Genau vor 200 Jahren, im September 1824, unternahm Heinrich Heine seine hernach zu deutscher Nationalliteratur geronnene Harzreise. Wann genau Heine in Göttingen startete ist umstritten. Favorisiert wird der 14. September 1824.
Stationen: Osterode, Clausthal, Goslar; Aufstieg zum Brocken am 20. September, Abstieg ins Ilsetal am nächsten Tage (laut Wernigeröder Zeitung und Intelligenzblatt, 1824); Weimar (Goethe-Besuch), Erfurt, Eisenach, Kassel, Göttingen. Dauer insgesamt etwa vier Wochen.
Den ersten Teil der Wanderung (bis Abstieg ins Ilsetal) schrieb Heine gleich im Anschluss an seine Tour. Die vollständige Ausgabe wurde in den ersten Band der „Reisebilder“ aufgenommen und erschien 1826 bei Hoffman & Campe Hamburg.
Im September 1990 folgte die damals bereits langjährige Weltbühne‑ und heutige Blättchen-Autorin Renate Hoffmann Heines Spuren. Da erscheint uns der September 2024 als passender Zeitpunkt für ein Reprint ihrer damaligen Reisenotizen.
Werter Herr Heine,
Ihre „Harzreise“ ist, literarisch und wandermäßig, eine Verlockung, der ich erlegen bin. Und nicht nur ich. Carl Sternheim, ein Kollege von Ihnen, durchschaute Ihre feine Poetenlist und klagt: „Wenn Heine nur nicht die Harzreise geschrieben hätte, dann könnte ich sie schreiben –, nicht als ob ich Lust hätte, durch benanntes Gebirge zu wandern und mir die Füße wund zu laufen, sondern weil sich in so eine Reisebeschreibung allerhand nützliche und unnütze Gedanken einschmuggeln lassen, die, unter dem Titel ,Gedankensplitter‘ gesamt herausgegeben, kein Mensch liest, in oben angedeuteter Weise und auf jeder Seite einen Teelöffel voll aber manch einer unbemerkt verdauen würde […].“
Auf eben diese Art haben Sie mich gewonnen. Im Gegensatz zu Herrn Sternheim weckte Ihre Schilderung von himmelhohen Tannen, lieblicher Kühle und Quellengemurmel, vom ruhigen Herzklopfen des Berges in meiner Großstadtseele die größte Lust, das von Ihnen bevorzugte Gebirge zu durchwandern. Bis vor wenigen Monaten war dies für ostdeutsche Bürger ein utopisches Unterfangen, das allenfalls jenseits des Rentenalters hätte verwirklicht werden können, sofern dann die Füße noch tragen. Nun aber sind die Welt, Europa, Deutschland im Umbruch – man kann wieder über den Harz gehen.
Meine Wanderausstattung entbehrt nicht einer gewissen Komik: Griebens große Ausgabe vom Harz von 1894; Ihre „Harzreise“ als handliche Wanderausgabe von 1915; Baedekers Handbuch über den Harz und sein Vorland von 1925 – nur die topographischen Karten stammen aus der Neuzeit (das hängt damit zusammen, daß wir vierzig Jahre in einer Isolierstation lebten). Das übrige Wandergepäck ist in verschiedenen Details ungeeignet – aber das bemerke ich erst im Zug nach Göttingen, beim Lesen der mitgeführten Literatur: wollenes Unterzeug, ein Hemd, fehlerfreie Socken; gegen Wundlaufen (das geht an Sternheims Adresse!) Scheichers balsamischer Salizylsäuretalg; Regenschirm mit derbem Stock. Besondere Empfehlung für wandernde Damen: ein bequemes Kleid, leicht aufzuschürzen, Filz- oder Strohhut mit Schleier. Das Touristengepäck soll nicht mehr als drei Kilogramm wiegen. – Hut mit Schleier fehlt, Hemd, Kleid und wollenes Unterzeug auch, trotzdem wiegt mein Rucksack fünfzehn Kilogramm. So betrachtet, ist das ein touristischer Fehlstart. – Nun interessiert mich Ihre Ausstattung, Herr Heine. Und ich erfahre, daß Sie einen braunen Überrock mit gelben Pantalons trugen, dazu gestreifte Weste und schwarzes Halstuch, grüne Kappe und grünen Tornister. Das offenbart Ihren Sinn für Farben.
