27. Jahrgang | Nummer 23 | 4. November 2024

Elend als Ressource

von Volker Seitz

Haushaltsmittel sind knapp und es gibt einen wachsenden Finanzierungsbedarf, nicht nur für die marode Infrastruktur und Schulen in Deutschland. Dennoch wollen Entwicklungspolitiker weiter in Milliardenhöhe „Gutes“ in der Ferne tun.

Den Aktivismus der guten Gesinnung muss ich jedoch mit einem Fragezeichen versehen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte werden nicht zur Kenntnis genommen. Unsere Gaben lösen tiefgreifende gesellschaftliche Grundprobleme nicht. Sie schaffen jedoch eine Wohlfahrtsmentalität. „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird zur hohlen Phrase. Dem verheerenden Denken wird weiter Vorschub geleistet, mehr Geld für Afrika bedeute mehr Entwicklung. In allen Ländern, in denen ich tätig war, hatte die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ, heute GIZ für Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) Mühe, überhaupt genügend sinnvolle Projekte zu finden, um die Mittel loszuwerden. Der stetige Mittelzuwachs ist zu einem Zwangskorsett geworden, weil die Mittel ausgegeben werden müssen, sonst verfallen sie.

Leider wird die Frage, ob Hilfe auch schaden kann, selten gestellt. Welche Hilfsorganisation hat sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, in einem überschaubaren Zeitraum nicht mehr zu existieren? Sie wollen sich nie wieder entbehrlich machen. Das Afrika-Bild wird von den sich selbst erhaltenden Hilfswerken und Helfern, die die Hilfe als Lebensjob betreiben, geprägt.

In mehr als 50 Jahren sind rund zwei Billionen US-Dollar Entwicklungshilfe auf den afrikanischen Kontinent geflossen. Trotzdem werden die Minimalziele nicht einmal annähernd erreicht. Die internationale Hilfsindustrie ist personell und finanziell gigantisch. Viele meiner Kollegen und ich haben aus eigener Anschauung den Eindruck: In manchen Staaten gibt es mehr Hilfsorganisationen als Firmen.

Es gibt immer noch ein unübersehbares Wohltätigkeitsnetz von staatlichen und privaten Hilfsagenturen, alle wollen „helfen“. Unzählige „Projekte“ oder „Programme“ wurden als Fremdkörper in den Ländern durchgeführt. Wie ich immer wieder in 17 Jahren in Afrika beobachten konnte, haben diese Projekte kurz nach Beendigung keine Spuren mehr hinterlassen, weil sie die Menschen abhängig gemacht haben, sie an den Zustand der stetigen Hilfe gewöhnt und so die Bildung der Eigeninitiative behinderten. Während ihrer Laufzeit waren sie erfolgreich, da es an Geld für Betriebsmittel, Fahrzeuge und hohe Gehälter nie gemangelt hat.

Nirgendwo ist es gelungen, afrikanische Antriebskräfte zu wecken und zu stärken. Zum mangelnden Entwicklungsstreben haben wir kräftig beigetragen, weil wir den Afrikanern nicht zutrauen, zum Beispiel Straßen oder Brunnen ohne ausländischen Beistand zu bauen. Was hindert denn afrikanische Staaten, ihre geringen Lohnkosten zu nutzen und Straßen arbeitsintensiv zu bauen. Meine Antwort: Warum sollen sie Probleme lösen, wenn sie „outsourcen“ können.

In einem zentralafrikanischen Land bekam zu meiner Zeit ein lokaler Berater der GTZ monatlich 7000 Euro. Zum Vergleich: Ein Minister erhielt monatlich offiziell 1200 Euro. Der Berater baute sich zwei Häuser, die er teuer an ausländische Entwicklungshelfer vermieten konnte.

Dass – mit Ausnahme dieses Entwicklungshilfefunktionärs – die Armut in diesem Land nicht abnimmt, dafür mache ich vor allem zwei Gruppen verantwortlich: korrupte afrikanische Herrscher und ihre Günstlinge sowie eine westliche Entwicklungshilfe, die diese Oberschicht unfreiwillig finanziell mästet und gleichzeitig eine riesige Helferindustrie aufgebaut hat, die fürstlich lebt. An einer Qualitätskontrolle und Überwachung der Wirksamkeit der ausgegebenen Steuergelder hat keine der beiden Gruppen ein Interesse.

Die sogenannte Entwicklungshilfe subventioniert immer noch schlechte Politik. Solange immer wieder Ausreden gefunden werden, warum korrupte Regime unterstützt werden sollen, werden auch die Fluchtursachen nicht verringert. Die Profiteure der Entwicklungshilfe behaupten: Hilfe funktioniert. Aber warum geht es heute den meisten afrikanischen Ländern schlechter als zum Ende der Kolonialzeit? Es werden kaum Arbeitsplätze vor Ort geschaffen und das breite Elend wird nicht beseitigt, weil Zielgruppen nicht in die Maßnahmen einbezogen werden. Afrikanische Kritiker werden nicht zu Diskussionen mit den Gebern eingeladen.

