27. Jahrgang | Nummer 21 | 7. Oktober 2024

Vom argen Weg der Erkenntnis und von deren möglichen Folgen

von Hannes Herbst

Das schlimmste Gewissen ist das reine,

damit können Sie sich alles erlauben.

 

Rechne mit allem, wenn Millionen Bürger

ihre Maske allzeit bereit am Ellenbogen tragen.

 

Der Schoß ist fruchtbar noch?

Aber heute handelt sich’s um den Schoß der Demokratie.

 

Erik Werchow

 

Der Rezensent hat lange überlegt, ob er seit jener historischen Zäsur, die ihm mit der vom Dresdner Kabarettisten Uwe Steimle vorgenommenen Apostrophierung als Kehre weit trefflicher bezeichnet scheint als mit dem allgemein üblichen Terminus technicus Wende, je wieder einen subversiven Roman gelesen hat. Also einen, dessen Verfasser den Umsturz bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse befördern will. Der Besprecher konnte sich jedoch keines solchen Romanes erinnern. Allerdings – Birk Meinhardts gerade erschienenen („Abkehr. Ein Hafttagebuch“) in dieses Genre einzureihen, zögerte er nicht einen Augenblick.

Der Roman spielt in einer nicht näher bestimmten Zukunft, die aber offenbar längst begonnenen hat. Verhandelt wird die in langen Jahren gegen äußere Hindernisse, vor allem aber auch innere Widerstände hart erkämpfte, unwiderrufliche Abnabelung des Protagonisten und Ich-Erzählers Erik Werchow von der „Demokratie in ihrer hier eingerichteten Spielart“. Hier meint unser aller deutsche Gegenwart und den Werte-Westen schlechthin.

Meinhardts Gegenstand ist dabei, „was sich seit Zweizwanzig im Lande ausgebreitet“ (50) und dem hiesigen Gemeinwesen eine unverkennbare Tendenz hin zum Totalitären verliehen hat – durch teils offen grobschlächtige, teils subtil herbeigeführte politische, gesellschaftliche, mediale, auch strafrechtliche und andere Veränderungen im Koordinatensystem und im Gebälk unserer lebendigen Demokratie, als die gerade vorantreibende Akteure der entsprechenden Prozesse sie gern bezeichnen.

An eher grobschlächtigen Erscheinungsformen dieser Entwicklung führt Werchow unter anderem „die Erniedrigung und Entwürdigung“ auf, die Unangepassten, Andersdenkenden, Ungeimpften, in einem nicht zu engen Sinne des Wortes Nicht-Mainstreamigen, wenn sie sich denn zu erkennen geben, inzwischen reflexartig „von Politikern, Bürgermeistern, Moderatoren, Kabarettistinnen“ und insbesondere aus den Medien entgegenschlägt: „[…] aha, ein Bekloppter […]. Ein gefährlicher Sozialschädling. Du bist rechts unten, bist wie ein Blinddarm nicht essentiell fürs Überleben des Gesamtkomplexes. Du nimmst die Gesellschaft in Geiselhaft, dein Alltag muss unangenehmer werden. […] Du sollst nicht mehr arbeiten und kein Geld mehr verdienen dürfen. Du sollst Strafzahlungen leisten. Notfalls musst du in Beugehaft genommen werden. Nach Madagaskar kann man dich ja nicht verschicken.“

Eher subtil („schnell und geräuschlos“), daher von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, so wird es im Roman beschrieben, sei von treibenden Kräften des Polit- und Justizestablishments an Veränderungen des Strafrechts gearbeitet worden. Wodurch „neue Straftatbestände in die Gesetzbücher kamen, der erste hieß Delegitimierung des Staates“. Das „war nichts anderes“ als der Straftatbestand der Verächtlichmachung im Strafgesetzbuch der DDR. – Ganz soweit „fortgeschritten“ ist die Rechtspraxis im gegenwärtigen Deutschland zwar noch nicht. Doch auf die Agenda gesetzt könnte die Sache gleichwohl bereits sein. So war schon im Januar 2023 einem Bericht des Cicero zu entnehmen: „Als die Proteste gegen die Corona-Politik zunehmend unangenehm für die Bundesregierung wurden, erfand der neue Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang eine neue Extremismus-Kategorie: die ‚verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates‘. So konnte er den harten Kern der nicht richtig ins Links-Rechts-Schema passenden Querdenker-Szene mit geheimdienstlichen Mitteln ins Visier nehmen.“

