28. Jahrgang | Nummer 3 | 10. Februar 2025

Beethovens Prometheus, Pathétique und Egmont

von Gerhard Müller

Im Zentrum von Ludwig van Beethovens poetischem Kosmos steht der antike Halbgott Prometheus, der „vornehmste Heilige im Kalender der Revolution“ (Karl Marx). So tritt er auf in Goethes „Prometheus“Gedicht: „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst …“, oder in dem Poem „Prometheus Unbound“ (Der entfesselte Prometheus) des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley. Der aktualisierte Mythos begeisterte den jungen Beethoven. Nicht der Göttervater Zeus oder der biblische Jahwe, nicht der Volksheld Arminius, nicht der gewaltige Michelangelo oder der Kaiser Napoleon – nein, dieser unstete Feuergeist wird seine Leitfigur. In den Sinfonien und Sonaten in den Theatermusiken und in seiner Oper „Fidelio“ finden wir seine Spuren. Er war der antike Gott des Feuers, zugleich der Erschaffer und Lehrmeister der Menschen, Erfinder der Handwerke, Wissenschaften und Künste, ein mythisches Sinnbild nicht nur der Philosophie und der Literatur, sondern auch der technischen Revolution. Doch damit bringt man ihn gewöhnlich nicht in Verbindung. Er gilt als der Göttervater der Musik, hoch über den Wolken schwebend, den Blitz in der Hand und aller Erdenschwere enthoben, aber mit einem anonymen Schicksal ringend, dem er „in den Rachen greift“. „War er ein Zahnarzt?“ pflegte Reiner Bredemeyer ironisch zu fragen.

Beethoven schrieb im Auftrage der Wiener Oper das Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ op. 43, das am 28. März 1801 uraufgeführt wurde. Im antiken Gewande stellte er hier die technische Revolution auf der Bühne, denn die Geschöpfe des Prometheus, die Handwerker, Arbeiter, Forscher und Künstler, waren die Helden des Balletts. Natürlich präsentierten sie sich nicht in ihren rußigen Arbeitsklamotten, sondern in den stilvollen und eleganten Kostümen des Hofes. Beethoven lag nichts ferner, als eine musikalische Studie über die Lage der arbeitenden Klasse in Österreich zu komponieren. Aber Prometheus und seine Geschöpfe waren die Abgesandten und Boten dieser neuen Welt, die sich gerade bildete. Andernorts brachte er sie tatsächlich auf die Bühne, in dem Gefangenenchor seiner Oper „Fidelio“.

1797 komponierte Beethoven eine Sonate, der man später den Namen „Pathétique“ gab, die „Leidenschaftliche“. Sie beginnt mit zwölf Takten eines Instrumental-Rezitativs in Form eines Trauermarsches, dann wechselt das Tempo abrupt in ein rasches „Allegro molto“, das noch mehrmals durch Fragmente des Trauermarsches gestoppt wird. Das Melodram ersetzt das eigentlich verlangte Arioso. Das Melodram war damals beliebt, doch als dramatische Erzählung ungewöhnlich für eine Sonate. Es gehörte zum Theater. Joseph Haydn hat solche Melodramen geschrieben und der von Mozart bewunderte Georg Benda: „Ariadne auf Naxos“ oder „Medea“.

Beethovens Sonaten-Melodram war ein Rätsel – theatralische Musik, aber kein Text. Die „Pathétique“ von 1797 war ein erster Versuch, mit Tönen eine textlose Geschichte zu erzählen. Drei Jahre später folgte eine weitere Sonate mit einem Trauermarsch, die As-Dur-Sonate op. 26. Über dem dritten Satz steht „Marcia funebre sulla morte d’un Eroe“ – Trauermarsch auf den Tod eines Helden. Auch hier bleibt uns Beethoven die Auskunft schuldig, um welchen Helden getrauert wird. Napoleon konnte es nicht sein, der lebte noch. Wer aber dann?

Trauermärsche finden wir auch in der „Eroica“ und in der „Egmont“Ouvertüre, und da liegt vielleicht auch der Schlüssel. Vielleicht geht es nicht um Napoleon, sondern um Egmont, den literarischen Napoleon. Von Goethes Tragödie war Beethoven so tief beeindruckt, dass er aus eigenem Antrieb eine Bühnenmusik fast vom Ausmaß einer Opernpartitur schrieb. Wenn wir die Tragödie und die Partitur der „Pathétique“ nebeneinanderlegen, fällt die Übereinstimmung der literarischen Vorlage mit der Musik ins Auge. Sie beschwört musikalisch die letzte Szene der Tragödie: Auf dem Markt von Brüssel wird das Blutgerüst errichtet, Wachen führen Egmont zur Hinrichtung. Dumpfe Trommelwirbel ertönen, während Egmont in seinem letzten großen Monolog sein Schicksal und das seines Volkes beklagt. Klärchen, seine Geliebte, erscheint ihm im Traum als verklärte Freiheitsgöttin.

„Mit blutbefleckten Sohlen trat sie vor mir auf. Es war mein Blut und vieler Edlen Blut. Nein, es ward nicht umsonst vergossen! Schreitet durch! Braves Volk! Die Siegesgöttin führt dich an! Und wie das Meer durch die Dämme bricht, so brecht, so reißt den Wall der Tyrannei zusammen und schwemmt ersäufend sie von ihrem Grunde, den sie sich anmaßt, hinweg!“

Der Vorhang fällt, und eine „Siegessymphonie“ ertönt. Das war keine Beethoven’sche Erfindung. Goethe forderte sie ausdrücklich – zum Missvergnügen seines Freundes Schiller, dem das zu „opernhaft“ vorkam, doch Beethoven hat sie auch tatsächlich komponiert. Davor aber komponierte er die „Pathétique“, und im ersten Satz der Sonate ereignet sich genau das, was Goethe gedichtet hat: Langsam und schwer erklingen abgerissene Fragmente eines dumpfen Trauermarschs, wie in der Tragödie, dann eine lichte Wendung nach Es-Dur – Klärchens Erscheinung als Freiheitsgöttin, und schließlich die „Siegessymphonie“, der Allegro-Teil des ersten Satzes.

