27. Jahrgang | Nummer 24 | 18. November 2024

Theosophischer und Mystiker aus Görlitz: Jakob Böhme

von Klaus Hammer

Höre, du blinder Mensch …

Jakob Böhme

 

Dieser ehrbare Schuster war der bedeutendste Denker, der in Görlitz gewirkt hat. Er gehört überhaupt zu den kreativsten, aber auch rätselhaftesten Gestalten des deutschen Geisteslebens zwischen Reformation und Aufklärung. Jakob Böhme (1575-1624) empfand sich als Werkzeug des lebenden Geistes – jedoch die protestantische Kirche erklärte ihn zum Ketzer. Ein „gotteslästerlicher Schuster“ wurde er vom lutherisch orthodoxen Görlitzer Oberpfarrer Richter genannt. Ihm wurde in Görlitz ein Schreibverbot auferlegt, so wanderten seine handgeschriebenen Manuskripte zu seinen bürgerlichen und adligen Anhängern in den angrenzenden niederschlesischen Gebieten. Sie gelangten auch in die Niederlande, wurden hier gedruckt (1682 in Amsterdam) und verbreiteten sich dann bald auch in England und Frankreich wie in den nordamerikanischen Kolonien. In Deutschland übten seine philosophisch-mystischen Schriften großen Einfluss auf die Philosophie Schellings und Hegels sowie auf die Literaten der deutschen Romantik aus. Aber eigentlich hat er in alle europäischen Literaturen, in die Philosophie und auch die bildenden Künste gewirkt.

Jakob Böhme wurde 1575 in dem südlich von Görlitz  gelegenen Alt-Seidenberg (heute Stary Zawidów) als viertes von fünf Kindern eines begüterten Freibauern geboren. Der empfindsame, geistig rege und tief religiöse Junge begann schon während seiner Schusterlehre die Lehren von Paracelsus und die der Mystiker – vor allem von Caspar Schwenckfeld – aufzunehmen. Er erlangte in Görlitz die Meisterrechte und kaufte sich 1599 sein erstes Haus – es wurde erst 1924 als erste Wohnstätte Böhmes wiederentdeckt und beherbergt heute auf polnischer Seite jenseits der Neiße (ul. Daszynskiego 12) eine kleine Böhme-Gedenkstätte. Das zweite Haus Böhmes, das er mit seiner Familie dann am östlichen Neiße-Ufer bewohnte, wurde beim Bau der modernen Brücke 1906 abgerissen. 1600 erlebte „Meister Jakob“ seine große Vision, die sein ganzes Leben bestimmen sollte. 1612 schrieb Böhme sein erstes Werk „Aurora oder Die Morgenröte im Aufgang“. Die Jahre seines Schreibverbotes 1613 – 1618 lösten tiefe Konflikte in ihm aus, der Garnhandel, dem er sich zugewandt hatte, brachte kaum Gewinn, schlesische Gutsherren boten ihm eine bescheidene materielle Unterstützung und ermutigten ihn zu erneutem Schreiben. Viele weitere Schriften entstanden, in den theosophischen Sendbriefen verband ihn ein reger Gedankenaustausch mit einem ausgedehnten Schüler- und Freundeskreis. Er unternahm Reisen nach Schlesien und – ergebnislos – an den sächsischen Kurfürstenhof nach Dresden. Als er 1624 starb, wurde ihm nur mit Widerwillen der Görlitzer Geistlichen ein christliches Begräbnis gestattet. Sein Grabkreuz wurde bereits nach wenigen Tagen geschändet. Heute befindet sich auf seinem Grab auf dem Nikolaifriedhof eine schwere Granitgrabtafel, auf der geometrische Figuren dargestellt sind. Sie sind nichts anderes als Böhmes „philosophische Kugel“, die Darstellung seiner Kosmogonie in Form einer Zeichnung aus den „Vierzig Fragen von der Seele“ (1620).

Das 1898 eingeweihte Böhme-Denkmal von Johannes Pfuhl im Görlitzer Stadtpark stellt den Schuster-Philosophen dar in sitzender Haltung auf dem Schuhmacher-Schemel mit Bekleidung aus dem 17. Jahrhundert. Die rechte Hand mit dem Griffel liegt auf dem Herzen und sein Blick ist in die Ferne gerichtet. Pfuhl wollte keinen Denker, keinen Grübler, sondern einen „Seher im Geiste“ schaffen.

Böhme war Mystiker – und Mystik bezeichnet die unmittelbare Erfahrung einer göttlichen oder transzendenten Realität, die das gewöhnliche Bewusstsein und die rein verstandesmäßige Erkenntnis übersteigt. Er hat das Verhältnis Mensch – Natur – Gott auf völlig neue Art und Weise gedeutet. Die Welt bestehe aus der Spannung zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod. Und so ruft er den Menschen auf: „Betrachte dich selber, such dich und finde dich selber, du bist Gottes Gleichnis, Bild, Wesen und Eigentum“. Jeder Mensch müsse in seine eigene Tiefe hinabsteigen, sein eigenes Herz ergründen, um dort Liebe und Zorn zu erkennen und in innerem Ringen zur Liebe durchbrechen. Dies könne er nur in der Kraft Christi erreichen, die den ganzen Kosmos durchdringt. Der Mensch ist bei Böhme noch ein Werdender, der seine Vollendung selbst erwirken muss. Seine Schriften entstanden während des Dreißigjährigen Krieges in einer Zeit großer Verunsicherung. Welchen Sinn, welche Bestimmung hat das menschliche Leben? In der Antwortsuche auf die Frage nach Gut und Böse ergeben sich zwei Richtungen: Woher kommen wir – wohin gehen wir? Der Weg kann an Böhmes Denken und Leben nachvollzogen werden, auch die Anfeindungen verdeutlichen nicht nur den Geist seiner Zeit.

