27. Jahrgang | Nummer 24 | 18. November 2024

Film ab

von Clemens Fischer

Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mit seinen 40 Nebenlagern waren zwischen Mai 1940 und Januar 1945 etwa 8000 SS-Angehörige überwiegend niederer, teils mittlerer Dienstgrade eingesetzt. (Rudolf Höß, am längsten dienender Lagerkommandant von Auschwitz, war SS-Obersturmbannführer, im Dienstgrad vergleichbar einem Oberstleutnant der Wehrmacht.) Zu deren Tätigkeit vermerkte Werner Renz, bis 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts zur Geschichte und Wirkung des Holocausts: „Mit Beginn der Massenmorde in Auschwitz förderte jeder SS-Angehörige durch seine Tätigkeit die im Todeslager verübte Haupttat: die fabrikmäßige Vernichtung von Menschen.“ – Lediglich rund 40 Auschwitz-Täter wurden später vor westdeutsche Gerichte gestellt.

Den ersten umfänglichen Prozess dieser Art – mit 22 Angeklagten, überwiegend SS-Schergen –, der ab 1963 in Frankfurt am Main stattfand, musste der damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gegen hartnäckigen Widerstand der bundesdeutschen Politik und Justiz durchsetzen. Die waren Anfang der 1960er Jahre flächendeckend mit Alt-Nazis durchseucht – um nur das prominenteste Beispiel zu nennen: Dr. Hans Globke, Kommentator der Nürnberger Rassengesetze von 1936, war als Chef des Bundeskanzleramtes engster Mitarbeiter Konrad Adenauers, des ersten Kanzlers der BRD.

Etliche der in Frankfurt angeklagten Täter waren in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft gutbürgerlich arriviert: Die Lagerärzte Dr. med. Lucas und Dr. med. dent. Frank, denen die Anklage unter anderem vorwarf, an der Rampe von Birkenau eigenhändig Menschen aus dem Antransport in Viehwagen direkt zur Ermordung ins Gas selektiert zu haben, praktizierten als Mediziner mit eigener Praxis; Dr. phil. Capesius, auch er wegen Selektion unter Anklage, war Eigentümer einer florierenden Apotheke und eines Schönheitssalons mit zusammen knapp einer halben Million D-Mark Umsatz jährlich (Angabe für 1958).Im Abspann des Films „Die Ermittlung“ wird darüber informiert, dass in Auschwitz 1,2 bis 1,3 Millionen Menschen, 960.000 davon Juden, ermordet worden sind. Die Täter, unter anderem darüber hatte der Streifen zuvor informiert, waren um höchste Effektivität bemüht und hatten in dem Insektenvertilgungsmittel Zyklon B, einem Substrat, das bei Kontakt mit Luft Cyanwasserstoff (Blausäure) ausgaste und das im Lager zuvor zur Desinfektion von Häftlingsbekleidung eingesetzt worden war, schließlich das Mittel ihrer Wahl gefunden. Um in den Gaskammern auf einen Schlag bis zu 2000 Menschen umzubringen, waren lediglich acht Kilogramm Zyklon B vonnöten. Der Hersteller berechnete fünf Reichsmark je Kilo. Trotzdem sparten die Mörder, wie vor Gericht zur Sprache kam, noch manches Kilogramm ein, weshalb sich der Erstickungstod der eingepferchten Opfer bis zu fünfzehn Minuten hinziehen konnte.

Vor allem den KZ-Insassen in Gestalt von Überlebenden, die beim ersten westdeutschen Auschwitz-Prozess aussagten, gab Peter Weiss mit seinem Stück „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“ eine Stimme. Weiss stützte sich dabei auf die ausführliche tägliche Gerichtsberichterstattung von Bernd Naumann, damals Ressortleiter bei der Frankfurter Allgemeinen, die als einzige westdeutsche Tageszeitung den Prozess vom ersten bis zum letzten Tage publizistisch begleitete. Die Grundhaltung der NS-Täter vor Gericht kommentierte Naumann am Beispiel des Hauptangeklagten Mulka folgendermaßen: „Im Auschwitz-Prozess vor dem Frankfurter Schwurgericht hat am Donnerstag der 68 Jahre alte Angeklagte Karl Ludwig Robert Mulka, ehemaliger SS-Obersturmführer und Adjutant des Kommandeurs im Konzentrationslager Auschwitz, seine Tätigkeit in diesem Vernichtungslager der Nationalsozialisten auf eine so kurze wie prägnante Formel gebracht: Er hat nichts gesehen und nichts befohlen.“

Weiss‘ Drama, das den Lageralltag vor allem der Häftlinge, aber auch der Täter Revue passieren lässt und dessen Text die jetzige Theaterverfilmung folgt, wurde am 19. Oktober 1965 gleichzeitig an 14 deutschen Bühnen, darunter einer in der DDR, uraufgeführt. 

Zum Anliegen der Filmemacher äußerte Produzent Alexander van Dülmen: „Peter Weiss zeigt, dass der Holocaust auf einer Ideologie basiert, einer totalitären staatlichen Struktur, zeigt, wie gefährlich es ist, wenn man nicht für Demokratie eintritt, für die Werte, die wir für selbstverständlich halten. Und dass man selbst in diesem schrecklichen System eine Wahl hatte: Will man Sadist in Auschwitz werden oder sagt man Nein.“

Nachbemerkung: Bereits Ende 1970, nur ungefähr fünf Jahre nach der Urteilsverkündung im ersten westdeutschen Auschwitz-Prozess, waren von den 17 verurteilten Angeklagten elf bereits wieder auf freiem Fuß.