Die „Pathétique“ wäre also eine Egmont- Sonate? Philologisch lässt es sich nicht beweisen. Schlimmer noch – es ist ganz und gar paradox. Denn die Egmont-Musik entstand 1809, lange nach der Sonate von 1797. Die gebräuchliche „Chrono-Logik“ spottet unserer These. Die Kritik geht aber davon aus, dass immer am Anfang das Wort steht und die Musik ihr dann folgt. Aber das Wort konnte auch der Musik folgen; der Komponist suchte sich seinen Dichter.

Die Revolution steckt in dieser Musik. Goethes Tragödie erzählt die Geschichte eines beginnenden Aufstandes, und die erzählt auch Beethovens Sonate.1797 war das Ende der französischen Revolution. Ihre blutigen Taten – die Hinrichtung des Königspaars, der jakobinische „terreur“, der Sturz Dantons und Robespierres hatten die aufgeklärten Geister jenseits von Frankreich in tiefe Verwirrung gestürzt und ein bitteres tragisches Gefühl erzeugt. In der „Pathétique“ spiegelt sich dieses Gefühl, von dem die Parteigänger und Gegner der Revolution gleichermaßen ergriffen wurden. Beethoven bedient sich des neuen akustischen Raums und der neuen musikalischen Elemente, um ihm Ausdruck zu geben. Die Alberti-Bässe ticken, die Hammerschläge der Sforzati dröhnen, und abrupt beendet ein stürzender Oktavenlauf im zweifachen Forte die Sonate. Dem Volk, den Plebejern Brüssels, gab auch Goethe in seiner Tragödie ungewöhnlich viel Raum. Vier der fünf Akte beginnen mit Volksszenen. Acht Krämer, Schneider, Zimmerleute usw. nennt das Personenverzeichnis, weitere werden als Statisten verlangt. Das Volk sitzt sprachlos am Wirtshaustisch, der Aufstand wartet noch auf die Seinen.

„Wir waren nichts. Jetzt sind wir da“, heißt es in der „Internationale“, die 70 Jahre später gedichtet wurde. Beethoven sagt auf seine Weise Ähnliches. Das Finale der „Pathétique“ ist ein „deutscher Tanz“. Schattenhaft huscht er vorüber, trotzig und spöttisch.  Aus der Musikgeschichte in die Realgeschichte übersetzt – die Akteure der industriellen Revolution betreten die Bühne, nicht nur auf dem Theater, selbst in die klassische Sonate kommen sie hinein. Goethes Brüsseler Handwerker oder Schillers böhmische Räuber tanzen durch Beethovens Musik, und der Hut auf der Stange des Landvogts Geßler aus dem „Wilhelm Tell“ wird schon in der „Pathétique“ nicht mehr gegrüßt. Das Rondo-Finale der Sonate können wir hören als den Tanz der befreiten Geschöpfe des Prometheus.

Unmittelbar nach dem „Prometheus“-Ballett entstanden die sogenannten „Eroica-Variationen“ op. 35 für Klavier. „Sogenannt“ deshalb, weil die Eroica-Sinfonie erst danach komponiert wurde. Das Thema der Variationen wie das Finale der „Eroica“ stammen aus der Prometheus-Musik. Die Sinfonie sollte Napoleon gewidmet sein, dem modernen Prometheus. Daraus wurde nichts, als Napoleon sich selbst zum Kaiser machte. „Ist auch dieser nur ein Mensch!“, soll Beethoven enttäuscht ausgerufen haben. Das Titelblatt der Partitur zerriss er, nicht die Partitur. Merkwürdigerweise teilte Napoleon tatsächlich das Prometheus-Schicksal. Wie Zeus den antiken Prometheus an die kaukasischen Felsen schmiedete, so fesselten die triumphierenden Liliputaner Europas Napoleon an die Felsen von St. Helena.

Das Prometheus-Thema des Balletts wie der Variationen und der Sinfonie besteht aus zwei gegensätzlichen Charakteren, einer schreitenden Bass-Linie in Oktaven und einem ekstatischen Tanz. Strukturiert wird beides durch die schon aus der Mondschein-Sonate bekannten „Hammerschläge“. Die Bass-Linie ist das noch ungestaltete Grundmaterial, aus dem das zweite und eigentliche Thema geformt wird. Er erinnert an die „Deutschen Tänze“ des zweiten Figaro-Aktes, in dem Figaro die erotischen Eskapaden des Grafen Almaviva verspottet. „Will das Gräflein den Tanz mit mir wagen“, singt Figaro. (il contino – das Gräflein, nicht „der Graf“!) Bei Beethoven wird daraus die deutsche Carmagnole.

Die 15 Variationen sind eine Art Genesis. Zuerst vernehmen wir nichts anderes als ein ungeformtes harmonisches Material und die Hammerschläge, nach und nach entsteht daraus ein kunstvolles musikalisches Gebilde. Die Akkord-Schläge stoßen ein Tor auf, durch das die Geschöpfe des Prometheus in das Reich der Freiheit drängen. Der Tanz steigert sich zum Hymnus.

„Wem meine Musik sich verständlich macht, der muss frei werden von all dem Elend, womit sich die andern schleppen“, lautete Beethovens Credo.

Der erste Teil des Textes zu Beethoven erschien im Blättchen, Heft 2/2025.