Göttingen, an dem Sie kaum ein gutes Haar lassen, betrete ich ohne Vorurteil. Ich studierte nicht dort wie Sie; hatte keine Affären, flog nicht von der Universität wegen eines Duells. Was stellten Sie eigentlich an, daß man Sie auch noch aus der Burschenschaft feuerte – wegen Verletzung des Keuschheitsprinzips?! Ich habe nichts gegen die Unkeuschheit, aber gegen Ihr Ungeschick, das Delikt bekannt werden zu lassen.
Die Universitätsstadt empfängt mich mit einem Wochenendgesicht. In der Weenderstraße, der Bummelmeile, trubelt es. Blumenverkäufer, Ausrufer: „Mit Gott kann ich über die Mauer springen, er stärkt mir die Knöchel!“ – „Das hätte vor einem Jahr auch Gott nicht geschafft“, wage ich zu entgegnen. Der Ausrufer überhört meinen Einwand. Junge Leute führen, jeder nach eigener Choreographie, einen Tanz auf. Und ein Betrunkener hält alle mitverantwortlich für den bevorstehenden Weltuntergang. An kleinen Tischen vor dem Restaurant hört man ihm amüsiert zu, trinkt Kaffee, liest Zeitung, erzählt.
Am Haus Nummer 50 mit der hellblauen Fassade und den weißen Fenstereinfassungen entdecke ich eine Tafel: „Heinrich Heine Dichter 1825“. Sie wohnten hier bei Oelsens im Sommersemester bis zu Ihrer Promotion. Von der Sie Moses Moser berichten, Sie hätten disputiert wie ein Kutschenpferd, es sei sehr gut gegangen, und man habe an Ihnen bewundert, daß ein großer Dichter auch ein großer Jurist sein könne.
Dann verließen Sie die Stadt, mit der Sie nicht viel im Sinn hatten – und sie mit Ihnen auch nicht. Als Ihre „Harzreise“ erschien, durfte sie in Göttingens Leihbüchereien nicht aufgestellt werden. – Aber auch anderswo benahmen sich die deutschen Bürger Ihnen gegenüber unrühmlich (bezüglich der Deutschen hatten Sie ohnehin berechtigte Befürchtungen). In Ihrem „Buch der Lieder“ – einer Ausgabe von 1936 – fand ich einen alten Zeitungsausschnitt, in dem es unter anderem hieß: „[…] in eingehender Untersuchung wird der restlose Beweis geführt, daß der vielgepriesene Heinrich Heine keinen Anspruch darauf erheben kann, als Dichter zu gelten […].“
Sie verfügen über delikaten Witz. Und werden es deshalb auf Ihre Weise auslegen, daß im Erdgeschoß des hellblauen Hauses eine Nordsee-Fischhalle Meeresprodukte vertreibt. Eigentlich hätte ich erwartet, daß zwischen Meerbrassen, Tiefseegarnelen und Matjesfilet Verszeilen aus Ihrem Zyklus „Die Nordsee“ liegen. Zum Beispiel: „Meeresstille! Aus den Wellen / Taucht hervor ein kluges Fischlein, / Wärmt sein Köpfchen in der Sonne, / Plätschert lustig mit dem Schwänzchen.“
Ihre Memorialtafel in der Weenderstraße reiht sich ein in ein Tafelheer der Berühmtheiten – von Arnim bis Zweig –, das über die Häuser der Stadt verteilt ist. Beim Gang durch die Straßen entwickelt sich bei mir der Göttingererinnerungstafelblick. Er ist leicht nach oben gerichtet und gefährlich. Man rempelt Passanten an, tritt auf Hunde oder in ihre Hinterlassenschaft und wird angehupt.
