27. Jahrgang | Nummer 22 | 21. Oktober 2024

Nahöstliches Kriegspanorama

von Stephan Wohanka

Wenn ich alles zusammennehme, was in jedermann zugänglichen Quellen zu lesen ist; und wenn ich dann noch die Logik der Ereignisse, die einzelnen Geschehnisse, die sich zu diesem Ganzen fügen, hinzunehme, komme ich zu dem Schluss, dass das, was sich gerade im Nahen Osten abspielt, wenigstens in Teilen einem Plan folgt …

Es begann mit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023. Wobei dieses eine Vorgeschichte hat in Gestalt der von Israels Regierung unter Benjamin Netanyahu gewollten Stärkung ebendieser Hamas. Um diese als Gegengewicht gegen die Fatah im Westjordanland aufzubauen und so Zwietracht zu säen unter den Palästinensern nach dem Prinzip „teile und herrsche“ und um dann behaupten zu können, Israel habe keinen Ansprechpartner unter selbigen. Mit viel Geld – von 30 Millionen Dollar pro Monat ist die Rede – wohl vor allem aus der Golfregion wurde also die Hamas mit Duldung Israels unterstützt; diese nutzte die Mittel auch, um aufzurüsten, Tunnel zu bauen und militärische Einrichtungen in zivilen Gebäuden unterzubringen.

Initiiert durch die USA kam es zeitlich parallel seit 2020 zu einem Prozess der Annäherung Israels an arabische Staaten; das so genannte Abraham-Abkommen. Bis 2023 kam es zwischen Israel und den VAE, Bahrain, Marokko und Sudan zu unterschiedlich ausgestalteten Abkommen und Beziehungen; ein Deal mit Saudi-Arabien stand wohl kurz bevor. Die Hamas interpretierte das als schwindende Unterstützung in der arabischen Welt und wollte diesen Prozess torpedieren – mit dem 7. Oktober. Israels Regierung war über verschiedene Quellen von der bevorstehenden Attacke informiert – und nahm diese Erkenntnisse jedoch nicht zum Anlass, dem Angriff vorzubeugen. Sie handelte so zumindest grob fahrlässig; ob sie diese Warnungen gar bewusst ignorierte? Diese Frage bleibt offen, jedenfalls spielte der Angriff Israels Regierung letztlich in die Karten, wird als Chance begriffen, warum? Um die Regierung Israels stand es schlecht; das Land war in Aufruhr ob einer Justizreform, die Netanyahu vor juristischen Verfolgungen schützen sollte.

Das Ausmaß der von der Hamas verübten Grausamkeiten einschließlich der Geiselnahme, war ungeheuerlich; es stellte das zionistische Prinzip infrage, wonach der Staat Israel den Juden weltweit eine sichere Heimstatt sein sollte. Daher geriet die israelische Regierung unter massiven Druck; es schien eine Frage weniger Tage, bis der tief verunsicherte Netanyahu zurücktreten würde. Seine Weigerung, der Befreiung der Geiseln Priorität gegenüber der Kriegsführung gegen die Hamas einzuräumen, verschärfte die innenpolitische Lage im Lande nochmals und beschädigte Netanyahu weiter. Der zeigte jedoch eiserne Nerven und hielt an der Macht fest. Heute ist er der zweitbeliebteste Politiker des Landes; ein Ende seiner Regierung ist nicht abzusehen und trotzdem will eine relative Mehrheit der Israelis eine diplomatische Lösung des Nahostkonflikts.

Dass Israel hart zurückschlagen würde, war der Hamas klar; und gewollt: Die arabische Welt, dort eher wieder die „Straße“ denn die Regierungen, rückte von Israel ab. Schwerer wiegt, dass das möglicherweise das Humanitäre Völkerrecht brechende Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen in Gestalt massiver Bombardements, Vertreibung der Bevölkerung und Herbeiführen einer humanitären Notlage Israels Ruf in der Welt nachhaltig schädigte; teils auch bei seinen Verbündeten. Eine entsprechende Klage ist beim Internationale Gerichtshof im niederländischen Den Haag anhängig. Die Hamas wiederum leistete dem Vorschub, indem sie – wie oben schon gesagt – Militärisches in zivilen Gebäuden installiert hatte und nun die eigene Bevölkerung als Schutzschild missbrauchte. Weder Israel, noch die Hamas nehmen Rücksicht auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen.

Erwartungsgemäß griff die aus dem Libanon an der Nordgrenze Israels agierende Hisbollah zugunsten der Hamas in den Krieg ein. Es kam zu dem vorhersehbaren militärischen Geplänkel – Raketen auf Israel, Beschuss des Libanon. Und dann der Donnerschlag im Sinne des Wortes: Die Attacke des israelischen Geheimdienstes Mossad mittels explodierender Kommunikationsgeräte auf Mitglieder der Hisbollah-Miliz am 17. und 18. September. Neben Toten wurden mehr als 3000 Hisbollah-Kämpfer verletzt; es gab auch zivile Opfer.

