Es ist eine alte Frage der Sozialwissenschaften, wofür in diesem Jahr der Wirtschaftsnobelpreis vergeben wurde: Die Frage nach den Ursprüngen von Armut und Reichtum, von Aufstieg und Untergang der Nationen. Diese Frage trieb Platon und Aristoteles um, Thomas Hobbes und John Locke bemühten sich um eine Antwort, Adam Smith legte eine „Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen“ vor, Karl Marx entwickelte die Idee von der Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen, von „Basis“ und „Überbau“. Friedrich von Hayek hielt Staatsinterventionismus für einen Weg in Knechtschaft und Armut, die Freiburger Schule sucht nach einem Ordnungsrahmen für die Marktwirtschaft, der Freiheit und Wohlstand gewährleistet. Und in den vergangen dreißig, vierzig Jahren erschienen einschlägige Arbeiten von Mancur Olsen, David Landes, Jared Diamond, Robert Delio, Angus Daeton, Thomas Piketty oder Douglass North. Letzterer, ein Vertreter der neo-institutionalistischen Schule der Ökonomie, erhielt 1993 den Nobelpreis für die „Erneuerung der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung durch Anwendung ökonomischer Theorie und quantitativer Methoden, um wirtschaftlichen und institutionellen Wandel zu erklären.“ Bemerkenswert ist sein Blick auf Marx: „Unter den vorhandenen Theorien des säkularen Wachstums überzeugt das Marxsche Gedankengebäude am meisten […] Marxens Betonung der entscheidenden Bedeutung von Eigentumsrechten für eine effiziente Wirtschaftsordnung und der Spannung, die sich zwischen einer gegebenen Konstellation von Eigentumsrechten und dem Produktivpotential einer neuen Technologie aufbaut, ist von größter Wichtigkeit. Der technische Wandel erzeugt die Spannung im Marxschen System; aber erst durch den Klassenkonflikt wird der Wandel zur Wirklichkeit.“
Auch die Preisträger 2024, die US-Amerikaner Daron Acemoglu, Simon Johnson und James Robinson, lassen sich dem Neo-Institutionalismus zuordnen. Ihre Forschungen unterscheiden sich in manchem von denen ihrer Vorgänger, was sie aber vor allem auszeichnet, ist ihr Versuch, die Entwicklung von Armut und Reichtum der Nationen vergleichend sowie umfassend empirisch und quantitativ aufzuzeigen und auf die jeweilige institutionelle Ordnung zurückzuführen. Ihr zentrales Konzept beruht auf der Unterscheidung von „extraktiven“ und „inklusiven“ ökonomischen und politischen Institutionen. Extraktive Institutionen zeichneten sich durch einen Mangel an Recht und Ordnung, unsichere Eigentumsrechte und kaum funktionierende Märkte aus; sie begünstigten eine diktatorische Elitenherrschaft. Inklusiv seien die Institutionen, wenn Eigentumsrechte und Vertragssicherheit gewahrt würden, wenn der Marktzutritt frei sei und die Mehrheit der Bürger Zugang zu Bildung habe, eine breite Beteiligung an der politischen Macht existiere und das Gewaltmonopol beim Staat liege. Es gebe gewiss weitere natürliche, politische und ökonomische Faktoren, die für mehr oder weniger Erfolg und den Wohlstand der Nationen verantwortlich seien, aber im Zentrum stünden Charakter und Ausgestaltung des institutionellen Gefüges.
Ihre Theorie illustrieren sie anhand der politischen und wirtschaftlichen Systeme, die von den europäischen Kolonisatoren ab dem 16. Jahrhundert in verschiedenen Ländern eingeführt und entwickelt wurden. Besonders deutlich würde die Rolle institutioneller Faktoren in der Entwicklung in Nordamerika einerseits und Süd- oder Mittelamerika andererseits. Während in den Siedlerkolonien des Nordens inklusive Institutionen entwickelt wurden, womit die Grundlagen für rasch wachsenden Wohlstand entstanden, war das im Süden nicht im gleichen Maße der Fall. Das werde besonders anhand der Geschichte der Stadt Nogales deutlich, die im Zuge der Eroberungen der mexikanischen Nordprovinzen durch die USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geteilt wurde und deren US-amerikanischer Teil sich heute vom mexikanischen Teil wie der Tag von der Nacht unterscheidet. In welcher Richtung sich der Charakter der Institutionen und damit die Chancen auf mehr Wohlstand bewegten, hänge von der Entwicklung der Konflikte zwischen den Massen und der Elite ab. Damit erklären die Nobelpreisträger auch die soziale Entwicklung in westeuropäischen Staaten und den vom Kolonialismus befreiten Ländern.
Diese Theorie steht in einem extremen Gegensatz zur herrschenden neoklassischen Lehre, wonach von staatlicher Beeinflussung befreite Märkte und ein funktionierender Wettbewerb die Garanten wachsenden Wohlstands seien. Mit der Konzentration auf die Untersuchung von Institutionen stehen die Preisträger eher in der Tradition der deutschen historischen Schule und des ORDO-Liberalismus der Freiburger Schule als der angloamerikanischen economics. Für die Orientierung der Wirtschaftspolitik und vor allem auch der Entwicklungspolitik hätte die Berücksichtigung dieser Theorie – Zurückdrängen der Marktorientierung und größere Aufmerksamkeit für die Gestaltung sozialer und gesellschaftlicher Bedingungen – erhebliche Bedeutung.
