27. Jahrgang | Nummer 24 | 18. November 2024

Politik mit Gefühl(en)?

von Jürgen Scherer

Auch wenn der geschichtspolitischen Aussage Egon Bahrs Allgemeingültigkeit zukommt, wonach es in der Politik nicht um Moral geht, sondern um die Durchsetzung von Interessen, sollten andere Elemente, die das Handeln von Politikern zumindest mitbestimmen, nicht vergessen werden. Ein wichtiges solches Element sind die Gefühle.

Im Politikbetrieb geht es einerseits um die Tatsache, dass Gefühle benutzt und ausgenutzt werden, andererseits darum, dass die scheinbar überlegt und rational handelnden Politiker manchmal mehr, manchmal weniger von Gefühlen geleitet werden, manchmal bewusst, aber auch zuweilen unbewusst. Um es banal auszudrücken: Wir sind allzumal Menschen mit unseren Befindlichkeiten, wie Hoffnungen, Bedürfnissen und notabene auch Ängsten.

Immer zu Wahlkampfzeiten, die uns demnächst wieder ins Haus stehen, werden die Gefühlswellen besonders gerne gepusht. Bestes Beispiel dafür ist die vor allem bei CSU-Granden beliebte Bierzeltatmosphäre. Da wird gehobelt und geschimpft, tiradiert und geplänkelt, was das Zeug hält, und so auf der Gefühlsklaviatur des (Wahl-)Volks meist schneidig, oft bravourös, auf jeden Fall aber insgesamt erfolgreich gespielt: Die Gegner werden immer wieder mit wohlkalkuliertem heimischem Idiom und teilweise Verachtung, vor allem aber Vorurteile generierender Sprache als unzuverlässig, unfähig und schmähenswert dargestellt; aber zum Glück gäbe es die zuverlässige Union, auf die sei immer Verlass. Meist zollt ihnen das (Wahl-)Volk in bierseliger Atmosphäre frenetischen Beifall. Es war halt mal wieder „a pfundig Gaudi“, Balsam für die geschundene Seele.

Weniger martialisch, aber nichtsdestoweniger emotional und emotionalisierend geht es auf den großen Parteitagen oder Versammlungen zu, die in Sälen und auf Marktplätzen unserer Republik abgehalten werden. Zwar werden von den Parteistrategen sachliche Argumente dafür vorgetragen, weshalb gerade sie und ihre Partei wüssten, wo es lang gehen soll, aber es wird auch mit „großen“ Gefühlen gespielt, wenn mit scheinbar(!) richtigen Argumenten Hoffnungen und Ängste mobilisiert werden sollen, sei es vor wirtschaftlichem Niedergang, sei es vor dem Russen, der in spätestens sechs Jahren bei uns einmarschieren werde. Auch wenn das gar nicht stimmen muss, wird das Ziel oft erreicht: Die Zuhörenden ausreichend ängstlich zu machen, um auf die Gewähltwerdenwollenden und ihre „weise Führung“ zu vertrauen und damit auf ihren Rat, zum Beispiel: Wir müssen alle kriegstüchtig werden.

So wird auch ohne jede Bierzeltatmosphäre Verunsicherung gesät und zugleich Rettung angeboten. Die Politprofis wissen eben, welchen emotionalen Schalter sie bedienen müssen, um ihr jeweiliges Ziel zu erreichen. Dass dies nicht bei allen Dingen klappt, liegt einerseits daran, dass wir gar nicht so dumm sind, wie wir anscheinend oft von ihnen eingeschätzt werden, andererseits daran, dass nicht jeder emotionale Manipulationsversuch Erfolg zeitigt, weil wir ihn mit Hilfe unserer emotionalen Intelligenz durchschauen.

Dennoch gibt es groß angelegte Manipulationsmanöver, die wir nicht gleich, manchmal auch zu spät erkennen, uns ihnen sogar ausliefern. Wie kann das sein?

Weil unsere Sinne in solchen Momenten überschwemmt und überwältigt werden von tief in uns verankerten Urängsten, die meist folgende Verhaltensweisen zeitigen: entweder Gedanken an sofortige Flucht, um der vermeintlichen Gefahr zu entgehen, oder Panik, die zu unkontrolliertem Umsichschlagen oder massiven Unsicherheiten führen können und von den Politikern in „sinnvolle“ Richtungen gelenkt werden können, manchmal zur vermeintlichen Rettung, eventuell aber auch in Richtung Lebensgefahr für uns alle.

Beides haben wir erst kürzlich erlebt; einmal in Coronazeiten, einmal im Zuge der Mobilisierung für Kriegsertüchtigung. Beide Male wurden Urängste bei uns und bei den Politikern virulent. In der Coronazeit, die Angst vorm unmittelbar bevorstehenden Tod und seit dem Ukrainekrieg die Angst vor einem Tod in nicht allzu ferner Zukunft.

Der Unterschied zwischen Politikern und uns im Umgang mit dieser geweckten Existenzangst liegt darin, dass wir darauf bauen, dass unsere Regierenden mit kühlem Sachverstand bei der Problembewältigung vorgehen, weil sie Machtmöglichkeiten dazu haben, wir aber nicht.

