27. Jahrgang | Nummer 24 | 18. November 2024

Die zweite Okkupation

von Jutta Grieser

Seit Wochen jubeln Politiker wie Medien. Der Bundeskanzler ließ sein Volk wissen: „Der Sieg der Freiheit im Herbst 1989 war ein gesamteuropäischer Sieg. Der Fall der Berliner Mauer vor 35 Jahren war der glückliche Höhepunkt einer gesamteuropäischen Entwicklung, ein Glückstag, für den wir Deutschen bis heute dankbar sind.“ Wesentlich nüchterner hingegen Egon Krenz am gleichen Tage in der Berliner Zeitung: „Es trägt sich einfach zu. Erst im Nachgang wird einem die ganze Tragweite dessen bewusst, was da eigentlich geschehen ist.“ Und der Ex-Staats- und Parteichef ließ seinem Unmut freien Lauf, dass es ihn „wütend“ mache, wenn in diesem Kontext „eine Menge Unwahrheiten“ verbreitet würde.

Seinen Unmut teilen viele. Denn augenscheinlich wird nach der Übernahme der DDR nunmehr auch noch deren Geschichte vereinnahmt. Mehr noch: Sie wird der westdeutschen Lesart unterworfen und für die  aktuelle Propaganda der siechen politischen Klasse instrumentalisiert. Tatsächlich gingen im Herbst 1989 die mündigen DDR-Bürger auf die Straße, weil sie eine andere DDR wollten, eine, die es beispielsweise ihren Bürgern erlaubte, in alle Himmelsrichtungen zu reisen. In der Folge gab es neben anderen Veränderungen auch ein neues Reisegesetz, dessen Inkrafttreten auf einer Pressekonferenz am 9. November angekündigt wurde, was die ARD-Tagesthemen mit dem Satz vermeldeten, die DDR habe ihre Grenzen geöffnet. Diese Ansage („sofort, unverzüglich“) wiederum ließ Massen von Menschen im Osten an die Grenzübergänge strömen, und die uninformierten Uniformierten dort taten das einzig Vernünftige: Sie hoben die Schlagbäume und ließen die DDR-Bürger passieren. Die Grenzer hatten Befehl nicht zu schießen. Auch das wird immer unterschlagen.

Mit der Grenzöffnung wurde eine Entwicklung im Osten in Gang gesetzt, die zunehmend vom Westen aus beeinflusst und partiell sogar gesteuert wurde. So hob beispielsweise Kanzler Kohl im Gästehaus der Bundesregierung in der Westberliner Pücklerstraße Anfang Februar 1990 die „Allianz für Deutschland“ aus der Taufe, deren wichtigster Teil – die CDU der DDR – bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 stärkste Kraft wurde. Lothar de Maizière, bis dato als CDU-Chef Minister im Modrow-Kabinett, bekam den Auftrag zur Regierungsbildung. Er machte Matthias Gehler zum Staatssekretär und Regierungssprecher. Der gelernte Anlagenelektriker und Liedermacher aus dem sächsischen Crimmitschau war als Theologe bei der CDU-Zeitung Neue Zeit tätig und im Spätherbst ’89 als Referent des CDU-Generalsekretärs in den Parteivorstand berufen worden. So kam denn eins zum anderen und Gehler schließlich zu einem Regierungsamt. Dieses erledigte sich mit dem Ende der DDR.

Der nunmehr 70-jährige hat sich lange bitten lassen, seine Erinnerungen an dieses halbe Jahr als Regierungssprecher niederzuschreiben. Der Verlag war daran interessiert, weil Gehlers seinerzeitige Stellvertreterin seit 2005 im Bundeskanzleramt saß und er sich Erhellendes und Enthüllendes aus dem Nähkästchen versprach. Der in Thüringen lebende Gehler schob immer wieder Gründe vor, weshalb es nicht so recht voranging mit dem Schreiben, nicht zuletzt seine leitende Tätigkeit beim MDR. Dann aber ging er in Rente, auch Angela Merkel war mittlerweile in den Ruhestand getreten, und das Manuskript fand seinen Abschluss.