Wir haben es mit einem Doppel-Jubiläum zu tun, der 450. Wiederkehr seines Geburtstages (am 17. November 2024) und der 400. Wiederkehr seines Sterbejahres (am 24. April 2025). Hierzu ist in Görlitz – in enger Partnerschaft mit Zgorzelec, denn hier und in der heute polnischen Umgebung spielte sich ein wesentliches Kapitel Lebens- und Wirkungsgeschichte Böhmes ab – ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm vorbereitet worden, mit Ausstellungen, Führungen, Vorträgen, Lesungen, Filmen, Konzerten, Audios und vielem Anderen. „Böhme für alle“: Was bedeutet uns der Görlitzer Philosoph noch heute? Vom September 2024 bis April 2025 veranstalten die Görlitzer Sammlungen in Zusammenarbeit mit der Internationalen Jacob Böhme Gesellschaft eine Vortragsreihe, in der Spezialisten in allgemeinverständlicher Form über die Schriften und Gedanken des Görlitzer Schuster-Philosophen Auskunft geben, der die Selbstbesinnung des Menschen forderte.

Ein weithin unbekanntes Kapitel ist im Kulturhistorischen Museum Kaisertrutz mit der Ausstellung „die suchenden“ aufgeschlagen worden (bis 17. November). Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich Kunstschaffende um die Maler Joseph Anton Schneiderfranken und Fritz Neumann-Hegenberg im Jakob-Böhme-Bund zusammengeschlossen und sich 1920 erstmals in Görlitz der Öffentlichkeit vorgestellt. 120 Werke konnten von ihnen nun ermittelt und ihre von Mystik und Theosophie angeregte neuen Sakralkunst in Beziehung zur sozialkritischen Kunst der von Ludwig Kunz gegründeten Künstlergruppe „Die Lebenden“ gestellt werden. Kunz hatte von 1923 bis 1931 das Flugblatt „Die Lebenden“ herausgegeben, in dem auch Holz- und Linolschnitte von Felix Müller, Johannes Wüsten, Max Thalmann und Otto Kratzer erschienen.

Das Schlesische Museum zu Görlitz führt unter dem Titel „Lilienzeit“ in die Gedankenwelt Böhmes ein (die Lilie ist für Böhme Symbol der Reinheit und Keuschheit) und spürt vor allem seiner wachsenden Bedeutung nach (bis 2. Februar 2025). Hatte sich der schlesische Freundeskreis noch zu Böhmes Lebzeiten um diesen geschart, war es dann der Breslauer Lyriker Angelus Silesius, dessen Hauptwerk, der „Cherubinische Wandersmann“, ganz auf dem Gedankengut Böhmes beruht. Aber ebenso ließ sich der englische Naturwissenschaftler Isaac Newton durch Böhmes Geistesschau zu seiner Theorie der Schwerkraft, der Gravitationslehre, anregen. Werden nicht auch in Goethes „Faust II“ zentrale Themen Böhmes aufgegriffen? Doch den wichtigsten Einfluss nahm Böhme wohl auf die deutsche Romantik, auf Friedrich Schlegel, Novalis (in seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“), Ludwig Tieck, Schelling („Philosophische Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit“), Schleiermacher, Franz von Baader und viele andere. Auch für die polnischen Romantiker Adam Mickiewicz und Juliusz Slowacki ist der Theosoph aus Görlitz nicht ohne Einfluss geblieben. Seine Schriften haben später ebenso Wilhelm Raabe wie Gerhart Hauptmann und viele andere – auch nicht-christliche Denker – bewegt. Atemberaubend ist die Geschichte der Wiederauffindung der 200 Jahre als verloren geglaubten meisten Schriftstücke Böhmes und Dokumente aus seinen frühen Freundeskreisen; sie liegen heute verstreut in Wolfenbüttel, Amsterdam, Warschau, Wroclaw und Görlitz – und es werden immer noch weitere Entdeckungen gemacht.

Der Visionär Böhme schreibt in einer „Natursprache“, die zwar barock ausschweifend, aber zugleich erstaunlich konkret und bildhaft anschaulich erscheint und originelle Denkräume eröffnen kann. Wo ihm begriffliche Klärung versagt bleibt, greift er zum poetischen Bild. Er „belauscht“ sozusagen den sprachschöpferischen Vorgang und erweist sich selbst immer wieder als ein nicht nur gedankenreicher, sondern auch sprachschöpferischer Autor.