27. Jahrgang | Nummer 21 | 7. Oktober 2024

Die Weltbühne in Potsdam

von Klaus-Peter Möller

Zu den 1933 verbrannten Druckschriften gehörte auch Die Weltbühne. Sie war den Nazis sogar besonders verhasst. Von den Rostocker Studenten wurde sie am 5. Mai 1933 an einen „Schandpfahl“ genagelt, zusammen mit Werken von Magnus Hirschfeld, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger, Wicki Baum, Erich Maria Remarque und Emil Ludwig.

Die Weltbühne erschien seit 1905, zunächst als Theaterzeitschrift unter dem Titel Die Schaubühne, ab 1918 mit einer stärkeren Ausrichtung auf politische Fragen unter dem Titel Die Weltbühne als „Wochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“. Ihr Begründer und langjähriger Herausgeber war der Journalist Siegfried Jacobsohn, ein Theaterenthusiast, wie er selten vorkommt. Jacobsohn, am 28. Januar 1881 in Berlin geboren, war an seinem neunten Geburtstag zum ersten Mal im Theater, wo er Schillers „Tell“ sah und eine Liebe für sein Leben fand: das Theater. Bereits im Alter von 15 Jahren stand für ihn fest, dass er Theaterkritiker werden wollte. Er verließ das Gymnasium ohne Abitur, studierte vier Jahre lang in Berlin und besuchte jeden Abend das Theater. Mit seinem ersten Artikel ging er zu Fritz Mauthner. Der ließ ihn sich vorlesen und erklärte: „Drei solche Artikel an sichtbarer Stelle, und Sie gehören zu Berlins bekanntesten Theaterkritikern.“

Aber wie sollte es dazu kommen? Theaterkritiker waren Leute wie der 1898 verstorbene Theodor Fontane, wie Alfred Kerr und Maximilian Harden. Der Zufall half. Der Chefredakteur der Welt am Montag hörte im Theaterfoyer eine gescheite Bemerkung Jacobsohns, erkundigte sich nach dem unbekannten jungen Mann und erfuhr, das sei jemand, der Theaterkritiker werden wolle. Jacobsohn wurde eingeladen und erhielt den Auftrag, über das Theater zu referieren. Die Feuilleton-Redaktion fand seine Rezensionen zu anspruchsvoll, aber Jacobsohn ließ sich nicht einschüchtern. Er sei aus Berlin und ihm werde durch unablässige Arbeit gelingen, in seinen Kritiken „den Nerv dieser Stadt, ihr Tempo und ihren Rhythmus scharf und klar zum Ausdruck zu bringen“.

Jacobsohn schrieb für die Welt am Montag, zunächst auf Honorarbasis, seit 1902 als angestellter Theaterkritiker, wurde aber bereits 1904 nach einem Plagiatsskandal

entlassen. Maximilian Harden verteidigte den jungen Kollegen und erklärte, dass er in der Übereinstimmung von einigen nebensächlichen Allerweltsformulierungen keinen geistigen Diebstahl sehen könne. Außerdem habe Jacobsohn „das Plagiieren nicht nötig“, er sei selbst erwiesenermaßen „zum Urteilen und zum Schreiben befähigt“. Ähnlich äußerte sich Arthur Schnitzler, der Jacobsohn als begeisterten Theaterfreund und glänzenden Stilisten schätzte. Jacobsohn selbst rechtfertigte sich zehn Jahre später mit seiner Schrift „Der Fall Jacobsohn“, die hier wiederholt zitiert wurde und aus der auch die meisten noch folgenden Zitate stammen, und befreite sich so von diesem fatalen „Fall“, der für seine Berufslaufbahn als Journalist zu einem Aus hätte werden können, für ihn aber zu einem Glücksfall wurde.

Während in Berlin der Shitstorm über ihn tobte, begab er sich auf eine Reise, von der er ein halbes Jahr später zurückkehrte, geklärt, gestärkt, gefestigt – und mit dem Plan, eine eigene Zeitschrift zu gründen. Über die Orte, die er besuchte, Wien, Italien, Paris, berichtet er in hinreißenden Briefen: „Ich habe entdeckt, dass hinterm Berge auch Leute wohnen“, was auch ein verstecktes Zitat ist, und dass diesen Leuten „das Theater nicht alles oder nicht viel oder gar nichts ist“. Natürlich besucht er überall die Theater, so oft es ihm möglich war. Er erinnerte sich an seinen Großvater, einen frommen Juden, der bei jedem Schicksalsschlag ausrief: „Garn se letauwo -Alles zum Guten! Auch dies ist zum Guten.“ Was Jacobsohn mit Dehmels Worten für sich so formulierte: „Nichts ist vergebens, denn du wirst.“