Im Stadtmuseum erhalte ich Einblick in Göttingens Vergangenheit. Aus der Fülle des Angebots bleiben mir zwei Madonnen im Gedächtnis. Maria, das Kind nährend. Ein Paradebeispiel gesunder Kleinkindentwicklung. Man sieht förmlich, wie der Knabe an dieser Brust wächst. Und eine Maria immaculata, deren naivem Blick man die unbefleckte Empfängnis ohne Hintergedanken glaubt. Überraschenderweise erfahre ich wenig, ja fast nichts über die berühmten Damen der Stadt: Die Schriftstellerin und Redakteurin Therese Heyne; die großartige Caroline Michaelis-Schlegel, exzellente Vertreterin der Frühromantik; und Dorothea Schlözer, erste Frau Deutschlands, die an der philosophischen Fakultät promovierte.
Auf dem Turm der Johanniskirche verschaffe ich mir Überblick über Göttingens Gegenwart. Dächer, Türme, Gärten, Parks drängen sich tief unten; und dazwischen ist ein unruhiges Gekribbel. Keine der von Ihnen angeführten 999 Feuerstellen (es sind noch einige hinzugekommen) raucht. Wie überhaupt die Stadt von oben und von unten einen reinlichen Eindruck macht.
Vor dem Eiscafé am Rathaus gewährt Göttingen eine stadtspezifische Perspektive – den Vierkirchenblick. Preußisch-präzise stelle ich mich auf die im Gehsteig eingelassene Metallplatte und identifiziere: St. Johannis, St. Jacobi, St. Albani, St. Michael. Die vierte Wendung führt ins Café. Dort denke ich über eine Ihrer Äußerungen nach, Herr Heine: „Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste […].“ Welcher Art Würste? Ich frage die Serviererin. „Hier sind alle Würste gut und berühmt“, sagt sie. Außerdem sei sie für Konditoreiwaren zuständig. Ich befrage meine antiquarische Reisebibliothek. Danach ist insbesondere die Göttinger Mettwurst ganz vorzüglich. Ein Seitenhieb auf Braunschweig wird ausgeteilt: „Auch die berühmte Braunschweiger-Wurst ist zum größten Teile Göttinger Erzeugnis, nur der Versand erfolgt in Braunschweig.“
Nach Klärung der Wurstfrage besichtige ich die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. Es ist ein alptraumhaftes Wandeln durch Katalogsäle, hinter denen sich 3,3 Millionen Bände, 10 000 Handschriften, 277 Nachlässe und 6000 Inkunabeln verbergen. In der Foliantenreihe „POLITICA“ fällt mein Blick ausgerechnet auf einen voluminösen Band „SICHERHEITSPOLIZEI“. Wir Deutschen reagieren augenblicklich allergisch auf diese Einrichtung.
Neugierig besehe ich mir am Abend die Startstrecke des ersten Tagesmarsches zum Harz. Die Weender Landstraße. Zu Ihrer Zeit, lieber Heine, führte sie noch überland. Jetzt ist sie flankiert von Tankstellen, Baumärkten, Reparaturdiensten – und dröhnt vom Verkehr. Wie ein Relikt aus dem Garten Eden begrüße ich einen Vogelbeerbaum, kehre um und beschließe, diesen Teil Ihrer Wanderung mit einem modernen Verkehrsmittel zu umgehen.
Sonntag früh verlasse ich Göttingen. Sie, werter Heine, gingen durchs Weender Tor. Ich fahre zum Bahnhof und bin eine halbe Stunde später in Northeim. Da hatten Sie bereits reichliche achtzehn Kilometer in den Beinen. Meine Schritte hallen in den stillen Straßen. Die Fachwerkhäuser, schönstens herausgeputzt, stehen aufgereiht wie zur Brautschau.
