27. Jahrgang | Nummer 25 | 2. Dezember 2024

Nicht nur eine Diktatur …

von Dieter Segert

In der Berliner Zeitung wurde in den letzten Wochen von zwei Historikern, einer französischen und einem deutschen, eine politisch wichtige Diskussion geführt. Ihr Gegenstand war die Frage: Darf man die DDR als Diktatur bezeichnen? Sonia Combe sprach sich dagegen aus, weil andernfalls die DDR mit dem Dritten Reich auf eine Stufe gesetzt werden würde. Martin Sabrow meinte, dass damit ein allgemein anerkannter Tatbestand geleugnet würde. In seinem Beitrag in der Berliner Zeitung vom 19. November schrieb er, es sei doch ganz klar, dass die „zweite deutsche Diktatur nicht nur in der Zeit des Stalinismus … mit ihrem menschenverachtenden Grenzregime, mit ihrer repressiven Machtausübung Tod und Verwüstung über die Gesellschaft gebracht hat“.

Doch ist das auch eine Grundlage dafür, von der DDR nur als einer „menschenverachtenden Diktatur“ und einem „Unrechtsregime“ zu reden, so wie das jahrelang seit 1990 in Deutschlands Medien üblich war? In der letzten Zeit wird Widerspruch dagegen häufiger. Viele ehemalige DDR-Bürger finden in diesen Begriffen nicht wieder, was für sie vor 1989 bedeutsam war. Sabrow selbst gibt uns den Schlüssel für ein anderes Verständnis der DDR in die Hand, wenn er in seinem Beitrag darauf verweist, dass die DDR so viel mehr war als eine Diktatur, „gelebtes Leben und empfundene Normalität“, dazu zählt er andere Erfahrungen und weitere Perspektiven auf.

Es geht andererseits auch nicht darum, die Erfahrungen mit politischer Gewalt schönzureden. Sicher haben nicht alle diese Diktatur gleichermaßen erfahren. Es gab auch recht unterschiedliche Sichtweisen von DDR-Bürgern auf diesen Staat, je nachdem, ob sie den Idealen der kommunistischen Bewegung verbunden waren oder sie als vom Sieger des Weltkriegs auferlegt empfunden haben. Neulich haben wir in unserem Haus über den 9. November 1989 gesprochen und eine Mitbewohnerin erinnerte sich an den Freiheitsgewinn, den sie durch den Fortfall der faktischen Wahlpflicht erfahren hat. Sie war in einer der evangelischen Kirche verbundenen Familie aufgewachsen und hatte sich, beispielsweise, am Wahltag immer in der Wohnung aufhalten und still sein müssen, wenn Wahlhelfer zu ihrer Familie, die nicht am Wahlritual teilnehmen wollten, kamen und diese Teilnahme forderten.

Diese unterschiedlichen Perspektiven auf den verschwundenen Staat sind also gefragt, aber darüber hinaus geht es um eine Würdigung der DDR insgesamt, desjenigen Anteils von ihr, der rechtfertigt, sie nicht nur als „eine Diktatur“ darzustellen. Die DDR, so habe ich es in meinen Publikationen immer betont, war nicht allein durch ihr politisches System charakterisiert, sie war auch eine spezifische Gesellschaft und Kultur. Zwar waren auch diese Gesellschaft und diese Kultur nicht wettbewerbsfähig genug und überzeugten keine ausreichende Zahl von Bürgern von ihren Vorzügen gegenüber dem anderen System. Aber diese Vorzüge gab es unzweifelhaft: Die starke Emanzipation der Frauen in der DDR, die auch rechtlich bedingt war, aber die sich vor allem auf deren wirtschaftliche Selbständigkeit gegenüber den Männern stützte, die fehlende Macht der Betriebsleitungen gegenüber den Arbeitenden, die eine ganz andere Arbeitswelt schuf als die kapitalistische, auch wenn sie gleichzeitig eine Ursache für mangelnde Produktivität war … Es ließe sich noch einiges mehr aufzählen. Mir fällt noch als unverzichtbar ein, dass ich in der DDR viel Zeit für die Beziehungen mit Freunden hatte, dass Freundschaften überhaupt eine große Rolle spielten.