Im Frühjahr 1905 kehrte Jacobsohn von Sehnsucht getrieben nach Berlin zurück. Noch am selben Abend musste er ins Theater. Hier war sein Elysium, für das es sich zu leben lohnte. Eine eigene Theaterzeitschrift wollte er gründen. Nur die Finanzierung war noch nicht geklärt. Auch das gelang mit Hilfe von Freunden und Unterstützern. Das erste Heft erschien am 7. September 1905 und trug ein Motto aus Schillers Aufsatz „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“. Und in dieser gedruckten Schaubühne, die sich in den Kriegsjahren von 1914 bis 1918 zur Weltbühne auswuchs, blieb Jacobsohn bis an sein Lebensende Regisseur. Der selbstgefälligen, denkfaulen Gesellschaft und ihrer arrivierten Presse wollte er mit seiner Zeitschrift die Wahrheit vorhalten. „Glück ist Freiheit, und Freiheit ist Mut“. Und das ist ausnahmsweise als wörtliches Zitat ausgewiesen.

Jacobsohn starb am 3. Dezember 1926 völlig unerwartet im Alter von 44 Jahren an einem epileptischen Anfall. Er fiel unglücklich auf ein Kissen und erstickte. Bis zu seinem Tod blieb er Herausgeber der Weltbühne. Zu den Autoren der Zeitschrift gehörten Julius Bab, Alfred Polgar, Lion Feuchtwanger und Herbert Ihering. 1913 stieg Kurt Tucholsky ein mit all seinen verschiedenen Existenzen und wurde für die folgenden Jahre ein ganzer Stab von Mitarbeitern: Kaspar Hauser, Peter Panther, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel und wie sie alle hießen. Für die Zeitschrift schrieben Otto Lehmann-Rußbüldt, der Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft, Walter Mehring, Richard Lewinsohn, Hellmut von Gerlach und Carl von Ossietzky. Nach Jacobsohns Tod wurde die Weltbühne von Tucholsky weitergeführt, 1927 übernahm Ossietzky die Redaktion, während Jacobsohns Witwe Edith den Verlag leitete.

Die Wirkung der Weltbühne war enorm, auch wenn ihre Auflage mit bis zu 15.000 nicht sehr groß war. Nachdem Walter Kreiser 1929 in einem Artikel den heimlichen Aufbau einer deutschen Luftwaffe enthüllt hatte, wodurch die Festlegungen des Versailler Vertrages unterlaufen wurden, wurden Kreiser und Ossietzky wegen Verrats militärischer Geheimnisse in einem politischen Prozess vor dem Reichsgericht in Leipzig zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Ossietzky kommentierte lakonisch: Anderthalb Jahre Freiheitsstrafe? Nicht so schlimm. Mit der Freiheit sei es in Deutschland eh nicht weit her, und die Unterschiede zwischen Eingesperrten und Nichteingesperrten würden allmählich verblassen. Volker Kutscher hat dieses Verfahren in seinem ersten Krimi um Gereon Rath, der durch die Fernsehserie Babylon Berlin bekannt wurde, als historischen Hintergrund genutzt.

1932 wurde Ossietzky als verantwortlicher Redakteur erneut vor Gericht gestellt, weil die Zeitschrift am 4. August 1931 Tucholskys Glosse „Der bewachte Kriegsschauplatz“ veröffentlicht hatte, die einen Satz enthält, der bis heute für Auseinandersetzungen und Rechtsstreitigkeiten sorgt: „Soldaten sind Mörder.“ In diesem Verfahren wurde Ossietzky freigesprochen.

Am 22. Dezember 1932 aufgrund einer Weihnachtsamnestie für politische Gefangene vorzeitig entlassen, wurde Ossietzky am 28. Februar 1933, am Tag nach dem Reichstagsbrand, von den Nationalsozialisten ohne Gerichtsurteil erneut inhaftiert, in verschiedene Konzentrationslager verschleppt und brutal misshandelt. Er starb 1938, noch nicht einmal 40-jährig, in einem Berliner Krankenhaus an den Folgen der Folter. 1936 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen. Ossietzky nahm die Auszeichnung an, obwohl Hermann Göring ihn unter Druck setzte, sie abzulehnen.