Das Wirtshaus „Zur Sonne“, Herr Heine, in dem Sie Mittag aßen, ist ein vornehmes Hotel in der Hauptstraße. Ich trage mein Anliegen an der Rezeption vor. Mit dem Hinweis, daß Sie am 15. September 1824 hier gespeist, die „Sonnen“küche gelobt und sie in der „Harzreise“ literarisch verewigt hätten (sozusagen eine Langzeitwerbung). Ich Spätgeborene würde Ihren Spuren folgen. Nun geschieht etwas Unerwartetes. Ich werde hereingebeten und zum Frühstück eingeladen. Der Hausherr ist aufs beste informiert und kennt Ihre Reiseschilderung bis in die Nebensätze. Unlängst hatte auch eine Fernsehgesellschaft im Hotel „Zur Sonne“ Szenen Ihrer „Harzreise“ aufgenommen. Er fragt mich, ob ich den Film sehen möchte. Sodann werden mir serviert: Apfeltorte mit Schlagsahne, Kaffee mit Milch und Zucker, Monitor mit Video. Die Wirtsleute wünschen mir „Gut zu Fuß“, als ich mich verabschiede. Welches Glück, verehrter Heine, daß Sie die Mahlzeit lobten.
Hinter Northeim wird es schon gebirgig, schreiben Sie. Das ist stark übertrieben! Hatte ich mich schon auf fachgerechtes Steigen nach Griebens Wanderregeln eingestellt – 1. Kurz antreten, 2. Rückblick –, so finde ich die Bundesstraße 241 nach Osterode/Duderstadt flach wie ein Kuchenblech. Aber die Rückblicksregel mache ich mir zu eigen. Nicht ohne Goethe! Der zu allem seinen weisen Senf geben muß. So auch zur Rückschau: „Es ist ein Fehler bei Fußreisen, daß man nicht oft genug rückwärts sieht, wodurch man die schönsten Aussichten verliert.“
Die Straße, auf der ich wandere, heißt hinter Northeim „Harztor“. Eine Aufforderung, in den Naturpark einzutreten. An den Straßenrändern liegt Stroh. Die Ernte beginnt. Feinbehaarte Samen fliegen durch die Luft. Im sonnverbrannten Augustgras huschen Mäuse. Ein abgeerntetes Feld hat sich mit lilafarbenen Kräutern überzogen, als wolle es seine Blöße verdecken. Die sonntägliche Autolawine rollt. Manchmal gerät sie auch ins Stocken. Ich fühle mich überlegen, denn den Rad- und Wanderweg neben der Straße habe ich für mich allein. Die freie Landschaft mit fernen, gestaffelten Bergketten liegt vor mir wie ein Bild von Caspar David Friedrich, in das man hineingehen kann.
In Katlenburg schlägt es zwölf Uhr. Am Ortseingang wogen kräftige Landluftschwaden, gemischt aus Schweinehaltung, Korndrusch und Abgasen. Herausfordernd ragt der bewaldete Burgberg aus der Ebene. Auf seinem Plateau scharen sich Fachwerkhäuser, Scheunen und Gutsgebäude um eine Kirche. Auch sie trägt schmückend eine Fachwerketage. In der Lindenallee begegnen mir Berliner Kinder. Sie verbringen hier ihre Ferien. Die Jungen machen den Mädchen einen Vorschlag: „Kommt ihr heute mit Fernseh kieken? Wir haben Videos!“ -“Un wat kiekt ihr?“ – „Na Porno!“
Eine temperamentvolle ältere Dame schließt die Kirche auf. Ich bewundere den prachtvollen Schnitzaltar und einen Taufstein, der für eine Volltauchung geeignet ist. – Nach der Kirchenführung sagt die praktische Frau zu mir: „Es sind 33 Grad im Schatten, jetzt trinken Sie bei mir einen Saft und gehen auf die Toilette. Das gehört mit zur Führung!“
Auf der Straße nach Osterode spenden die Bäume wenig Schatten. Und die Sonne brütet wie eine Augustglucke. Zurückschauend sehe ich in ihr Glutgesicht. Im kleinen Ort Dorste krieche ich unter das Laubdach einer ausladenden Eiche am Straßenrand. Großes Geschrei, Geschimpfe und Gejubel. Ich bin Zuschauer eines Fußballspiels. Der Sportplatz liegt neben dem Friedhof. Wer nicht die Spieler anfeuert, sitzt unterm Sonnenschirm der Imbißbude. Die Toten ihrerseits können direkt am Dorfleben teilnehmen.
