Feuchter Schnee, gemischt mit Regentropfen, fällt vom Himmel und bildet Matsch. In der Kneipe im Felsenkeller ist nur ein Tisch besetzt, ein langer zwar, aber eben nur einer. Das Holzkrokodil überm Tresen schaut traurig auf das gerahmte Plakat an der Wand: „Hormone. Vorkommen Eigenschaften Wirkungen. Auskunft an Alle! Von Dr. Eduard Strauss. Vortrag im Felsenkeller 23. März 1928 – 20 Uhr.“ Nun, wir schreiben den 9. Januar 2025, und Sören Pellmann will im Versammlungsraum über Naumanns Gaststube auch keinen Vortrag halten, sondern unter der Überschrift „Eine friedliche Welt ist möglich“ diskutieren. Zwei Mal schon hat er hier, im Leipziger Südwesten, ein Direktmandat für die Linken gewonnen. Am 23. Februar will er es zum dritten Male holen. Und damit – nötigenfalls – seiner Partei über die Fünfprozent-Hürde helfen. Als Silberlocke ist der gebürtige Leipziger noch zu jung, doch seine Chancen sind größer als die der beiden Veteranen in Thüringen und Rostock. Sagen die Umfragen. Aber was besagt das schon.
Der Grundschullehrer Pellmann ist vom Freistaat Sachsen freigestellt, solange er im Bundestag sitzt. Und er ist der Hoffnungsträger der sächsischen Linken. Er steht an der Spitze der Landesliste und erkennbar mit beiden Beinen im Leben. Insbesondere „habe er das studentisch geprägte Milieu für sich gewonnen“, konzedieren ihm sogenannte neutrale Wahlforscher (Tagesspiegel vom 18. Januar). Doch das studentische Milieu scheint Matsch nicht zu mögen: Nur wenige Leute steigen über die gewundene Treppe aus der Kneipe hinauf ins Obergeschoss. Erst kam Pellmann die auf vielen Plakaten in ganz Leipzig angekündigte Gesprächspartnerin abhanden – Daniela Dahn war daheim unterm Weihnachtsbaum gestürzt und hatte sich mehrfach die Hand gebrochen –, und nun noch dieses Mistwetter.
Die Organisatoren der Veranstaltung geben noch ein akademisches Viertel dazu. Und tatsächlich: 18.15 Uhr sind nur noch ganz wenige Stühle frei. Auf das „studentisch geprägte Milieu“ scheint Verlass. Und auf die Alten sowieso.
Pellmann entschuldigt die Abwesenheit der angekündigten Schriftstellerin, sie werde nunmehr am 4. Februar kommen und er mit ihr über das neue Buch* sprechen. Als Ersatz, das liegt beim angekündigten Thema nahe, präsentiert er einen Militärhistoriker aus Potsdam, der im vergangenen Jahr ein dickes Buch** über den Ukrainekrieg veröffentlicht hat. Beide – der Bundestagsabgeordnete und der Buchautor – brauchen nur kurze Zeit, um miteinander warm zu werden. Es stellt sich bald heraus, dass beide der gleichen Partei angehören, doch der Mann ohne Mandat urteilt ziemlich kritisch über die schwammigen friedenspolitischen Bekundungen der Linken in der Vergangenheit und erntet sogar lauten Applaus, als er fordert, die Partei müsse „rebellischer“ werden. Womit er nicht unbedingt das Werfen von Schaumtorten meine.
Pellmann verzieht keine Wimper hinter seinen dicken Augengläsern, sinniert, stimmt zu. Alle seine Antworten auf Fragen aus dem Auditorium wie auf der Bühne sind überlegt, substanziell, keine Stanzen aus einem Wahlprogramm. Auskünfte wie Auftritt erklären, warum er 2021 das dritte und einzige Direktmandat außerhalb Berlins für die Linke holte und damit deren Einzug in den Bundestag sicherte. Und sie begründen auch überzeugend, weshalb er tapfer wie trotzig bei der Fahne blieb, als sich Sahra Wagenknecht und einige Anhänger auf den Holzweg begaben und die Fraktion spalteten. Das Strohfeuer, das sie entfachte, wird vermutlich bald verlöschen. Das sagt Pellmann aber nicht, er äußert kein abfälliges Wort über die Abtrünnigen. (Drei Tage später wird man ihn in der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde bei der traditionellen LL-Demo treffen, Sahra Wagenknecht und Gefolge hingegen sieht man nicht. Wie eben auch andere frühere Mandatsträger der Partei nicht. Dafür viele junge, unbekannte Gesichter.)