Die Weltbühne wurde am 6. März 1933 verboten. Die für den 14. März geplante Ausgabe wurde noch gedruckt, aber nicht mehr ausgeliefert. Die letzte Ausgabe erschien am 7. März 1933 (29. Jahrgang, Nr. 10). Sie enthält einen Artikel „Heroismus und Pazifismus“ von Kurt Hiller in dem es heißt: „Die wunderbarste Erscheinung der Welt: der Geist, ist eine Kraft und nicht ohnmächtig, die sittliche Vernunft kein leerer Wahn, Aktivität keine Illusion; schon gelangen, seit der Urzeit, Akte der Entrohung, Religion, Philosophie, Forschung, die Künste wirken zusammen; aus der zufalls-blutigen Naturalität erwächst langsam, sehr langsam Gesetz und Kultur. Wir stehen am Anfang dieses Prozesses; er heißt Geschichte; erst wenige Jahrtausende währt er. Unsre Pflicht ist, ihn zu beschleunigen.“

Auf der letzten Seite der letzten Nummer steht eine Notiz über die Verhaftung von Ossietzky, an deren Ende es heißt: „[…] unsre Kritik, unsre Warnungen waren mehr als berechtigt. Trotzdem: es wird weitergearbeitet, denn der Geist setzt sich doch durch.“

Tatsächlich gab und gibt es bis heute eine Reihe von Nachfolge-Zeitschriften, die an die von Jacobson begründete Tradition anknüpften. Die Neue Weltbühne setzte die Arbeit der in Deutschland verbotenen Zeitschrift fort, zunächst von Wien aus, 1933 wurde die Redaktion nach Prag verlegt, 1938 nach Paris, wo das Blatt ebenfalls verboten wurde. Die letzte Nummer erschien am 31. August 1939, unmittelbar am Vorabend des Zweiten Weltkrieges.

1946 wurde die Weltbühne in Ost-Berlin von Maud von Ossietzky und Hans Leonhard neu gegründet. Wer in der DDR lebte, kennt die kleinen roten Hefte, die den Namen Jacobsohns und Ossietzkys auf dem Umschlag führten und die einige Jahre von Hermann Budzislawski geleitet wurde. Die Zeitschrift gab sich intellektuell, konnte aber nur erscheinen, weil sie linientreu war. Pazifismus war für das SED-Regime kein akzeptables Konzept. Dort interpretierte man den „Rock für den Frieden“ als Uniformrock. Diese Ostberliner Weltbühne musste ihr Erscheinen 1993 infolge von rechtlichen Auseinandersetzungen um den Titel der Zeitschrift einstellen. Seit 1997 setzen zwei Folge-Zeitschriften das Erbe der Weltbühne fort, Ossietzky (zunächst Hannover) und das Blättchen (Berlin), beide vollständig im Internet zu finden.

An die Schicksale von Tucholsky, Feuchtwanger und all der anderen Autoren der Weltbühne brauche ich hier sicher nicht zu erinnern. Sie dürften bekannt sein. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass es in Potsdam noch einen Ort gibt, an dem die Erinnerung an die Weltbühne wachgehalten werden muss, die ehemalige Druckerei Edmund Stein in der Hegelallee 53, wo die Zeitschrift in den Jahren 1920 bis 1933 gedruckt wurde. Hier las Tucholsky regelmäßig Korrektur, und Ossietzky schrieb so manchen seiner Artikel im nahegelegenen Conditorei-Café Ernst Rabien am Nauener Tor, heute Café Heider, und lief mit den frisch verfassten Manuskripten hinüber in die Druckerei, wo sie unverzüglich in den Satz kamen. Ein Versicherungsmakler hat das Haus vor einigen Jahren stilvoll saniert und den historischen Schriftzug über dem Torweg durch seinen eigenen Namen ersetzt. Zwar erinnert noch eine Inschrift auf dem Hinterhof an die Geschichte des Ortes. Aber die sieht man nur, wenn man es weiß – und wenn das Tor offensteht. Ist es geschlossen, sieht man nichts. Das darf man nicht einfach als Gedankenlosigkeit abtun in dieser Stadt, die zuließ, dass der Turm der Garnisonkirche wiedererrichtet wurde, trotz massiver Proteste, ein schreckliches Symbol einer schrecklichen Zeit. Hat denn niemand etwas gelernt? War wirklich alles vergeblich?

Auch das ist zum Guten. Nichts ist vergebens. Wir werden.

 

Am 22. Mai d. J. wurde auf dem Bassinplatz in Potsdam eine Gedenkbibliothek zur Erinnerung an die Bücherverbrennungen von 1933 eingerichtet. Jeden Monat am 22. sollen hier kleine Vorträge und Lesungen stattfinden. Am 22. Juli stellte unser Autor, stellvertretend und symbolisch für die Jahrgänge 1905 bis 1933 der Weltbühne, das Heft 12, 2024 der Zeitschrift Ossietzky in die Bibliothek ein, das einen Beitrag über die Einrichtung dieses Gedenkortes enthält (S. 379-380).

 

Ossietzky 18/2024. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.