27. Jahrgang | Nummer 19 | 9. September 2024

Seitenblicke auf Salzburg

von Joachim Lange

Die Salzburger Festspiele sind die Größten ja doch. Rein qualitativ und mit der Vielfalt der Angebote sowieso. Aber sie bieten nicht nur höchstes Niveau – sondern auch Reibungsflächen, Stoff zur Selbstreflexion und manchmal auch verblüffende Querverbindungen. Neuerdings müssen sie sich dafür rechtfertigen, wenn russische Autoren oder Künstler auftreten. Der trotz (oder wegen) seiner selbstbewussten Eigensinnigkeit noch mal in seinem Amt bestätigte Intendant Markus Hinterhäuser setzte mit Sergej Prokofjews „Spieler“ und Mieczysław Weinbergs „Idiot“ gleich zwei Opern nach Dostojewski aufs Programm. Und landete mit dem von Krzysztof Warlikowski inszenierten „Idioten“ den größten Saisonerfolg. Was undifferenziertes Russenmobbing mit künstlerischen Argumenten ebenso ad absurdum führte, wie die in den USA lebende Urenkelin Nikita Chruschtschows das in ihrer Eröffnungsrede expressis verbis getan hatte.

Dass es bei den Opern konzertanten musikalischen Luxus („Capriccio“ mit Christian Thielemann), die Übernahme eines Edelmozarts von den Pfingstfestspielen („La clemenza di Tito“ mit Cecilia Bartoli), die Wiederaufnahme des „Don Giovanni“ von Romeo Castellucci mit Teodor Currentzis am Pult, einen von Peters Sellars zur Revue degradierten „Spieler“ und einen „Les contes d’ Hoffmann“-Flop gab, gehört ebenso zum „normalen“ Festspielgeschäft wie die erstklassigen großen und die ambitionierten kleineren Konzertreihen.

Und natürlich die Schauspielproduktionen mit dem „Jedermann“ als traditionellem Auftakt und Dauerbrenner der Festspiele. Dieses religiös grundierte Erbauungsstück vor der Domkulisse über das Sterben des reichen Mannes ist ein Phänomen, das man nur aus der Salzburger Festspielperspektive versteht. Eine opernhafte Show-Inszenierung von Robert Carsen löste die durchaus ambitionierte Vorgängerproduktion ab, die nur einen Festspielsommer zu erleben war. Warum, das weiß keiner so recht. Womöglich war sie wegen der an die Klimakrise erinnernden Tristesse zu gegenwartsbezogen? Die neue Schauspielchefin Marina Davydova hatte damit schon lange vor den eigentlichen Festspielen einigen Staub aufgewirbelt.

Das bewusst didaktische katholische Belehrungsstück selbst steht hier unter Artenschutz. Es zieht das Publikum an, weil kein avisierter Jedermann und keine auserkorene Buhlschaft (als effektvollste kleinste Nebenrolle) dazu Nein sagt. Allein schon, um selbst Teil einer Galerie des Mimen-Ruhms zu werden.

Wenn jetzt bei der Premiere unter freiem Himmel mit Idealwetter Zwischenapplaus aufbrandete, als der neue Jedermann Philipp Hochmair im Grunde als partygieriger Goldjunge mit ziemlich großer Klappe im güldenen, offenen Luxuscabrio mit Chauffeur vors Domportal (als seinem Protzpalast) rollt, dann ist das typisch für die optischen Effekte von Glanz und Glamour, Paillettenglitzer und Discokugel, auf die die Carsen-Ästhetik samt eines riesigen-Statistenaufgebotes baut. Als sich am Ende Jungschauspieler Dominik Dos-Reis, der den Tod als braven Handlanger Gottes im Messdienergewand und als Kellner gibt, selbst zu den weißgewandeten Toten legt, kegelt sich Carsen mit dieser Rolle rückwärts sogar aus dem Potenzial, das selbst dieses Stück hat.