Gleichwohl lassen sich viele Elemente dieser Theorie kritisch hinterfragen. Wohlstand und Wachstum westlicher Nationen beruhten jahrhundertelang nicht auf „inklusiven“ Institutionen, sondern auf feudaler und frühkapitalistischer Expansion und Ausbeutung. Kolonialismus und Neokolonialismus waren keine Instrumente der Entwicklung, sondern der Ausplünderung von Nationen. Die Entstehung des so erfolgreich wachsenden Kapitalismus beruhte auf einer gewalttätigen, blutigen Enteignungsbewegung, in der Bauern massenhaft ihren Landbesitz und die Gemeinden ihre Allmende verloren. Der so geschaffene Lohnarbeiter war zwar in einer Hinsicht frei, aber in anderer Hinsicht brutalem Arbeitszwang unterworfen. Armenhäuser waren Brutstätten des Manufaktur- und Fabriksystems. Die mit der Gründung der USA entstehenden, vermeintlich „inklusiven“ Institutionen beruhten zwar auf einer parlamentarischen Demokratie und Gewaltenteilung, schlossen aber erhebliche Bevölkerungsteile aus: Schwarze und Frauen, von der brutalen Vernichtung der indigenen Bevölkerung und dem Landraub ganz schweigen. Abgesehen vom Arbeitszwang, der sich aus dem Nichtbesitz an Produktionsmitteln ergibt, war im industriell erfolgreichen Großbritannien die gute Hälfte auch der männlichen Bevölkerung aufgrund ihres Einkommens und fehlenden Vermögens noch bis 1918 nicht wahlberechtigt.
Richtig ist, dass die industrielle Revolution bestimmten institutionellen Voraussetzungen unterlag, aber mehr noch schuf sie die Zwänge zu einer Anpassung der Produktionsverhältnisse und der ihnen entsprechenden rechtlichen und gouvernementalen Institutionen. Patentrecht, Fabrikgesetzgebung oder Gesellschaftsrecht, darunter das Aktienrecht entstanden, um angesichts wachsender Kapitalminima, qualifikatorischer und infrastruktureller Erfordernisse die Profiterwirtschaftung zu steigern. Es scheint zwar, dass diese rechtlichen Institutionen die Voraussetzung der industriellen Revolution waren, aber mehr noch erzwang diese im Verein mit dem Verwertungsdruck solche institutionellen Anpassungen. Jenes institutionelle Gefüge als „inklusiv“ zu bezeichnen, erscheint in diesem Licht als fragwürdig, beruht es doch zuvörderst auf einer sich beständig reproduzierenden „Exklusion“ der Masse der Bevölkerung vom Eigentum an Produktionsmitteln. Die Mechanismen des Zwangs zur Verwertung und zur Akkumulation von Kapital sind die primären Triebkräfte sowohl des technisch-industriellen Fortschritts wie der erforderlichen institutionellen Veränderungen. Das ist kein glatt einseitiger, sondern ein widersprüchlicher, von Wechselbeziehungen geprägter Vorgang mit vielen Nebenbewegungen und Einflüssen, von Fort- und Rückschritt, sozialen wie Konkurrenzkämpfen, der revolutionäre Brüche in den politischen Institutionen einschließt. Acemoglu und Kollegen ist zugute zu halten, dass sie sich nicht in der Enge neoklassischer Modelle bewegen, in denen Institutionen, Eigentumsverhältnisse, der Staat, die Ideologie und die sozialen Auseinandersetzungen, wenn überhaupt, nur ein Schattendasein fristen. Aber ihre Priorisierung einer „endogenen Evolution“ von Technologie und politischen Institutionen lässt viele Fragen offen. Wenn sie in diesem Zusammenhang Marx vorwerfen, dessen Akkumulations- und Profitgesetze könnten die wirkliche Entwicklung nicht erklären, zeigt das einen ziemlich selektiven Blick. Seine Geschichtsphilosophie lässt sich nicht auf die Rolle von Verwertungsgesetzen reduzieren; in ihrem Zentrum stehen Klassenkämpfe, die selbstverständlich auch deren institutionellen Rahmen umfassen.
Letztlich beruht die Theorie der Nobelpreisträger auf einer Idealisierung des „westlichen“ Entwicklungs- und Wohlstandsmodells unter Ausblendung seines Ausbeutungscharakters, seiner fundamentalen Widersprüche, Entwicklungsbarrieren und Fehlentwicklungen. Wer von den Universitäten des ökonomischen Mainstreams geprägt wurde, muss ihre Herangehensweise als außergewöhnlich innovativ empfinden. Wer die wirkliche geschichtliche Bewegung zugrunde legt, kann die Akribie ihrer empirischen und cliometrischen Detailstudien zwar als nobelpreiswürdig bewundern und vieles daraus lernen, kann aber nicht über Grenzen und Leerstellen hinwegsehen.
Schlagwörter: Armut und Reichtum, Daron Acemoglu, James Robinson, Jürgen Leibiger, Neo-Institutionalismus, Simon Johnson, Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftsnobelpreis