von Frank-Rainer Schurich
Ein Doppelgänger ist ein Mensch, der entweder schizophren ist oder jemandem zum Verwechseln ähnlich sieht. Dieser Jemand kann als eineiiger Zwilling bekannt oder, im anderen Fall, unbekannt sein. Im letzteren Fall ist man irgendwann überrascht, eine ähnlich aussehende Person zu treffen, oder Verwandte, Freunde und Bekannte teilen einem mit, dass man einen Doppelgänger hat. Schlimm wird’s, wenn sich der Doppelgänger einen Platz im öffentlichen Leben erobert hat. Je nach Bekanntheitsgrad, Ansehen oder Aussehen dieser Person kann das nun wieder gut oder belastend sein.
Daneben gibt es das Doppelleben, die Doppelehe und das Doppelwesen. „Wir sind wie alle anderen Doppelwesen. Wir leben in einer historischen Zeit, die eines Tages vielleicht die Zeit der Doppelmenschen genannt wird. Ich habe immer ein Doppelleben geführt […]“, kann man bei Louis Aragons Roman „Die Viertel der Reichen“ lesen. Er hielt diese drei Sätze für so bedeutend, dass er sie noch einmal in seinem Roman „Spiegelbilder“ abdrucken ließ.
Wenn wir ohnehin Doppelwesen sind, scheint der Doppelgänger ja irgendwie auch etwas ganz Normales zu sein. Oder gar ein Segen, denn man kann mit ihm, vom eigenen Körper getrennt, auch einmal andere Lebenswege gehen. Oder mit ihr, aber dann haben wir es mit einer Doppelgängerin zu tun.
Selbst in der Kriminalistik spielt der Doppelgänger zuweilen eine Hauptrolle, und zwar in positiver als auch in negativer Hinsicht. Wird man versehentlich als Täter wiedererkannt, weil man so ähnlich aussieht, also ein Doppelgänger des wirklichen Verbrechers ist, hat man schlechte Karten. Viele Justizirrtümer beruhen auf dieser Verwechslung – vor allen Dingen dann, wenn die Strafrichter von psychologischen Hintergründen wenig oder keine Ahnung haben, was ja ziemlich oft vorkommen soll. Es gibt auch Fälle, in denen das Doppelgängertum bewusst und schöpferisch von Ganoven eingesetzt wird. Dann geht der Zwillingsbruder mal eine Zeitlang in den Knast, weil der andere noch Coups zu erledigen hat oder wegen Vorstrafen schlechter wegkommen würde.
Bei der Erarbeitung eines Phantombildes oder einer Personenbeschreibung tritt der Doppelgänger nun in einer Glanzrolle auf. Denn wenn ein Augenzeuge sagt, dass die Person, die am Tatort gesehen oder bei dem Verbrechen beobachtet wurde, wie ein Verwandter, Bekannter, Schauspieler oder Politiker aussah, zumindest eine große oder gewisse Ähnlichkeit mit einem solchen hat, dann leuchten die Augen des Kriminalisten regelmäßig, weil er im Sinne einer Gruppenbestimmung schon sehr verlässliche Daten besitzt, die zum Beispiel zu Fahndungszwecken gut genutzt werden können. Heikel wird’s nur, wenn es gar kein Doppelgänger war, sondern der Politiker selbst …
Doppelgänger von Politikern haben es oft schwer, da sie meistens wegen der grassierenden Verdrossenheit der Bürger wie ihre Originale in einen schlechten Ruf geraten. Dass Doppelgänger aber auch sympathisch sein können, beweisen einige Fälle aus der Kriminalgeschichte. Zum Beispiel der Fall des Hauptmanns Professor Guilio Canella aus Turin.
1923 hielt man auf einem Friedhof in Turin einen Mann an, ohne Ausweispapiere und ohne Erinnerungen, wer er sei und woher er komme. Er wurde in die Irrenanstalt von Collegno gebracht, sein Foto in der Zeitung veröffentlicht. Alsbald meldete sich Frau Canella, die ihren geliebten Ehemann, der an der mazedonischen Front als vermisst gemeldet worden war, erkannt hatte. Die beiden wurden gegenübergestellt, und nach einigen dramatischen Szenen unter Erledigung der vorgeschriebenen Formalitäten nahm sie ihn mit nach Hause. Das Zusammenleben gestaltete sich durchaus harmonisch, auch wenn Canellas Erinnerungen an verflossene Zeiten wie weggeblasen waren.
Das wäre bestimmt ein Leben lang gut gegangen, wenn nicht im März 1925 zufällig in einer alten Zeitung Frau Bruneri aus Florenz den – sagen wir hier schon mal angeblichen – Canella ebenfalls als ihren verschollenen Ehemann entdeckt hätte. Bis 1931 zog sich das Identifizierungsverfahren hin, denn beiden Frauen behaupteten, dass der auf dem Friedhof Aufgegriffene ihr Angetrauter war. Und dieser schwor Stein und Bein, Professor Canella zu sein. Die Sache flog erst auf, als er narkoanalytisch befragt wurde. Im Dämmerschlaf erzählte der Lügenmeister sein wahres Leben, denn er war tatsächlich der vorbestrafte Mario Bruneri aus Florenz. Im Wachzustand widerrief er zwar das Geständnis, aber Bruneri wurde am 1. Mai 1931 durch das Appellationsgericht zu Florenz zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, nach einem Jahr aber amnestiert.
Frau Canella war nicht nachtragend und nahm „ihren“ geliebten Mann zurück. Beide heirateten und lebten glücklich und zufrieden bis an das Ende ihrer Tage.
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