Im Schauspielprogramm wurde es vor allem auf der Halleiner Pernerinsel mit einer „Orestie“-Version von Nicolas Stemann grundsätzlicher. Wie oft bei diesem Regisseur mit einem Hang zur Schulfunk-Didaktik. Dank seiner Schauspieler aber auch mit einigem Unterhaltungswert. Aus den Vorlagen von Aischylos, Sophokles und Euripides hat Stemann selbst eine Textfassung erstellt. Die Bühne behauptet Stück-Erarbeitungs-Atmosphäre. Das Publikum darf teilhaben und am Ende sogar mitmachen. Bis dahin freilich zieht eine Bluttat die nächste nach sich. Die Sprache ist zu uns hin bewusst durchlässig, manchmal flapsig, soll auf Anhieb verstanden werden. Am Ende erfinden die Götter ein Gericht, vor dem sich Orest für den Mord an seiner Mutter Klytaimnästra verantworten muss. Die hatte seinen Vater Agamemnon getötet. Aus Rache für die Opferung von Iphigenie. Das Publikum stellt die Geschworenen. Die Plädoyers für Begnadigung oder Todesstrafe für Orest werden zu einer Wahlkampfveranstaltung. In die durchgereichten Urnen kann jeder entweder die rote (Tod) oder weiße (Begnadigung) Stimmkarte einwerfen. Ausgezählt wird am Ende nicht bis zur letzten Stimmkarte. Aber der Haufen mit den roten Karten ist schon erstaunlich groß. Orest kommt hier trotzdem davon. Vor allem Barbara Nüsse, Julia Riedler, Sebastian Rudolph, Patrycia Ziolkowska und Sebastian Zimmler kassieren redlich verdienten Beifall. Wobei man gespannt sein darf, wie diese mit dem Thalia Theater koproduzierte Antike-Exkursion daheim in Hamburg abschneidet, wo das Schauspielhaus mit seinem „Anthropolis“-Coup gerade einheimst, was es in Deutschland an Lob-Preisen so gibt.

Den Vogel in Sachen Mitspieltheater aber schossen Sascha Waltz und Rimini-Protokoll in der dem Experimentellen vorbehaltenen „Szene Salzburg“ ab. „Spiegelneuronen“ stand oben drüber – der umständliche Untertitel weist die Richtung: „Ein dokumentarischer Tanzabend mit Publikum Sasha Waltz & Guests mit Rimini Protokoll“. Wobei von „Tanzabend“ nur der Abend stimmt, denn das ist es nun beim besten Willen nicht. Die sieben Mitglieder der Waltz-Truppe sind zunächst nicht als solche erkennbar im Publikum verteilt. Im Programm wird davor gewarnt, dass es stellenweise zu räumlicher Nähe zu den „Sitznachbar.innen“ kommen kann, weil es sich um ein partizipatives Theatererlebnis handele. Und das ist es tatsächlich. Die Zuschauer blicken auf eine Verspiegelung des Bühnenraums und sehen sich selbst. Es dauert eine Weile, bis man sich gefunden hat, um sich selbst respektive sein Spiegelbild zu fixieren und dann zu fotografieren. Man kann gar nicht anders. Und damit hat der Abend gleichsam von selbst begonnen.

Es folgt ein eskalierender Nachahmungswahn, der sich bis zum fast Ekstatischen steigert. Nur wenige verweigern sich. Vielleicht weil sie an den Stumpfsinn von rhythmisch klatschenden Parteitagssälen denken mussten oder an die Wochenschaubilder der ikonographischen Sportpalasthysterie? Die Frage zur Antwort im Saal wäre: Wollt Ihr die totale Manipulation?

Das Mitmach-Selbstfindungstheater wird mit einer Lichtshow, einer Überblendung des Spiegelbildes, Spots auf einige Zuschauer und ähnlichem aufgemotzt. Dazu eine Pop-Musik-Tonspur mit dem Refrain „I wish I was special“. Wenn dann das „Weirdo“ vorkommt (so bezeichnet der Vize von Kamala Harris Trump & Co.), fällt einem ein, dass Rimini Protokoll (mit Stefan Kaegi) mit von der Partie sind und dass alles vielleicht doch politisch gemeint sein könnte. Wenn auch erst nach der Vorstellung beim Nachdenken über das Mitmachvirus, das man sich da eingefangen oder dem man sich verweigert hat.