Hinter Dorste, Herr Heine, wird es nun wirklich gebirgig. Echter Harzer Tannenwald nimmt mich auf (die Tannen sind natürlich Fichten!). Ich raste, um das Rauschen der hohen Bäume zu hören. Und wandere, beharzt an verschiedenen Körperstellen, weiter. Die Straße zieht bergwärts. Fernsichten, im weichen Licht des Spätnachmittags liegend, glätten die Seele. Auf der Höhe komme ich an einem Gehöft vorbei. Im Schatten des Walnußbaumes ist eine lange Tafel gedeckt. Eine Gesellschaft sitzt beim Kaffeetrinken. Ich esse Wildkirschen gegen den Durst. Sie haben ganz kleine Kerne und schmecken ernüchternd sauer.
Bevor sich die Straße ins Tal senkt, habe ich die schönste Aussicht auf Osterode. Ihre Schilderung, Herr Heine, spendet der kleinen Stadt angemessenes Lob. Sie schreiben: „[…] von einer der ersten Höhen schaute ich nochmals hinab in das Tal, wo Osterode mit seinen roten Dächern aus den grünen Tannenwäldern hervorguckt wie eine Moosrose.“ Ein unaufmerksamer, neuzeitlicher Redakteur legte Ihnen andere Worte in den Mund: „Osterode gleicht der Rose im Moose!“ Das reimt sich zwar, aber, weder blühen im Moose Rosen, noch haben Sie das gesagt. Außerdem muß diese Entgleisung jeden Rosenzüchter verletzen, der die schöne Moosrose kennt.
Zwei alte Damen erfreuen sich ebenfalls am Anblick der Stadt. Dann mustern sie mich und möchten wissen, woher ich komme. Ich erzähle ihnen von meiner Harzreise-Idee. Ihre Skepsis wächst. Sie halten es für sehr bedenklich, daß ich allein unterwegs bin. Ich frage, ob sie mir in Osterode eine Unterkunft empfehlen könnten. Nein, das könnten sie nicht. Ich solle doch gleich nach Lerbach weitergehen, da wären bessere Aussichten … Ich war ihnen wohl nicht geheuer.
Im Café am Kurpark beschließe ich die erste Tageswanderung im Gefühl der Richtigkeit einer Griebenschen Reiseregel: „Dem Fußwanderer eröffnen sich die köstlichsten Schätze des Gebirges, und nur ihm wird das behagliche Gefühl zuteil, welches sich nach wackerem Tagesmarsch einstellt.“
Am Nachbartisch tagt ein Kaffeekränzchen. Man zerpflückt Familienangelegenheiten, Lebende, Tote und die Politik: „Die DDR ist ein armseliger Haufen. Und nun kommen Die und überschwemmen uns, schrecklich!“ Nur die Ehrfurcht vor dem Alter hält mich davon ab, zu sagen, daß ich auch ein Überschwemmer bin, in meiner Heimat im Zelt wohne und nicht lesen und schreiben kann. – Diese komplizierte Situation ist schwer nachvollziehbar, Herr Heine. Nach Jahrzehnten gingen in unserem Land die verriegelten Tore auf. Nun drängt alles hinaus und verfällt dem Fernrausch, der beim Laufen ohne Mauern entsteht. Auch soll der zerhackte deutsche Corpus wieder vereinigt werden. Die Wundflächen der Trennung trugen nach so langer Zeit Schorf. Nun müssen sie, um zusammenzuwachsen, erneut aufgerissen werden. Das ist mit Schmerzen und mit Schmerzäußerungen verbunden. Und mit Ängsten. Seinerzeit machten Sie sich Sorgen um Deutschland. Anscheinend muß man sich um dieses Land ständig Sorgen machen.
