27. Jahrgang | Nummer 19 | 9. September 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Spinne“ – Schaubühne / Verhasst, versöhnt – Goethe zum 275. Geburtstag

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Schaubühne: Versäumnisse von links, Angriffe von rechts

Sie waren eng miteinander, Julia und Kris. Sehr eng. Kris, der Starke, Kluge, Pfiffige – ihr wichtigster Mensch in Kindheit und Jugend; damals, in Bremen. Sie konnten sich alles einander sagen, wollten die Welt retten. Und Kris hielt die Hände über diesen Sturm und Drang; beschützte sie, die Dünnhäutige und so leicht zu Erschreckende.

Einmal, Julia war gerade acht, überkam sie schlagartig „die Trostlosigkeit des Universums“. Und einmal, beim kindlichen Abenteuerspiel, fanden sie einen Ast im Sand, zogen ihn heraus und fanden den „dicken, haarigen Körper einer riesigen dunkelbraunen Spinne“. Fortan geistert das Ekel-Tier als Schreckensbild durch Julias Hirn.

Und liefert der Autorin Maja Zade den Titel für ihr neues Stück. Einerseits erzählt „Spinne“ von einer unerfüllten Liebesgeschichte. Anderseits von einer großen Entfernung zweier Menschen, die insgeheim sich nahe blieben. Und von böser Entfremdung.

Klingt nach großem Drama, bleibt aber stecken im traurigen Bild einer unglücklichen Mittvierzigerin, die als unterbezahlte, mäßig begeisterte Lektorin und Übersetzerin unter prekären Verhältnissen im Berliner Wedding lebt. Die stramm festhält an ihrer von sozialer und globaler Gerechtigkeit geprägten Gesinnung. – Und deren Einsamkeit dazu führt, nach dem Urfreund zu forschen.

Julia wird fündig in Charlottenburg. Dort betreibt Kris, nun auch in Berlin, eine erfolgreiche Anwaltskanzlei. Man verabredet sich beim Edelitaliener. Überraschung: Ehefrau Christiane mit Sohn Korbinian futtern mit. Sehr unsympathisch: Der Bengel ein verwöhnter Naseweis, sie Juristin mit „aufgespritzten Lippen“, momentan Hausfrau. Beide lieben Shoppen und Klamotten.

Bereits beim zweiten Bier gesteht Kris, er berate seine Klientel, „wie man am besten das System austrickst“. Gemeint sind AfD – sowie die Demokratie, an der er zweifle: Sie werde missbraucht. – Der Kontrast ist klar: Die kummervolle Alt-Linke neben dem saturierten Neu-Rechten mit spießigem Anhang. Die Ausgangslage für einen krachenden Konflikt. Denn Kris, man ist umgestiegen auf starken Rotwein, sagt, was Sache sei.

Die AfD, seine Klientel, die einzige Partei, die sich noch ansatzweise um das normale Volk kümmert, um Leute, die wenig oder moderat verdienen; die wie Trump begriffen habe, dass das Volk unzufrieden sei und sich was ändern müsse. Auch müsse man die überfordernde Einwanderung sowie Abhängigkeiten von anderen Ländern begrenzen, Einstellungsquoten bezüglich Geschlecht und Nationalität abschaffen, sich von der Europäischen Union lösen, die ihren Grundgedanken vergessen habe und nur noch finanzielle Interessen bediene, von denen bestimmte Staaten profitierten, was Deutschland zu bezahlen habe. – Die einschlägige Problemliste. Eine Steilvorlage für Julia.

Doch der fällt erstaunlicherweise nicht viel ein. Sie wütet allgemeinplätzig zurück: „Nazi“, „Rassist“, „Arschloch“; „rechter politischer Schrott“, stottert „Gerechtigkeit“ und beschwört – immer, immer wieder kommt die Erinnerung! – alte Gemeinsamkeiten, vergangene Vertraulichkeiten mit Kris. Draußen vor der Tür bei der gemeinsamen Rauchpause. Und wird obendrein gequält von den beständig auftauchenden Horrorbildern mit Spinnen, Würmern, Schlangen, Käfern sowie wirr flackernden Textflächen, die per Video über die Rückwand ihrer Wohnküche flimmern (Bühne Nina Wetzel), dem unwirtlichen Ort, wo Julia uns das alles rückblickend erzählt, was sie einst in Bremen und jetzt im Charlottenburger Lokal erlebte.

Da endlich kommen wir auf Caroline Peters, die jede der vier auftretenden, klischeebeladenen Figuren durch ihre beeindruckend virtuose, dabei präzise Kunst des Sprechens, der Mimik und Gestik vorführt. Da wechseln Charme, Befremden, Häme, Hohn, Sarkasmus, Witz mit Zerknirschung, Wut, Bitterkeit, Genervtheit und Lebensangst. Allein das bravouröse Spiel der Peters macht den von Maja Zade arrangierten Abend interessant. Das bekannte Kompendium rechter Positionen eher nicht, das hier folgenlos auf bekannt linke Gesinnung trifft, sie geradezu sprachlos macht. Oder gilt etwa diese Art Ohnmacht als provokativer Hieb der Veranstaltung?

