28. Jahrgang | Nummer 2 | 27. Januar 2025

Offene Grenzstadt Nova Gorica

von Peter Richter

Es war wie ein Déjà-vu: Da warst du doch schon einmal. Im Autozug von Berlin nach Triest passierten wir vor einigen Jahren an der slowenisch-italienischen Grenze den Bahnhof Nova Gorica. Lange her, aber vor beinahe sechzig Jahren war ich tatsächlich schon einmal dort, im Rahmen eines Wissenschaftleraustauschs zwischen der Fakultät für Journalistik der Leipziger Universität und der Politischen Hochschule Ljubljana im damaligen Jugoslawien. Jetzt hat es das Städtchen mit nur 13.000 Einwohnern sogar in die Titelzeilen zumindest der Feuilletons gebracht, denn es wurde zusammen mit seiner italienischen Schwesterstadt Gorizia als Kulturhauptstadt Europas 2025 gekürt.

1965 war daran noch nicht zu denken, aber unsere seinerzeitigen Gastgeber wussten schon, warum sie Nova Gorica in das Besichtigungsprogramm aufgenommen hatten. Denn das ursprünglich habsburgische Görz wurde vor allem nach dem Machtantritt Mussolinis konsequent italienisiert, und am Ende des Zweiten Weltkrieges fanden hier blutige Gefechte zwischen den Faschisten und Titos Partisanen statt. Nach der faschistischen Niederlage wurden die Grenzen neu gezogen, und Tito wollte eigentlich das ganze mehr als 1000 Jahre alte Gorizia dem neuen Jugoslawien einverleiben, was die Westmächte dem Kommunisten jedoch Kommunisten verweigerten. Der größte Teil der Stadt blieb bei Italien, aber große Teile ihres Hinterlandes gingen an Jugoslawien, was vor allem für italienische Bauern zum Problem wurde, denn ihre Felder lagen nun oft im feindlichen Nachbarland. Die Grenze war weitgehend abgeriegelt. Aber gerade hier sollte eine sozialistische Musterstadt entstehen, für die im Februar 1947 der Grundstein gelegt wurde. Großzügige fünfstöckige Wohnhäuser und pompöse öffentliche Bauten entstanden – als bewusster Kontrast zum altertümlichen Gorizia.

Doch nach dem Bruch Titos mit Stalin orientierte sich Jugoslawien politisch um und strebte als nichtpaktgebundener Staat Beziehungen in alle Richtungen an, auch zu Italien. Für Nova Gorica bedeutete dies, dass man das Grenzregime erheblich lockerte. Wer nicht weiter als zehn Kilometer von der Grenze entfernt wohnte, konnte einen Passierschein erhalten, der viermal im Monat den Grenzübertritt erlaubte. Es gab zwar einen Grenzzaun und an der Straßen Schlagbäume, aber die Bewohner beider Seiten arrangierten sich bald mit den Verhältnissen.

All das konnten wir in Nova Gorica besichtigen, und der Vorsitzende des dortigen Parteikomitees des Bundes der Kommunisten erläuterte: „Auf der italienischen Seite leben 85.000 Jugoslawen, davon 15.000 in Alt-Goriza. Bei uns wohnen 150.000 Italiener, vorwiegend auf dem Lande. Trotzdem gibt es keine unlösbaren Probleme, da der Kontakt zur anderen Seite sehr gut ist. Drüben regiert eine Koalition von linken Vertretern der DC, der Sozialdemokraten und der Sozialisten, mit denen wir in vielen Verwaltungsfragen innerhalb der uns vom Staatsvertrag gezogenen Grenzen zusammenarbeiten. Natürlich ist auch unser Kontakt zur Kommunistischen Partei Italiens sehr eng.“ Sogar das Neue Deutschland hat dies damals „als ein hervorragendes Beispiel der aktiven Zusammenarbeit zwischen zwei Ländern mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, als ein Beispiel der friedlichen Koexistenz in Aktion“ gewertet.

Anderes wurde freilich nicht thematisiert: Von Grenzbefestigungen, wie wir sie in der DDR seit dem 13. August 1961 kannten, war hier weit und breit nichts zu sehen. Der Maschendrahtzaun, der den Übergang aus dem sozialistischen Jugoslawien ins NATO-Land Italien und umgekehrt markierte, war schon ziemlich löchrig geworden. Es gab auch einen Grenzposten, der die Passierscheininhaber zumeist durchwinkte, allerdings wenig Verständnis zeigte, als ich die ungewöhnliche Szenerie fotografieren wollte; das duldet man wohl an keiner Grenzanlage. Kontrollen dienten, wie man uns sagte, vor allem unerwünschter Schmuggeltätigkeit, die allerdings, wie man heute weiß und sogar mit einem Schmuggelmuseum dokumentiert, beträchtlich und ziemlich einfallsreich war. Aus Italien kamen Südfrüchte, technische Geräte und Kleidung, die Jugoslawen konnten Fleisch gewinnbringend beim Nachbarn verkaufen.

So blieb es im Wesentlichen auch, nachdem sich Slowenien 1991 aus dem jugoslawischen Staatenverbund gelöst hatte und selbstständig geworden war. Erst mit der Aufnahme des Landes in den Schengenraum 2007 wurde der Grenzzaun abgerissen und fielen die Kontrollen weg; nun konnten die Bewohner beider Länder ungehindert zueinanderkommen. Die Bewerbung um den Titel der Kulturhauptstadt Europas sollte auch diese Entwicklung würdigen; Nova Gorica hatte sich darum beworben, und als es den Zuschlag erhielt, wollte es unbedingt Gorizia dabeihaben – als grenzüberschreitendes Projekt entsprechend dem Motto „Go borderless!“

Allerdings ist das Feiern inzwischen schon nicht mehr ungetrübt, denn mit der Rechtsentwicklung in der Europäischen Union kehren zwangsläufig die alten Grenzen zurück und werden die Träume von einem grenzenlosen Europa von eben dieser EU ad absurdum geführt. Die postfaschistische italienische Regierung von Giorgia Meloni hatte schon im Oktober 2023 Kontrollen an der Grenze zu Slowenien angeordnet. So stehen auch die kulturellen Feierlichkeiten in diesem Jahr unter den wachsamen Augen bewaffneter Carabinieri, und „Go borderless!“ ist weniger eine freundliche Einladung als wieder einmal eine Kampflosung gegen Abschottung und Wagenburg-Denken.