Genau hier ist aber auch das Problem versteckt, um das es in diesem Text geht. Es ist nämlich nicht nur zu vermuten, sondern mit Sicherheit gewiss, dass auch unsere Regierenden nach dem ersten Coronaschock Ängste hatten wie wir. Zugleich waren sie aber auch gefordert, in unser aller Interesse zu handeln. Und jetzt soll mir niemand erzählen in ihr Handeln, seien diese Ängste nicht eingeflossen. Aber im Unterschied zu Otto und Emilie Normalverbraucher haben sie im Laufe ihrer politischen Laufbahn gelernt, alle möglichen Dinge zu kompensieren, und wenn sie an der Macht sind, ihre Verdrängungen durch Machthandeln in ihr Tun umzumünzen.

Der Prozentsatz an Angst, der in die Coronaentscheidungen mit eingegangen ist, lässt sich wahrscheinlich nicht beziffern. Aber nur Spurenelemente waren es gewiss nicht. Das Motto hieß wohl insgeheim: Lasst uns nicht über Ängste reden, lasst uns handeln. Das erwarten die Menschen schließlich von uns. Dass bei den ganzen Entscheidungen auch nachweislich mit unseren Ängsten „gespielt“, um nicht zu sagen teilweise Schindluder,getrieben wurde, soll bei all dem nicht vergessen werden! Unsere Betroffenheit war schließlich groß, und so waren zumindest die meisten von uns gut lenkbar. Angst als Folie für das Abverlangen von Gehorsamsleistungen.

Haben wir im Nachhinein daraus gelernt? Ich fürchte, nein.

Denn zur Zeit geht es wieder um das Gefühl der Existenzangst – im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg – und wieder mit dem Versuch, uns mit unseren Ängsten zu vereinnahmen. Diesmal aber nicht für eine relativ überschaubare Zeit, sondern für eine ungewisse Zukunft. Denn die diesmal von unseren Entscheidern zu bewältigenden Ängste, die nach der ersten Schockstarre zutage traten, sollen auf unsere Kosten kompensiert werden. Durch plötzlich zur Schau getragenes Macht- und Manipulationsgebaren, das einem tatsächlich Angst machen kann.

Gefühlshuberei, die auf keine Kuhhaut geht: Achtung, die Russen stehen in sechs Jahren vor eurer Tür! Bereitet euch vor! Baut Heimatschutztruppen auf! Bereitet eure Kinder auf Krieg vor! Kriegstüchtig müsst ihr werden! In den Heimatschutztruppen dürft ihr, auch ohne dass ihr gedient habt, mit G3-Gewehren schießen! Verteidigt Freiheit und Vaterland! Beginnt damit in eurem Dorf, eurer Stadt! Gewöhnt euch an die Sirenen, auch wenn die euch auf die Nerven gehen! In ein paar Jahren werdet ihr froh sein, wenn ihr wisst, was sie bedeuten! Und einer der Hauptverantwortlichen für diese Angsthuberei surft auch noch auf der von ihm maßgeblich zu verantwortenden Angstwelle ganz oben und kann sich so auch noch bestätigt fühlen in seiner Angstmache: Boris Pistorius. Er hat traumhafte Umfragewerte im Ranking der Politiker. Ein veritables Beispiel also für einen Meister der Gefühlsmanipulation, die von den eigentlich politischen Interessen der Regierung ablenken sollen. Dem Interesse nämlich, Deutschland im Machtgefüge der Geopolitik möglichst weit vorne zu platzieren, ob das der deutschen Bevölkerung dient oder nicht. Putins Aktion gegen die Ukraine ist jedenfalls ein willkommener Vorwand, die schon lange in der Schublade liegenden Militarisierungspläne der Falken in unserem Lande umzusetzen. Vehikel dazu: grenzenlose Angstmache! Mit unabsehbaren Folgen für uns alle!

Die emotionale Durchlauferhitzung in unserer Bevölkerung läuft also auf vollen Touren und fast alle Parteien haben auf je eigene Art ihren Anteil daran. Am meisten freuen sich natürlich die schon erwähnten Falken aller Schattierungen. Sie sind in voller Montur auf den Angstzug aufgesprungen und kochen für die Mitreisenden ihr militaristisches Süppchen. Eintopf war schon immer gut für die Moral.

Lassen wir uns nicht ins Bockshorn jagen und vergessen wir nicht die wichtige Grunderfahrung: Angst ist meist ein schlechter Ratgeber. Gefühle können mächtige Wirkungen entfalten, aber wir dürfen uns nicht von ihnen überwältigen lassen, auch nicht von politischen Falken, die uns aufgrund schwieriger Gefühlslagen für ihre gefährlichen Ziele missbrauchen wollen.

In Abwandlung eines Lehrsatzes aus der politischen Bildung könnte man als Rezept gegen politischen (Gefühls)missbrauch sagen: Gefühle wahrnehmen, hinter ihre Kulissen schauen, beurteilen, handeln; natürlich mit einem klaren nichtbellizistischen Kompass, dem für Sicherheit, Frieden und Freiheit; haben wir übrigens schon mal genossen. In der Ära Brandt wurde uns beispielhaft vorgemacht, wie soetwas geht – mit für uns alle durchaus zufrieden stellenden Gefühlslagen.