Dabei avisierte die an der Schaubühne so erfolgreiche Autorin und Meisterin süffiger Konversationsstücke („Status quo“, „Abgrund“, „Ödipus“) mit „Spinne“ einen Monolog über die Schwierigkeiten des Dialogs „trotz politischer Konflikte und unterschiedlicher Lebensentwürfe“. Das allerdings, das Polit-Drama, ging ins Aus.

Immerhin, dank der großen Peters gelang die Skizze einer urbanen, vergleichsweise erfolglosen, irritierend hilflosen, dennoch um Kraft ringenden, aber stramm selbstgerechten, angestrengt emanzipierten Single-Frau, tragisch umwölkt, neurotisch angefressen.

Zum Schluss liegt sie – schlimme Pointe – als schimpfendes, schreiendes, verzweifelt um sich schlagendes Häufchen Elend am Boden ihrer kalten Küche (kein Geld für Heizung). Zuvor bekam sie bedenkenswerte Ratschläge vom coolen Kris: Man müsse vernünftig sein, Träume aufgeben, sich umorientieren. Und wissen, was man ändern könne und was nicht. Nüchternheit! Schließlich habe auch er sich neu orientiert wie viele Ex-Linke ebenfalls. – So hat denn das Publikum zum harten Schluss einiges zum Nachdenken. Gerade jetzt!

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Grandioser Theaterautor, mickriger Theatermacher: Goethe 275

Denkt ein Theaterberliner an ihn, dann freilich zuerst an den Stückeschreiber. An große Sachen, ganz große Sachen: zuerst freilich „Faust“. Zuletzt in Berlin verwegen hingedonnert von Frank Castorf in der Volksbühne. Der Hammer! Die Sensation! Sein unvergesslicher Abgang als Intendant am Rosa-Luxemburg-Platz. Schon ein paar Jahre her.

Vor noch mehr Jahren, auch unvergesslich, aber ganz anders: Peter Steins Inszenierung aller 12110 Verse Teil eins und zwei zur Expo 2000 in Hannover (anschließend Gastspiel in Berlin, Arena Treptow). Absolute Texttreue, unglaublich intensive Text-Exegese. Eine Grips wie Sitzfleisch herausfordernde 22-Stunden-Session über zwei Tage. Eine wohl weltweit bleibende Einmaligkeit – mit Bruno Ganz in der Titelrolle.

Ansonsten hält man sich auffallend zurück mit JWG, mit Klassik überhaupt im Gegenwartstheater. Man traut nicht der indirekten Allgegenwärtigkeit der Texte, ihrer Tiefenwirkung, ihrer bohrenden Suche nach Sinn. Man hat Angst, an Oberflächen kleben zu bleiben. Und an der Sprache, am Sprechen, zu scheitern. Immerhin wagt just in diesem Spätsommer (noch bis 14. September Freilichtbühne Jungfernheide) das Gefängnistheater „Aufbruch“ mit draufgängerischem Mut zur rauen Griffigkeit dankenswerterweise einen „Faust eins“. Im Hochsubventionsbetrieb der Stars aber gilt noch immer: No Goethe! Armes Theaterberlin.

An Goethe als Theatermacher denkt der Theaterberliner eher nicht. Der Herr Geheimrat stand etwa in der Mitte seines Lebens (er wurde 82 Jahre alt), da übertrug ihm sein Chef, der Weimarer Herzog, die Leitung des Hoftheaters. Der längst hochberühmte Autor war nicht sonderlich entzückt: Dem undisziplinierten Publikum und auch den Schauspielern fehlte es an „idealem Anstand“ – die einen lachten viel, die anderen zappelten unschön über die Bühne, anstatt – ein Beispiel – „die Oberarme fest am Leibe zu halten“. Der aristokratische Finanzier forderte mehr Possen, was den Direktor grämte. Nur mit Not hievte er ein bisschen Welttheater mit Shakespeare, Calderón oder Schiller ins Programm Die Sache nervte; schon nach fünf Jahren schmiss Goethe hin. Als Intendant gescheitert.

Noch immer aber – nach gut fünfzig Jahren – ist es so: Denk ich an Goethe, dann an „Gemütstrug“. Dabei stammt diese Umschreibung für Lüge gar nicht von ihm, sondern von Thomas Mann. Der schob sie dem „munteren Greis“ elegant in den Mund (Goethe war um die achtzig, und T.M. sah sich als dessen Spiegelbild). Ein tollkühner Coup des alten Zauberers.

Im siebenten Kapitel von „Lotte in Weimar“ nämlich lässt er Goethe beim morgendlichen Rasieren sinnieren: „Das Leben wäre nicht möglich ohne etwelche Beschönigung durch wärmenden Gemütstrug, – gleich darunter aber ist Eiseskälte. Man macht sich groß und verhasst durch Eiseswahrheit und versöhnt sich zwischenein durch fröhlich-barmherzige Lügen des Gemüts.“

Das beeindruckte seinerzeit derart, dass es festwuchs im Schädel. – Gemütstrug und Eiseswahrheit! Großmut, Trost und Lebensweisheit! Kann man nicht früh genug üben. – Gruß zum 275. Goethe-Geburtstag vor zwölf Tagen am 28. August.