Wenn man Gehlers Buch liest, muss man aus verschiedenen Gründen froh sein, dass es erst jetzt erschien. So entging die Publikation der Gefahr, in der Unmasse der Nachwende-Erinnerungsliteratur unterzugehen und mit Ignoranz bestraft zu werden. So viele genuine DDR-Autobiografien stehen heute nämlich nicht mehr in den Buchhandlungen. Und die jahrzehntelange Distanz zu den darin geschilderten Vorgängen sorgte dafür, dass der Zeitgeist verweht ist, der in den seinerzeitigen Memoiren vorherrschte und mit dem oft solche Texte auch rezipiert worden sind. So ist denn ein erstaunlich offenes, ehrliches Zeugnis entstanden, aus dem viel Neues zu erfahren ist. Kein Geßlerhut wird gegrüßt, kein Klischee bedient. Vermutlich wäre manche bezeichnende Episode mit Beratern und anmaßenden Politikern aus dem Westen vor Jahren noch nicht so erzählt worden, weil die Gutsherrenanmaßung, mit der sie damals auftraten, schamhaft beschwiegen worden wäre. Jetzt aber wird selbstbewusst erzählt, wie etwa ein Bundesminister auf der Fahrt nach Adlershof mit dem Kolonisatoren-Blick aus dem Auto Gehler auffordert, ihm das Haus am Wegesrand zu besorgen, weil es ihm gefalle. Oder wie der Chefredakteur der BILD die DDR-Regierung der Faulheit zeiht und Gehler sich darüber beschwert, worauf er von dem Springer-Journalisten angeraunzt wird, ob er nun die deutsche Einheit wolle oder nicht – womit gesagt war, dass die DDR-Institutionen gleich welcher Art systematisch madig gemacht werden müssten, damit die Ostdeutschen ihr DDR-Joch abschüttelten und in den rettenden westdeutschen Schoß drängten. Ja, antwortete Gehler am Telefon, er sei für die Einheit. „Aber nicht so – und nicht mit Ihnen.“

Gehler gehört zu jenen aufrechten Zeitzeugen, die eben nicht die Unwahrheit über jene Zeit verbreiten. Zur Wahrheit gehört, dass Regierungschef Lothar de Maizière sich eben nicht unterwarf und die DDR verkaufte. Er hat tapfer unter der DDR-Fahne in Moskau wie in Washington sowie in Bonn und Berlin gekämpft, wie Gehler, der ihn auf seinen Reisen begleitete, sehr plastisch beschreibt. Nur im eigenen Lande galt de Maizière nichts, weder damals noch heute. Aber das kennt man schon aus dem Matthäus-Evangelium: „Ein Prophet gilt nirgend weniger denn in seinem Vaterland und in seinem Hause.“ Gehler würde auch nicht behaupten, dass „der Sieg der Freiheit im Herbst 1989 […] ein gesamteuropäischer Sieg“ gewesen sei. Wenn damals etwas „gesiegt“ hatte, dann allenfalls die Vernunft und das hohe zivilisatorische Niveau der ostdeutschen Gesellschaft, welche auf den Einsatz von Gewalt verzichtete. Auf allen Seiten. Und genau dies erklärt den gärenden Unmut der Ostdeutschen: Ihnen wird auch das systematisch genommen. Mit militanten Phrasen und hohlen Floskeln, die schließlich in die Hirne und Geschichtsbücher Eingang finden.

Einiges hat Gehler bei aller Offenheit dennoch verschwiegen. An einer Stelle offenbart er: „Manches habe ich nicht geschrieben, weil mir Freundschaften wichtiger sind.“ Historiker werden dies bedauern und Leser rätseln. Diese Zurückhaltung spricht jedoch für den Autor und seinen lauteren Charakter. Es besteht immer Hoffnung, dass sich Menschen ändern können. Selbst wenn sie eine Zeitlang dummes Zeug redeten und Opfer ihrer eigenen Propaganda waren.

Matthias Gehler: „Wollen Sie die Einheit – oder nicht?“ Erinnerungen des Regierungssprechers. edition ost, Berlin 2024, 256Seiten, 18,00 Euro.