Ich verlasse den Debattierklub, um die Osteröder Burgruine noch zu besichtigen. Sie hat sich, seitdem Sie, Herr Heine, sie sahen, kaum verändert. Ein paar Steine mehr sind herabgefallen. Ihre Füße stehen in Brennesseln und Himbeergestrüpp. In den aufgebrochenen Mauern nisten Turmfalken.
Im Westen zieht ein graurosafarbener Abendhimmel auf. Es geht mir wie Ihnen, lieber Heine, ich bin müde wie ein Hund und werde schlafen wie ein Gott.
Am Morgen verzögert ein Gewitterregen den Aufbruch. Ich wandere auf der nun schon vertrauten Bundesstraße 241 und summe nach eigenen Harmonien Ihre Zeilen aus der „Harzreise“: „Auf die Berge will ich steigen, / Wo die dunkeln Tannen ragen, / Bäche rauschen, Vögel singen, / Und die stolzen Wolken jagen.“
Aber auf der verkehrsreichen Ferienstraße „Alpen -Ostsee“ will sich die Romantik der alten Harzstraße nicht einstellen. Ich klettere die Böschung hinauf und schlage einen Waldweg ein. Der ähnelt Ihrer Schilderung. Endet aber plötzlich und unerwartet im dickesten Dickicht. Ich gehe fast bis nach Osterode zurück und suche eine andere Wanderroute.
Sie trafen unterwegs einen Gefährten, der Sie ein Stück begleitete. Nach Ihrer Beschreibung war es ein komischer Vogel, der viel schwatzte und viel sang – darunter auch einen gepanschten Goethe. Sie machten aus ihm ein dünnes marodes Schneiderlein, das, mangels Kondition, Ihr Tempo nicht mithalten konnte. Wissen Sie eigentlich, daß Ihr Mitwanderer sich nach Erscheinen der „Harzreise“ zu erkennen gab? Handlungsreisender Karl Dorne aus Osterode. Dorne besaß Humor und schilderte seinerseits die Begegnung mit Ihnen. Seine Angaben zur Person Heine lauten: „Er war fünf Fuß, sechs Zoll groß, konnte 25 bis 27 Jahre alt sein, hatte blondes Haar, blaue Augen, eine einnehmende Gesichtsbildung, war schlank von Gestalt.“
Unterdessen erreiche ich Lerbach. Wohin ich eigentlich gar nicht will. Lieber Heine, Sie sahen auf Lerbach hinunter, ich sehe von Lerbach hinauf. Wir haben offenkundig verschiedene Wege eingeschlagen. Eine Ihrer Beobachtungen kann ich indessen bestätigen: Lerbach zieht sich sehr lang hin!
Nach diesem Verläufnis setze ich mich auf die Stufen der Restauration „Zum Trost“ und studiere die Karte vom Westharz. Mit lautem Getöse fährt ein Lastwagen heran und hält. Der Fahrer steigt aus. „Packen Sie den Kram zusammen und steigen Sie ein. Ich kann nicht mit ansehen, wie eine Frau mit so einem großen Rucksack läuft!“ Ich versuche zu erklären, warum ich laufe, und daß mir am Fahren gar nichts liegt. Er nimmt den Rucksack und schiebt ihn unter die Plane zu seiner Holzladung. Ich steige ein. Die Straße windet sich in engen Serpentinen zur Höhe hinauf. „Wo wollen Sie denn hin?“ – „Zuerst nach Clausthal-Zellerfeld. Und morgen weiter nach Goslar.“ – „Da kann ich Sie mitnehmen, ich fahre nach Goslar.“ Heine, hilf! – wie unterlaufe ich dieses menschenfreundliche Angebot? Ich möchte in Clausthal das Oberharzer Bergwerks- und Heimatmuseum besuchen und die Gruben. Schließlich einigen wir uns.