Seit fast einem Jahr nun führt der 47-jährige Sören Pellmann die zur Gruppe geschrumpften 28 Abgeordneten – gemeinsam mit der elf Jahre jüngeren Heidi Reichinnek, geboren im Osten, sozialisiert im Westen, mit pädagogischem Hintergrund wie Pellmann, freigestellt von der evangelischen Jugendhilfe in Osnabrück für die Arbeit im Bundestag. Im Unterschied zu anderen Abgeordneten, das aber nur nebenbei, haben beide ihr Studium abgeschlossen und auch eine Berufspraxis gehabt, ehe sie ins Parlament einzogen.
Es wäre übertrieben zu behaupten, dass der großgewachsene Pellmann ein rhetorisches Talent sei. Im hiesigen Medienzirkus ist das ein Malus. Doch zum Kanzler oder zur Kanzlerin reicht das allemal. Nun will Pellmann allerdings ganz gewiss nicht Regierungschef in dieser kapitalistischen Bundesrepublik werden, nicht einmal Minister, weil er weiß, dass er dann Dinge mittragen müsste, die seiner Überzeugung widersprechen. Er müsste deutsche Rüstungsexporte bewilligen und Kriegseinsätzen zustimmen, er müsste die NATO zu einem Friedensbündnis verklären und ihr noch mehr Geld in den Rachen werfen, er müsste den Rotstift bei Sozialausgaben und bei der Bildung ansetzen und auch sonst an den Symptomen des Systems herumdoktern, statt es grundsätzlich in Frage zu stellen. Das alles will er nicht müssen. Und darum gilt auch für Pellmann der erste Satz aus Hermann Kants „Impressum“: „Ich will aber nicht Minister werden.“ Für all jene hat er nur ein mildes Lächeln übrig, die sich als „Kanzlerkandidat“ oder „Kanzlerkandidatin“ auf den Schild heben lassen, obwohl nicht der Hauch einer Chance besteht, dass sie es auch werden.
Pellmann ist erkennbar kein abgezockter Politprofi, weder Opportunist noch rundgeschliffener Parteikader, auch kein Profilneurotiker – Pellmann ist einfach sympathisch. Das aber bringt keine Schlagzeile. So muss er denn auf zugigen Plätzen stehen und Leute ansprechen, an Haustüren klingeln und individuell Zustimmung gewinnen, auf Zusammenkünften wie dieser im Felsenkeller für Frieden und Antifaschismus werben und gegen Ausländerhass und Antisemitismus streiten. Ausdauernd und mit Geduld. Sören Pellmann wird sein Direktmandat wieder gewinnen. Im Wahlkreis 152 (Leipzig II) gibt es vermutlich auch diesmal eine qualifizierte Mehrheit, die nicht für eine schaumschlagende, krawallige Alternative votiert, sondern für Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Für Leute mit Haltung und mit Charakter, denen man grundsätzlich vertrauen kann.
Als Pellmann sich vom Publikum verabschiedet, hat es aufgehört zu schneien. Trotzdem eilen die Besucher nicht nach Hause, die Schankraum unterm Versammlungsraum füllt sich. Das Krokodil schaut nicht mehr ganz so grimmig, die Hormone scheinen zu stimmen. Pellmann sitzt in einer Ecke, zwischen jungen Leuten. Die Katharsis, durch die seine Partei im vergangenen Jahr gegangen ist, zeitigt Wirkung. Das lässt hoffen.
* Daniela Dahn: Der Schlaf der Vernunft. Über Kriegsklima, Nazis und Fakes. Rowohlt, Hamburg 2024, 16 Euro
** Lothar Schröter: Der Ukrainekrieg. Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO. edition ost, Berlin 2024, 32 Euro
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