Kein Kontinent erhält mehr Geld als Afrika, doch Not und Elend hat das viele Geld nicht aus der Welt schaffen können. Deshalb plädiere ich nach 40 Jahren Erfahrung mit Entwicklungshilfe aus Respekt vor der Leistungsfähigkeit der afrikanischen Gesellschaften, die bisherige Hilfe durch wirtschaftliche Zusammenarbeit auf der Grundlage beiderseitiger Interessen zu ersetzen. Kritikern wie mir wird eine Diffamierung der Entwicklungshilfe vorgeworfen. Dabei gibt es auch afrikanische Stimmen, die scharfe Kritik üben.

Die Kamerunerin Axelle Kabou kritisierte bereits Anfang der 1990er-Jahre die Entwicklungshilfeindustrie und afrikanischen Eliten in ihrem Bestseller „Weder arm noch ohnmächtig“. Die Ökonomin aus Kamerun war lange selbst im Business der Barmherzigkeit tätig. 2008 war ich Botschafter in Kamerun und wurde vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler beauftragt, Axelle Kabou zu finden. Horst Köhler ist bislang der einzige Bundespräsident, der sich engagiert mit Afrika beschäftigte. Es war deshalb nicht verwunderlich, dass er mit der prominenten Entwicklungshilfekritikerin sprechen wollte. Ich brauchte allerdings ein paar Wochen, um sie über einige Umwege in einem Ort, den ich auch heute nicht offenlegen will, ausfindig zu machen. Sie war wegen heftiger Drohungen aus Afrika in Frankreich untergetaucht und wollte letztlich – aus Sicherheitsgründen – nicht mit dem Bundespräsidenten sprechen.

Ihre Aussagen in dem Buch: „Die Afrikaner sind die einzigen Menschen auf der Welt, die noch meinen, dass sich andere als sie selbst um ihre Entwicklung kümmern müssen. Sie sollten endlich erwachsen werden“ und „[…] dass sich der Afrikaner für die Gegenwart gar nicht zuständig fühlt“. Das Buch löste in Kreisen afrikanischer Politiker erhebliche Wut aus, denn bis dahin – und leider auch noch heute – können die Politiker unser schlechtes Gewissen gewinnbringend bewirtschaften. Die Täter, so Axelle Kabou, seien immer die anderen, die Opfer immer die Afrikaner, ein Ritual des Beschönigens und Beschuldigens verbinde schwarze Eliten und weiße Helfer.

Afrikanische Staatschefs empfinden den Hang des Westens zum Paternalismus und Samaritertum nicht als Schande. Axelle Kabou formuliert das so: „Gelähmt durch Fremdfinanzierung und Nahrungszufuhr von außen, reagiert die politische Klasse bisweilen wie ein Süchtiger unter Entzug und verlangt reflexartig die fehlende Spritze der ausländischen Hilfe.“ Der Westen wiederum müsste sich fragen: Woher nehmen wir das Recht, durch Entwicklungshilfe in das Leben von Menschen einzugreifen und es zu verändern, die auf andere Weise als wir ihre Existenz gestalten, mit anderen Wertvorstellungen und anderen Lebensumständen?

Entwicklungspolitik ist immer noch intransparent und unzugänglich. Es gibt nur eine Wirkungsvermutung. Der Erfolg von Hilfe wird immer noch quantitativ gemessen, in erster Linie die Quantität der ausgegebenen Euro. Es ist unfassbar, was Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der KfW-Bank über ihre Projekte berichten; es gibt nahezu keine nachhaltigen Verbesserungen für die Menschen vor Ort trotz enormer Geldbeträge, die investiert werden – in was oder wen auch immer. Das Schlimmste aber: Innerhalb der GIZ beziehungsweise KfW ist jegliche konstruktive Kritik an den Projekten tabu. Wer Kritik oder Nachfrage wagt, wird entlassen und erhält nie wieder eine Beschäftigung bei der GIZ oder KfW. Deshalb halten die meisten still. Mehrfach berichteten mir kritische Entwicklungshelfer von diesen Zuständen.

Eine schlüssige Erklärung, warum sich nichts ändert, liefert auch Frank Bremer in seinem 2021 erschienenen Buch „50 Jahre Entwicklungshilfe – 50 Jahre Strohfeuer“. Bremer war jahrzehntelang selbst als GTZ-Experte in verschiedenen afrikanischen Ländern, zu meiner Zeit auch in Benin, tätig. Er erläutert, warum niemand aus dem goldenen Käfig ausbrechen will: „Jede in ein Projekt entsandte Fachkraft verfügt über ein sehr gutes und weitgehend steuerfreies Gehalt mit Auslands- und Klimazulagen, bezuschusstes Wohnen und Schulbeihilfen sowie attraktive Urlaubsregelungen. Hinzu kommen großzügig ausgestattete Arbeitsplätze, Dienstfahrzeuge mit Treibstoff ohne Beschränkungen für Reisen im Inland sowie zahlreiche Auslandsreisen für Fortbildungen und Konferenzen, zumeist in der Business-Class. Für die Projektarbeit stehen ihnen alle gewünschten Mittel zur Verfügung, auch wenn sie für die Durchführung nicht wirklich notwendig sind. Solche Bedingungen sind in ihrem Gastland sonst nicht zu finden und in ihrem Herkunftsland auch nur selten.“

Volker Seitz war in verschiedenen Funktionen für das Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er ist Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“, der bisher in elf Auflagen erschienen ist.

Berliner Zeitung, 18.09.2025. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.