Eine Neuerscheinung über Nordkorea reiht sich nicht in eine lange Reihe weiterer Publikationen ein. Diese Besonderheit angesichts eines ansonsten übersättigten Buchmarktes bedarf kaum einer Erklärung, denn es liegt auf der Hand, dass sie mit der politischen Situation, den Sanktionen und der Isolation des Landes zusammenhängt. Desto mehr Aufmerksamkeit verdient jedes Buch, das erscheint, und desto wichtiger wird die Auseinandersetzung mit der Perspektive, die in der betreffenden Publikation entwickelt wird: Ergänzt der Band bisherige Sichtweisen, gibt er ihnen eine neue Wendung, handelt es sich im Vergleich zu früheren Darstellungen möglicherweise um eine alternative oder gar disruptive Zugangsweise?
Uwe Kräuter, der seit fünf Dekaden in Peking lebt, reiste erstmals 2005 und seitdem regelmäßig nach Nordkorea. In seinem Buch, auf dem Rückentext als „Reise-Bericht“ bezeichnet, beschreibt er seine Besuche unterschiedlicher Institutionen und Einrichtungen vor allem in der Hauptstadt Pjöngjang und berichtet im Stil verschriftlichter Interviews von seinen Fragen und den Antworten seiner Gesprächspartner. Er erläutert stets, warum er sich für die betreffenden Personen interessiert und wie die Begegnungen zustande kamen. Unterstützt wurde er bei der Vorbereitung dieser Gespräche durch ein für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland zuständiges Komitee in Pjöngjang.
So besucht Uwe Kräuter das seit circa 75 Jahren bestehende Textilwerk „Kim Jong Suk“, in dem ein Drittel der Stoffe für den Bedarf Nordkoreas hergestellt werden. Er berichtet von seinem Gespräch mit einer Weberin, in dem er nach dem Eintrittsalter der jungen Frau in die Fabrik fragt, nach ihrer Herkunft, den Gründen für Ihren Wunsch, dort zu arbeiten, der Dauer ihrer Anstellung, den täglichen Arbeitszeiten, dem Jahresurlaub und ihrer Freizeitgestaltung. Auf alle Fragen gibt sie bereitwillig Auskunft.
In der Beschreibung seines Besuchs des „Sinchon-Museum amerikanischer Kriegsverbrechen“ umreißt Uwe Kräuter Hintergründe, Kriegsverlauf und Details der Massaker des Koreakriegs, wie sie im Museum präsentiert werden. Ein solcher Bericht ist von Bedeutung, wenn man sich mit Nordkorea und seiner Selbstwahrnehmung ernsthaft auseinandersetzen will. Auch hier stellt Kräuter Gesprächspartner vor und zwar einen Überlebenden der Massaker, den Nachfahren einer Familie aus Sinchon und den Leiter des Wirtschaftsinstituts der Sozialwissenschaftlichen Akademie Pjöngjang. Es gelingt ihm auf diese Weise Einblicke sowohl in offiziell-öffentlich als auch familiär-persönlich dargestellte Erinnerungen innerhalb Nordkoreas zu vermitteln.
Nun wäre es in vielen Ländern der Welt grundsätzlich keine sonderlich erwähnenswerte Angelegenheit, dass man „mit jungen Menschen auf der Straße, mit Künstlern und Intellektuellen, mit Bauern und Arbeitern“ spricht, wie im Buchrückentext hervorgehoben wird. In Nordkorea ist das anders und deswegen bestehen die Besonderheit und das Strukturprinzip des Buches darin, dass rasche Aggregationen vermieden und stattdessen Begegnungen in den Vordergrund gerückt werden.
Damit zeichnet sich der Band in der Tat durch eine eigene Annäherungsweise an Nordkorea aus. Während zum Beispiel der Wirtschafts- und Ostasienexperte Rüdiger Frank als Wissenschaftler publiziert, der sich auch als ausgewiesene Nordkoreaautorität wahrgenommen sieht, oder andere Publikationen von Diplomaten oder von Nordkoreanerinnen und Nordkoreanern selbst verfasst sind, sucht Uwe Kräuter als Deutscher mit der Unterstützung einer Dolmetscherin die direkte Interaktion. Sein vordringliches Anliegen besteht darin, in das Bewusstsein einer deutschsprachigen Leserschaft zu rücken, was er als blinden Fleck in der medial vermittelten Wahrnehmung des Landes erachtet, nämlich dass es möglich und aus seiner Sicht wichtig ist, sich für die Menschen in Nordkorea zu interessieren. Dass ihm die Gesprächspartner dabei auf seine Anfragen hin vorgeschlagen wurden und die Auswahl insofern nicht ohne politische Steuerung erfolgte, sollte jedoch nicht in Vergessenheit geraten. Aber es geht dem Autor in diesem Zugang nicht darum, wissenschaftlich-statistische Repräsentativität im Sinn empirischer Sozialforschung anzustreben.
Der Band sucht insofern Anstöße zu geben für eine Ergänzung, vielleicht auch eine Korrektur der auf Nordkorea bezogenen Perspektiven seitens einer deutschsprachigen Leserschaft. Uwe Kräuter fungiert so gesehen gewissermaßen als Translator, der übermittelt, wie er die Gespräche wahrgenommen hat. Dies leistet er in sachlichem und zugleich freundlich-respektvollem Stil. Er kommentiert einordnend und lässt hier deutlich erkennen, dass er sich für eine Überwindung der Isolation stark machen möchte.
Aus der Sicht der Rezensentin ist dieses Buch für eine Auseinandersetzung mit Nordkorea ebenso bereichernd, wie die grundsätzliche Zugangsweise exemplarisch auch für andere Konflikträume anregend sein kann.
Uwe Kräuter: Reisen uns Unbekannte. Besuch bei den Menschen in Nordkorea. Eulenspiegel Verlagsgruppe, Berlin 2023, 288 Seiten, 20 Euro.
Prof. Dr. Gesine Lenore Schiewer ist Lehrstuhlinhaberin für Interkulturelle Germanistik an der Universität Bayreuth und Präsidentin der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik.
Schlagwörter: Gesine Leonore Schiewer, Interviews, Kulturaustausch, Nordkorea, Uwe Kräuter