unterwegs waren, strebten zur Hohen Warte, zum Schöffenhaus oder zum Kickelhahn.
Mit der neuen Autobahn von Erfurt nach Schweinfurth kam Leben in den abgelegenen, als Luftkurort wiederentdeckten Ort, der sich nun auf seine Tradition besann. Nach neunmonatiger Umbauzeit, während der auch das Wohngebäude des einstigen MOPR-Heimes abgerissen werden musste und nur der Turm-Trakt erhalten blieb, wurde das „Hotel am Wald“ Elgersburg in seiner heutigen Gestalt am 1. August 1998 eingeweiht. Wer dort einkehrte oder als Gast weilte, erinnert sich vielleicht an die im Traditionskabinett ausgestellten Fotos der mit der Villa verbundenen Ergänzungs- und Renovierungsbauten. Von 1990 bis 1997 befand sich die Ausstellung im Heinrich-Vogeler-Museum in Worpswede.
Es lohnt, den institutionellen und personellen Wechselbeziehungen zwischen den MOPR-Heimen Barkenhoff, Heinrich Vogeler vermachte das Haus 1924 der Roten Hilfe, und Elgersburg nachzugehen, den Stellenwert der Kinderheime in der Auseinandersetzung der KPD mit der – nicht nur in Thüringen mitgliederstarken – KPD(Opposition) zu beleuchten und an die Biografien der im Heim Beschäftigten zu erinnern. Erzieher und Reformpädagogen wirkten oft in beiden Einrichtungen, einige von ihnen flohen vor dem Naziterror in die Sowjetunion. Über ihre und die Familienschicksale der in die Sowjetunion gereisten Thüringer Facharbeiter informierte die in Elgersburg, Gotha, Meiningen und Suhl 2013 bzw. 2015 gezeigte Ausstellung „‘Ich kam als Gast in euer Land gereist…‘ Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933-1956“ und die 2017 von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen herausgegebene Broschüre „Der Vergessenheit entrissen“, die Lebensschicksale von 253 Russlandfahrern dokumentiert.
Es wäre zu wünschen – daher die Erinnerung an den Jahrestag –, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftungen in Thüringen und in Berlin an diese Vorarbeiten anknüpfen, denn die mit dem Heim verbundene Traditionslinie – gelebte Solidarität über Ländergrenzen hinweg und Unterstützung des Kampfes gegen die politische Reaktion – ist heute aktueller denn je.
Schlagwörter: Gerd Kaiser, Heinrich Vogeler, Kinderheim Elgersburg, Rote Hilfe, Wladislaw Hedeler