Wie unterwandert man eine paramilitärische Organisation und „rüstet“ sie mit Geräten aus, die man als Sprengfallen gegen sie einsetzen kann? Die Idee dazu reicht wohl bis 2015 zurück; man hatte beobachtet, dass die Hisbollah ihre Kommunikation weg von leicht abhörbaren Mobiltelefonen hin zu kaum abhörbaren Walkie-Talkies verschob und es entstand der Plan, diese Handfunkgeräte für die Hisbollah zu produzieren – mit einem kleinen Sprengsatz darin. Mehr als ein Jahr vor dem 7. Oktober 2023 war der Mossad bereit und die Fertigung der Geräte – sogenannter Pager – begann, und zwar in Israel. In Ungarn wurde eine Firma zur Abwicklung des Geschäfts mit der Hisbollah gegründet. Das Unterfangen gelang; ab Februar 2024 begann die Hisbollah, rund 5000 Pager an ihre Kämpfer zu verteilen.

Damit hatte das begonnen, was ich eingangs als „Plan“ bezeichnet habe – Israel versucht seitdem planvoll, die Hisbollah systematisch zu schwächen, ja zu dezimieren. Die Welt wurde in den letzten Wochen Zeuge davon, wie tief Israel in die Strukturen seiner Gegner eingedrungen war. Die jahrelange geheimdienstliche Untergrundarbeit konnte nun „produktiv“ gemacht werden und bescherte Israel eine in Kriegszeiten seltene militärische Überlegenheit. Das musste wenigstens Teile die israelische Führung regelrecht elektrisieren. Es erhebt sich auch hier die Frage wie Israels Vorgehen völkerrechtlich zu bewerten sei – gezielte Angriffe auf Zivilisten sind illegal. Desgleichen ist zu fragen, ob Militärschläge allein schon eine Strategie ausmachen?

Vor dem „Pager-Angriff“ hatte die israelische Armee sowohl im Libanon als auch in Syrien tödliche Attentate auf führende iranische Generäle verübt, die für militärische Kooperation des Irans mit der Hisbollah zuständig waren; desgleichen gelang es der israelischen Armee, viele Hisbollah-Kommandeure umzubringen. Und der Mossad war auch imstande, Ismail Hanija, den Chef der Hamas, in Teheran und das auch noch in einem Gästehaus der Revolutionsgarden, Irans Elitestreitmacht, zu töten; ein Gesichtsverlust ohne gleichen.

Zehn Tage nach der „Pager-Operation“, am 27. September, warf die israelische Luftwaffe bunkerbrechende Riesenbomben auf das etwa 50 Meter tief in der Erde gelegene Hauptquartier der Schiitenmiliz in Beirut und tötete so deren Chef Hassan Nasrallah; für viele im schiitischen Lager die Nummer zwei hinter Irans Führer Chamenei. Dass es mit Nasrallah auch einen Top-Terroristen traf, steht wohl außer Frage; weltweit wird er beschuldigt, für die Ermordung zahlloser Israelis, Hunderter Amerikaner und Dutzender Franzosen verantwortlich zu sein.

Die Hisbollah ist nach den massiven Angriffswellen Israels so geschwächt und gedemütigt wie seit Jahren nicht; letzteres gilt auch für den Iran. Ohne Chef und nach Tötung fast der gesamten oberen Führungsebene ist zwar unklar, wer innerhalb der Hisbollah nun das Sagen hat; die Angriffen auf Israel gehen jedoch unvermindert weiter. Und Israel antwortet mit einer zusehends schrankenlosen Kriegführung, greift die UNO-Blauhelmmission Unifil im Libanon an.

Damit kommt dem Iran als Nutznießer, Schutzmacht und Unterstützer der Hisbollah nun eine Schlüsselrolle zu. Der Iran steckt in einem Dilemma – reagiert er aus Sicht seiner schiitischen Anhänger weltweit und namentlich der von ihm abhängigen Milizen in Syrien, Irak und Jemen nicht „angemessen“, verspielt er Vertrauen. Greift er Israel zu „scharf“ an, riskiert er massive Vergeltungsschläge Israels, auf die namentlich Netanyahu schon jahrelang regelrecht „gierig“ nur wartet. Vor allem Irans Atomprogramm ist ihm ein Dorn im Auge. Nachdem der Iran nun Israel mit neu entwickelten Hyperschall-Waffen und auch ballistischen Raketen angriff, sieht Netanyahu die Stunde der „großen“ Vergeltung gekommen. Es geht wohl nur noch darum, welche Ziele im Iran angegriffen werden – die iranischen Nuklearanlagen mit den Anreicherungsanlagen in Natans oder aber die Infrastruktur der iranischen Öl- und Gasindustrie. Beides Ziele, die „zuverlässig“ wiederum eine harsche Reaktion des Iran bewirken werden … Und ich denke, die erste Option passte ideal in Israels Plan – nachdem das militärische Potenzial der Hisbollah, das dem Iran bisher als Drohkulisse gegenüber Israel zum Schutz für sein Atomprogramm diente, stark geschmälert ist.

Oder war es wenn nicht auch Strategie, so doch Vorstellung der Hamas, mit dem Terroranschlag vom 7. Oktober den Nahen Osten insgesamt zu entzünden, um eine geschlossene Front gegen Israel zu errichten und das verhasste „zionistische Gebilde“ mit vereinten Kräften ins Meer zu stoßen? Diese Frage ist offen; was wir haben: Keinen Frieden; nirgends.

Beendet am 14.10.2024.