Grundsätzlich vertritt der Autor von „Abkehr“, wie er der Berliner Zeitung verriet, die Auffassung, dass Demokratie „systemisch“ ausgrenze – das sei „in ihr angelegt“ – und zwar nach folgendem Muster: „Eine Minderheit, und sei sie noch so groß, findet kein Gehör und wird auf subtile und manchmal auch brachiale Weise mundtot gemacht.“ Der Rezensent fühlte sich an einen politischen Witz erinnert, der zu DDR-Zeiten hinter vorgehaltener Hand erzählt wurde: „Frage: Gibt es einen Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie? Antwort: Gewiss – in der Demokratie macht die Mehrheit mit der Minderheit das, was in der Diktatur die Minderheit mit der Mehrheit macht.“*

Selbst so besehen bleibt die Demokratie zwar das geringere Übel, worauf schon Churchill mit seinem berühmten Diktum von der Demokratie als der schlechtesten aller Regierungsformen, abgesehen von all den anderen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden seien, angespielt hat. Konkret von Ausgrenzung und Schlimmerem Betroffenen allerdings wird derlei Nonchalance kaum zum Trost gereichen. Für die fragt Werchow vielmehr völlig zu Recht: „Was ist zerstörerischer für den Körper eines Menschen und für seine Seele, die direkt ihm entgegenschlagende Aggression oder die verdeckte, verschlungene, vielfach verknüpfte?“

Meinhardts Gegenstand ist ebenso die Frage, was einem Individuum, dass die erwähnten Veränderungen hin zum Totalitären nicht nur nicht freudig begrüßt oder wenigstens gleichgültig ignoriert, sondern das darunter leidet, damit hadert, gar von innerer Opposition zu aktiver Widerständigkreit findet, seitens der Staatsmacht und ihrer Exekutivorgane widerfahren kann.

Eric Werchow bedient sich für seine zunächst bloß ganz individuelle öffentliche Widerständigkeit eines Sujets, das auch im Œvre Wolfgang Mattheuers, politisch konnotiert und prägend, Verwendung gefunden hat – des Masketragens: Die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Eigenheiten der politischen Machtausübung lassen es angeraten sein, das eigene (innere) Antlitz hinter einer Larve zu verbergen, um nicht ins Blickfeld der staatlichen Auguren und infolgedessen womöglich gar in deren Mühlen zu geraten. Doch während die Darstellungsweise bei Mattheuer – nicht frei von einem resignativen Unterton – weitgehend im Konstatierenden verharrt, geht Werchow einen Schritt weiter und überschreitet damit jene Grenze, die die Staatsmacht auf den Plan ruft.

Mehr soll hier nicht verraten werden, denn nichts ist öder und der gewünschten Verbreitung eines Buches abträglicher als Rezensionen, deren Verfasser vermeinen, durch besonders detaillierte inhaltliche Angaben das Interesse potenzieller Leser zu wecken, während sie diesen schlechtesten Falls tatsächlich doch nur die eigene Lektüre ersparen.

 

PS: Wäre Meinhardts Gegenstand die katholische Kirche, würde ihm die Adelung als blasphemisch schwerlich erspart bleiben, und wäre das Buch in Zeiten erschienen, zu denen der Index librorum prohibitorum („Verzeichnis der verbotenen Bücher“), erstmals publiziert 1559 und bis 1966 in Kraft, noch existierte, hätte die zuständige vatikanische Kongregation „Abkehr“ mit einiger Wahrscheinlichkeit auf denselben gesetzt.

Eines vergleichbaren Versuches haben sich all jene westdeutschen Verlage befleißigt, die Meinhardts Manuskript mit wechselnden euphemistischen Begründungen, aber unisono ablehnten. Wobei „Passt nicht in unser Programm.“ vielleicht noch die ehrlichste gewesen sein dürfte …

 

* – Das war damals allerdings auch für die alte BRD zugleich eine bittere Beschreibung von Realität – wenn man etwa an das KPD-Verbot von 1956 und mehr noch an den von einer SPD-geführten Regierung unter Willy Brandt in Szene gesetzten sogenannten Radikalenerlass von 1972 denkt. Durch letzteren wurden insgesamt 3,5 Millionen Bundesbürgern geheimdienstlich überprüft und mindestens 1500 durch Nichteinstellung oder Entlassung mit Berufsverboten belegt.

 

Birk Meinhardt: Abkehr. Ein Hafttagebuch, Vabanque Verlag, Berlin 2024, 282 Seiten, 22,00 Euro. Das Buch kann direkt beim Verlag bestellt werden.