28. Jahrgang | Nummer 2 | 27. Januar 2025

Besoffen oder nüchtern – das ist hier die Klassenfrage

von Joachim Lange

Bertolt Brecht und seine spezielle Art, Theater zu machen, haben es heute nicht leicht. Als Person und Autor gilt der notorisch linke und auf Dialektik versessene Augsburger als Säulenheiliger der frühen DDR. Wobei heute gerne übersehen wird, mit welch listig subversivem Hintersinn sich das schreibende und seine (mitarbeitenden weiblichen) Musen ausbeutende Genie dem Regime nicht nur an die Seite gestellt, sondern ihm zugleich immer wieder den Spiegel vorgehalten hat. Als stilbildender Regisseur und Theaterleiter (bis zu seinem Tod im Haus am Schiffbauerdamm) hat sich sein den Stoff vorführendes und zum Denken verführendes Theater in der einen oder andern Form längst überall so eingeschlichen, dass kein Theatermacher damit auskommt, nicht auch mal einen Schritt neben sich zu treten. Ein bisschen V-Effekt gibt’s heute immer. Das gehört dazu. Auch wenn gebrüllt oder dekonstruiert wird, dass die Vorlage nur so kracht und splittert.

Heute kommt hinzu, dass gerade dieses Brechttheater und seine Haltung auch zu einem probaten Impfstoff gegen den grassierenden identitätspolitischen Virus auf den Bühnen werden. Wenn man sein sollte, was man spielt (also vor allem selbst „betroffen“), dann erinnert einen Brecht daran, dass Theater eine Verabredung zum Spiel ist. Eins, das vom Leben erzählt, aber nicht das Leben (Lieben oder Leiden) ist, von dem die Autoren berichten. Auch über die grassierende Marotte, Rollen gegen das biologische Geschlecht zu besetzten, hätte sich BB womöglich köstlich amüsiert – ist es doch eine dialektische Pointe der Selbstentlarvung über diesen speziellen Verfremdungseffekt.

Mit anderen Worten: Brecht ist immer noch Teil des Abenteuers Theater. Kommt ein Klassiker des Meisters wie „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ selbst auf die Bühne, dann kann es gut sein, dass die berühmte metaphorische Brechtgardine etwas staubt, wenn sie beiseite gezogen wird, damit jeder merkt, dass hier etwas vorgespielt wird. In dem Stück, das 1940/41 im finnischen Exil entstand und 1948 in Zürich uraufgeführt wurde, stellt Brecht die oft strapazierte Klassenkampffrage „Wer-Wen“ ganz direkt. Da ist Puntila der Herr, der nur menschlich wird, wenn er besoffen ist. Er wird aber sofort ein rechter Kapitalisten-Mistkerl, wenn ihn Anfälle von Stocknüchternheit heimsuchen. Und da ist sein Chauffeur Matti, der ihm dient, sich aber am Ende doch von ihm löst, weil der elementare Unterschied zwischen den Klassen eben nicht mit Schnaps und guten Worten zu überbrücken ist.

Brecht spielt das im Gewand einer Komödie durch. Und die liefert Andreas Kriegenburg noch bevor die überdimensionale, nahezu das ganze Portal verdeckende weiße Gardine im Theater von Meiningen beiseite gezogen wird. Mit einem verrückten Prolog. Knallbunt sind dabei nicht nur Andrea Schraads Kostüme von Puntilas späteren Beinahe-Bräuten, sondern auch deren Sprachartistik. Dank eines faszinierenden Ensembles kommt der Abend so aus dem Stand auf Hochtouren, fliegt dabei aber dennoch nicht aus der Kurve. Auch die vielen Wortspiele nicht. Bei denen wird der Verdacht, sie könnten purer Klamauk-Selbstzweck sein, sofort ausgeräumt, wenn man die Anspielungen versteht. Auf „echt“ am Satzende „Brecht“ zu reimen, lassen sie sich natürlich nicht entgehen …

Kriegenburg und seine Meininger Schauspieler-Selbstverwirklichungstruppe führen das Stück und dessen Herstellung vor. Als Bild wäre das Action Painting, bei dem die laufende Farbe noch trocknet. Man merkt, dass diese Proben ein kreativer Kraftakt gewesen sein müssen. Sie haben ihn aber in ein grandios ziseliertes Kunstwerk gebannt. Zu Kunst gewordene Improvisation. Die bei allen (wie auch immer sie das gemacht haben) so verinnerlicht ist, dass dieses Brecht-Kriegenburg-Mimen-Gemisch nur so aus ihnen heraussprudelt.

Dass Meiningen derzeit über ein hochkarätiges Schauspielensemble verfügt, das keinen Vergleich mit mach einem größeren Haus scheuen muss, wusste man. Aber jeden einzelnen so zum Leuchten zu bringen und allesamt als Ganzes so reibungslos funktionieren zu lassen, dazu braucht es einen Meister seines Faches wie Andreas Kriegenburg. Kann gut sein, dass die Präzision des Zusammenspiels von dessen Erfahrungen bei der Opernregie profitiert.

Und dann stimmt eben auch seine zweckmäßig sperrholzkarge Bühne. Die Wand hinterm Vorhang fällt einfach um. Das Halbrund hinten ist drehbar und unter anderem der Saunaeingang. Fürs Fest kommt die Hinterbühne dazu. Aber all das ist nur der Raum für sein Schauspielertheater. Es bleibt nebenbei bemerkt auch politischer als die Version, die Herbert Fritsch vor 13 Jahren in Köln in den Slaptstickwahnsinn getrieben hat.

Vivian Frey hat sein „Rote-Rosen“-Brotjob beim etwas seichten Nachmittags-Fernsehen für den Puntila jedenfalls nicht geschadet. Im Gegenteil: Er kriegt den besoffenen Menschelnden genauso überzeugend hin wie den nüchternen Fiesling. Hinreißend, wie Paul Maximilian Schulze seinen schlaksigen Matti dem einen wie dem anderen entgegenstellt. Oder, wie Gunnar Blume den Attaché als schleimigen Opportunisten mit Charly-Chaplin-Attitüde aussichtslos um Eva werben lässt. Grandios auch Pauline Gloger als auftrumpfend zupackende Eva, die zwar Matti mit Anlauf um den Hals, bei der Ehefrauen-Prüfung aber mit Karacho durchfällt. Eine Show für sich ist Anja Lenßen, wenn sie als Köchin ihre bodenlangen Zöpfe nach den Männern auswirft und als Telefonistin zusammen mit Mia Antonia Dressler und Naomi Clerc (die auch noch die urkomische Pröpstin ist) das Bräutetrio komplettiert, das sich Puntila besoffen angelacht hat und nüchtern wieder loswerden muss. Dank Erik Studte und Florian Graf sind auch Advokat und Probst kleine Kabinettstücke.

Gegen Ende gibt’s die rechte Dosis Melancholie zur prallen Komödie. Dass sie ein bissl zu lang geraten ist, merkt man am Ende, wenn man auf die Uhr schaut. Bis dahin hat man dazu gar keine Zeit. Jubel für alle!