Autoren bestehen bisweilen aus gutem Grund darauf, dass ihre Texte durch den Hinweis ergänzt werden, wann das Manuskript abgeschlossen wurde. Wer weiß schließlich, ob nach drei Tagen noch gilt, was der Verfasser zum Zeitpunkt seines Schreibens für bare Münze genommen hatte. Gerade dieser Tage überschlagen sich die Ereignisse: Der USA-Präsident wirft seinen ukrainischen Amtskollegen (den er gewiss nicht als Kollegen gelten lässt) unter Schimpfkanonaden aus dem Weißen Haus, weil der sich gegen einen Waffenstillstand sträubt; Tage später droht er Russland aus gleichem Grund mit weiteren Sanktionen. Im unberechenbaren Wechsel kündigt er Dekrete an, unterschreibt sie theatralisch und setzt sie wieder aus, so dass selbst vormals eifernde europäische Transatlantiker „ein Stück weit“ vom Glauben abfallen. Hektisch werden Sondergipfel einberufen, die einen gigantischen neuen Rüstungswettlauf verheißen. Der wahrscheinliche neue Bundeskanzler dreht dafür Pirouetten und lässt nicht mehr gelten, was er im Wahlkampf vehement vertrat.
Auch unter Linken im weiteren Sinne brechen irritierende Gegensätze auf. Ein üblicherweise meinungsstarker Facebook-Bekannter äußert Ratlosigkeit angesichts der Stimmungen selbst in Bekanntenkreisen: „Immer mehr sind irgendwie ,gegen rechts‘ und gleichzeitig für Krieg.“ Geantwortet wird ihm, wer eine stärkere Verteidigung befürworte, sei deshalb noch kein Kriegshetzer. Und der russische Überfall auf die Ukraine, der schon zehntausende Soldaten auf beiden Seiten das Leben gekostet hat und die Zivilbevölkerung unerträglichen Leiden aussetzt, mache Gegenwehr dringend notwendig.
In der ersten Blättchen-Ausgabe nach dem unfassbaren Geschehen am 24. Februar 2022 bekundeten die vier damaligen Redakteure: „Ja, der Angreifer heißt Russland. Ja, Präsident Putin beging mit seinem Angriffsbefehl einen eklatanten Bruch des Völkerrechts. Daran ist nichts zu deuteln – und ihm ist durch die Völkergemeinschaft Einhalt zu gebieten. […] Es muss darüber gesprochen werden, wie wir aus diesem Krieg wieder herauskommen, bevor er seine derzeitigen regionalen Grenzen überschreitet.“ Das gilt nach wie vor.
Ungeachtet des eindeutigen Bekenntnisses trifft diese Redaktion verschiedentlich der Vorwurf, das Blättchen sei „zu verständig gegenüber Russland“. Aber wer auf Hintergründe und Vorgeschichte dieses Krieges verweist, den Anteil des „Wertewestens“ an der Verschärfung der Feindschaft kritisiert, zu Kompromissen und Verhandlungen aufruft und russische Standpunkte nicht verschweigt, rechtfertigt das Verbrechen nicht. Wenn man sich mit einem Kontrahenten verständigen wolle, müsse man sich mindestens einmal in dessen Schuhe stellen, verriet in einem Pressegespräch vor Jahren eine taiwanische Präsidentenberaterin. Den Willen zur Verständigung freilich vorausgesetzt.
Etwa zur gleichen Zeit betonte der damalige tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert nach der Einspielung eines Kommentars, es handle sich bei dem eben Vorgetragenen um die Meinung von XY, wohlgemerkt nicht um die der Redaktion. Das ließ auf deutliche Distanz schließen und blieb nicht ohne Kritik. Heute hört man in der gleichen Sendung vor jedem Kommentar, dass es sich dabei um die Meinung eben des Verfassers handle. Auch im Blättchen-Editorial heißt es: „Mit von Autorinnen und Autoren im Blättchen geäußerten Auffassungen und Meinungen stimmt die Redaktion nicht zwangsläufig überein.“ Kritiker lassen das oft nicht gelten. Aber Autoren sehen die Ereignisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln, sie haben unterschiedliche Erfahrungen und Kompetenzen – und Meinungen. Mit der Veröffentlichung ihrer Texte unterbreitet eine Redaktion den Lesern ein Angebot, gibt Denkanstöße, regt zu Austausch und Auseinandersetzung an, die gegebenenfalls auch in Widerspruch und Ablehnung münden kann. Unterschiedliche Sichten werden Sie auch in dieser Blättchen-Ausgabe finden. Nehmen Sie die Beiträge bitte als Angebote im beschriebenen Sinn!
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