„Die Ermittlung“, Regie: RP Kahl; derzeit noch in manchen Kinos. Am 27. Januar 2025, dem 80. Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz durch sowjetische Truppen und – seit 1996 – bundesweiter Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, wird der Films auf Arte gezeigt werden.

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In den Glanzzeiten des US-Westerns in den 1950er und 1960er Jahren sang Hollywood das Hohelied auf die zivilisatorische Erschließung des Wilden Westens durch ebenso tapfere wie edle Pioniere, die ins Unbekannte vorstießen und dabei den Unbilden der Jahreszeiten, der teils undurchdringlichen, teils nahezu unendlichen Wildnis und deren nicht minder wilden Be- und Einwohnern unerschrocken trotzten, in Leinwandepen wie „How the West Was Won“ („Das war der Wilde Westen“, 1962, 162 Minuten).

Später wurde die Sicht auf diesen Teil der Entstehungsgeschichte der USA allmählich differenzierter. Da glich dann die Eroberung des Westens durch weiße europäische Siedler, Jäger, Glücksritter und Outlaws weniger einer Heldensaga, denn einer fortwährenden Orgie des Verbrechens und der Gewalt, die sich vor allem gegen die indigenen Ureinwohner richtete, durchaus aber auch gegen Ihresgleichen. Diesen Spiegel hielt Michael Cimino seinen Landsleuten 1980, als man in Bezug auf das Genre schon länger von Spätwestern sprach, mit „Heaven‘s Gate“ („Himmelspforte“, 219 Minuten) vor. Der Film – mit dem jüngst verstorbenen Kris Kristofferson (Blättchen 21/2024) in der Hauptrolle und mit Isabel Huppert an seiner Seite – handelte vom Johnson-County-War, der 1892 in einem Gebiet des späteren US-Bundesstaates Wyoming zwischen mittlerweile etablierten Rinderbaronen und armen, vor allem osteuropäischen Einwanderern der nächsten Generation tobte.

Doch Ciminos radikal-konsequente Sicht auf die Geschichte kam zu früh. Die Medienkritik war vernichtend; in der Abqualifizierung der New York Times hieß es, der Streifen gliche einer „erzwungenen Vier-Stunden-Führung durchs eigene Wohnzimmer“. „Heaven‘s Gate“ floppte an den US-Kinokassen und wurde, weil Cimino das geplante Budget von 20 Millionen US-Dollar um 100 Prozent überschritten hatte, fast zum geschäftlichen Ruin von Universal Pictures, des produzierenden Studios. Heute allerdings gehört Heaven‘s Gate“ längst „zum Kanon der besten US-Western ever.

Eine vergleichbare cineastische Karriere hat Kevin Costners auf vier Teile angelegtes Mammutprojekt „Horizon: An American Saga“ – sein Herzensprojekt, das er seit 30 Jahren auf dem Schirm hat, um „den Western aller Western zu drehen“ (O-Ton radio drei) und dessen erstes Kapitel (181 Minuten) gerade im Kino zu sehen ist – mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten. (Inhaltlich geht es dieses Mal um das Vordringen der Weißen in New Mexico um 1861, für die die dort siedelnden Apachen lediglich ein durch Mord und Totschlag zu eliminierendes Hemmnis für die eigene Ansiedlung waren.) Zwar hat der Film alles, was Fans des Sujets von jeher besonders schätzen – Planwagentrecks, tödliche Indianerüberfälle, Forts und Schutzmissionen der US-Kavallerie, übles Gesindel, Gunfights, Verfolgungsjagden zu Pferde, schöne schutzbedürftige Frauen, schmierige Geschäftsleute, grandiose Landschaften sowie einen (bis zum Hollywood-Kitsch) edlen Protagonisten – und wurde beim diesjährigen Filmfestival in Cannes mit Standing Ovations gefeiert. Doch in den USA floppte der Film. Und zwar nicht, wie im Falle Ciminos, wegen eines gesellschaftspolitischen Tabubruchs, für den er, wenn die Zeit erst gekommen wäre, besonders geschätzt werden könnte, sondern einfach weil er keine Handlung hat, der ein halbwegs aufmerksamer, nicht durch permanentes Popkorn-Mampfen abgelenkter Zuschauer einigermaßen stressfrei folgen könnte. Stattdessen springt Costner zwischen mehreren Handlungssträngen, deren Schnittstellen dem Zuschauer nicht gerade aufgedrängt werden, ziemlich übergangslos hin und her …

Nach derzeitigem Stande soll Kapitel zwei (190 Minuten) am 3. April 2025 in den deutschen Kinos starten. Der Besprecher wird trotz allem hingehen, denn „tödlich langweilig“, so das Verdikt einer NDR -Kritikerin, war Kapitel eins denn doch nicht. Fast im Gegenteil.

„Horizon: An American Saga“, Regie, Drehbuch (Mit-Autor) und Hauptrolle: Kevin Costner; derzeit in den Kinos.