Dass es überhaupt so etwas wie einen Wettbewerb gab, verdient erinnert zu werden. Im Alltagsdenken war der gesellschaftliche und kulturelle Vergleich von DDR und BRD oder, allgemeiner, von damaligem Kapitalismus und sowjetischem Sozialismus permanent präsent. Beide Systeme hatten sich irgendwann für einen friedlichen Wettbewerb miteinander entschieden. Das nicht zuletzt nach dem Abkommen von Helsinki 1975 und seinem bekannten Korb drei, dem mit den Menschenrechten. Die staatssozialistischen Gesellschaften (ein Begriff, der für mich ihre wissenschaftliche Charakteristik ausmacht) hatten sich ab Ende der 1960er Jahre als ein „Konsumsozialismus“ verstanden, in dem nicht erst die Zukunft schön zu sein hatte, sondern auch die Gegenwart jedem etwas bringen sollte. Das war durch die verschiedenen Staatsparteien unterschiedlich begründet worden. Die SED verkündete unter ihrem neuen Generalsekretär Erich Honecker dieses Ziel als „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Überall bekam die Konsumgüterproduktion mehr Gewicht. Auch aus dem Westen wurden Konsumgüter eingeführt, häufig waren das die im eigenen Land für den Westen produzierten Waren, die teilweise auch auf dem Binnenmarkt verkauft wurden. Und die Zukunftsvorstellungen von einer anderen, besseren Lebensweise wurden im Zuge dieser Umorientierung im Osten stillschweigend aufgegeben. So wurde das andere System zum stillschweigend akzeptierten Referenzpunkt. Ein wichtiges Zeichen für diese gefühlte Überlegenheit des anderen Systems über das eigene war die Überlegenheit der westlichen Währungen über die eigene, der faktische zweite Geldumlauf im eigenen Land. Für die DDR war es die Deutsche Mark, die Handwerkerleistungen oder Prestigekonsumgüter dem zugänglich machte, der über sie verfügte. In Rumänien erfüllten amerikanische Zigaretten die Funktion dieser zweiten, besseren Währung.

Inzwischen wissen alle, dass das Überwechseln zur anderen Form von Wirtschaft und Gesellschaft neben Vorzügen auch Nachteile mit sich gebracht hat. Für jene, die von der harten Währung wenig haben, mögen die Nachteile überwiegen. Das war 1989 nicht präsent und so wechselte die Mehrheit der DDR-Bürger ihre Losung: von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“. Und: „Kommt die DM nicht hierher, gehen wir zu ihr!“

Der Warnhinweis auf die Diktatur hilft nicht mehr. Die DDR in Gänze will keiner zurück. Was heute vermisst wird, wurde auch damals geschätzt: die emanzipierten Frauen, der geringere Druck auf der Arbeitsstelle, eine bessere Kinderbetreuung, der hohe Stellenwert von Freundschaft …

Meine These ist also: Ja, die DDR, war auch eine Diktatur. Aber das war sie nicht nur. Sie hatte auch einiges, was wir heute gerne hätten. Lassen wir uns diese Gewissheit nicht ausreden, denn ein solcher alltäglicher Systemvergleich ermöglicht auch eine produktive Unzufriedenheit mit der Gegenwart eines neoliberalen Kapitalismus, der bisher fast ungebremst in die ökologische Katastrophe hineinläuft. Vielleicht stimmt es tatsächlich, was in letzter Zeit immer wieder zu hören ist: Der Systemvergleich, der Ostdeutschen durch das Erleben sowohl der Vorzüge einer nichtkapitalistischen Gesellschaft als auch der Probleme, die aus einem radikalen Sturz in einen neoliberalen Kapitalismus resultieren, möglich wird, bringt gesunde Skepsis gegen eine Politik des „Weiter so!“ hervor. Diese Haltung jedenfalls wäre etwas, was der gesamten deutschen Gesellschaft helfen könnte, sich den Herausforderungen der Gegenwart ernsthaft zu stellen.