28. Jahrgang | Nummer 4 | 24. Februar 2025

Doppelgänger zum Verlieben

von Frank-Rainer Schurich

Über Doppelgänger ist schon viel philosophiert worden. Dass „doppelt“ darin steckt, weiß aber jedes Kind, und in der Etymologie des Wortes findet man in der Tat zuerst bei Jean Paul 1796 den Doppeltgänger: „So heißen Leute, die sich selber sehen.“

Viele Dichter und Schriftsteller meinten gar, dass jeder Mensch auf der Welt einen charakterlich andersartigen Doppelgänger haben muss, damit ein Einzelner nach den Ergebnissen von zwei sich äußerlich gleichenden, aber in ihrer Wesensart verschiedenen Menschen von Mal zu Mal entscheiden kann, wie er sich am besten verhalten soll.

Das beschreibt aber nur die positive Seite der Medaille – die Selbsterkenntnis als Verhaltenstherapie. Die andere, dunkle Seite ist, dass Doppelgänger wegen der innewohnenden Verwechslungs- und Verdunkelungsgefahr in der Kriminalgeschichte schon immer eine herausragende Rolle gespielt haben.

Einen äußerst merkwürdigen Doppelgänger-Kriminalprozess überlieferte François Gayot de Pitaval. Seine „Unerhörten Kriminalfälle“, die ab 1734 erschienen, gaben einem ganzen Genre den Namen: Pitaval – als Bezeichnung für Sammlungen berühmter und interessanter Rechtsfälle.

Gayot de Pitaval  war außerordentlich belesen. Für seinen Doppelgänger-Fall bemühte er sogar zwei römische Schriftsteller: „Für die Ähnlichkeit in den Gesichtszügen beider“, schrieb Pitaval, „finden sich tausend ähnliche und noch auffallendere Beispiele in der Geschichte. Wir führen nur ein einziges an, das Plinius und Valerius Maximus erzählen. Sura fand nämlich in Sizilien, als er dort Prokonsul war, einen armen Fischer, der ihm vollkommen ähnlich war. Beide hatten genau dieselben Gesichtszüge, einerlei Größe und Dicke, die gleiche Art, sich zu bewegen, Stellung und Gang. Beim Sprechen und Lachen öffneten beide den Mund auf dieselbe sonderbare Art; selbst der Ton der Stimme war gleich, und beide stotterten.“

Der Fall, den Pitaval dem Vergessen entriss, ereignete sich 1557 in den Pyrenäen (Südfrankreich an der Grenze zu Spanien) und war einigermaßen verzwickt. Der noch junge Martin Guerre aus einer Familie des nordspanischen Landstrichs Biskaya, die sich etwas über den Bauernstand erhob, war nach einem Diebstahl auf der Flucht und verließ seine Angetraute Bertrande von Rols aus Artigues im Bezirk Rieux, die er im Januar 1539 geheiratet hatte – beide waren elfjährig. Acht oder neun Jahre wurde die Ehe nicht vollzogen, erst um ihr zwanzigstes Jahr geschah dies.

Nach der Flucht lebte Bertrande jahrelang wie eine guterzogene Witwe in Zurückgezogenheit – bis glücklicherweise nach etwa acht Jahren ihr Mann zurückkehrte. Als nach wenigen Jahren Gerüchte aufkamen, dass dieser heimgekehrte Martin Guerre, der mit Bertrande inzwischen zwei Kinder gezeugt hatte, ein Betrüger und nicht der richtige Ehemann sei, sondern nur eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem besitze, kam es zu einem Strafverfahren.

Trotz günstiger Aussagen für den Angeklagten – Bertrande und ihre Verwandtschaft bezeugten: „Ja, er ist es!“ –, wurde er in erster Instanz zum Tode verurteilt, da die Richter nicht überzeugt werden konnten. Die treue Ehefrau gab nicht auf und strebte eine weitere Verhandlungsrunde an. Diese wurde anberaumt, missglückte aber völlig.

Während der langwierigen Erörterungen in zweiter Instanz erschien unverhofft der wirkliche Martin Guerre, und so wurde das Geheimnis, soweit dies noch nicht geschehen war, vollständig gelüftet und durch das Geständnis des dann zum Tode Verurteilten Betrügers auch bestätigt. Vor der Vollstreckung des Urteils hielt der Richter zu Rieux am 16. September 1560 mit dem Verurteilten noch einmal ein Verhör ab, in dem dieser näheren Aufschluss über den Gang seiner Betrügerei gab.

Denn Arnauld du Tilh, so der Name des Betrügers, und der richtige Martin Guerre hatten gemeinsam im Krieg gedient. Martin hatte viel geplaudert, bei allen möglichen Gelegenheiten aus seinem bewegten Leben erzählt und selbst intimste Ehegeheimnisse nicht ausgespart. Durch einen Zufall geriet Arnauld de Tilh nach dem Krieg in den Heimatort Martins. Er hatte gar keine betrügerischen Absichten, sondern wunderte sich sehr, als ihn mehrere Leute als Martin Guerre erkannten und ansprachen!

Manch einer der alten Freunde fiel Arnauld sogar um den Hals. Das Spiel machte ihm immer größeren Spaß, und er ließ die ahnungslosen Bürger, wie er später zugab, „scherzend im Irrtum“. So ergab sich die Idee fast von selbst, aus diesem Irrtum auch ein wenig Kapital zu schlagen, und er entlockte Martins alten Freunden im Wirtshaus immer neue Details, Geschichten und Vorkommnisse, deren Kenntnis für sein neues Ich wichtig waren. Derart gerüstet trat Arnauld vor sein „Weib“, und Bertrande erkannte ihn als ihren Martin wieder.

Was war das für ein glückliches Paar nach so langer Trennung! Arnaulds Plan ging auf. „Seine“ Frau lüftete bereitwillig weitere Geheimnisse und Intimitäten, da er stets vorgab, durch die schlimmen Kriegsereignisse streckenweise an Amnesie zu leiden. Arnaulds doppelte Identität wurde immer perfekter.

Nach der Entlarvung des falschen Ehemanns interessierte allgemein die Frage, ob eine gute und gottgläubige Ehefrau nach acht Jahren Trennung in der Lage sei, ihren Gatten eindeutig zu identifizieren. Vermutlich war Bertrandes Wiedererkennungsleistung schlicht und einfach erlogen, vielleicht nach dem Motto: Mann ist Mann.

Arnauld du Tilh wurde an einem Galgen, der vor der Haustür Martin Guerres errichtet worden war, aufgehängt, sein Körper aber dann wieder abgenommen und verbrannt.

 

Mit „Doppelgänger[n] zum Verlieben“ hat sich Frank-Rainer Schurich bereits vor längerer Zeit einmal befasst – siehe Blättchen 11/2013.