Die einst selbständigen Orte Clausthal und Zellerfeld liegen „oben auf dem Harze“. Die Stadt begrüßt ihre Gäste mit einem grandiosen Rundhorizont von Tälern und Höhen. Schon nach wenigen Schritten gibt sie sich als Bergstadt zu erkennen. Ich überquere die Silberstraße und stehe vor dem Oberbergamt. Dort ist zu lesen, daß der Geheimrat Goethe auf seiner ersten Harzreise beim damaligen Berghauptmann von Reden zu Gast war. – Es ist kurios, Herr Heine, Ihren Spuren folge ich, und den Ali Pascha unserer Literatur, wie Sie ihn nannten, treffe ich. Er schiebt sich immer wieder zwischen Ihre Reisebilder, als habe er den Fuß in der Tür. Da aber ein Beweggrund Ihrer Wanderung der Besuch des Kunstgreises in Weimar war, wird man sein Auftreten wohl dulden müssen.
Die Stadt liegt wie auf einer Berg- und Talfahrt. Clausthal schwingt sich von der Höhe den Hang hinunter, begegnet im Tal seiner Schwester Zellerfeld, und diese schwingt sich den nächsten Hügel wieder hinauf.
Caroline Schlegel, damals die Doctorin Böhmer, schrieb über den Ort, in dem ihr Mann Berg- und Stadt-Medicus war: „Diese Gegenden fangen an, mir zu gefallen, da ich sie näher kennenlerne. Clausthal sieht von allen Seiten äußerst hübsch aus – meine Sinne freuen sich.“
Ich gehe ins Museum. Dort zeigt sich, daß hinter der kleinen Stadt eine große Vergangenheit liegt – die des Oberharzer Bergbaues, der hier sein technisches, wirtschaftliches und geistiges Zentrum besaß. Folgerichtig entstand auch eine Bergakademie und nun eine Technische Universität. In der Blütezeit wurde der Reichtum aus fünfundsechzig Gruben des Clausthal-Zellerfelder Gebietes gefördert und bestand im wesentlichen aus Silber-, Kupfer-, Zink- und Bleierzen.
Wir fahren in ein Schaubergwerk ein. Und werden belehrt, daß man in einem Bergwerk immer fährt, gleich, ob man geht, steigt, rutscht oder klettert. Ich frage unseren Führer nach den Gruben Caroline und Dorothea, die Sie besuchten, Herr Heine. Sie seien, wie auch die anderen, nicht mehr in Betrieb.
Im Mineralienkabinett des Dietzel-Hauses sind Gold- und Silbererze zu betrachten. Auch Erzstufen mit raffinierten Mustern in Grauweiß: getüpfelt, gesprenkelt, mit Bändern durchzogen. Gediegen Silber, das ich mir ganz anders vorgestellt hatte. Es wächst zierlich-verästelt, drahtförmig, korkzieherartig, moosähnlich oder wie ein zarter Baum. Ich bestaune die Wunder der Tiefe.
Das hält mich allerdings nicht davon ab, lieber Heine, an Ihr Mittagessen in der „Krone“ zu denken. Der veilchenblaue Kohl und die frühlingsgrüne Petersiliensuppe, die man Ihnen dort auftischte, bringen den Magen und die lyrischen Saiten zum Klingen. Das Hotel „Zur Goldenen Krone“ hat für besondere Gelegenheiten ein Heinrich-Heine-Zimmer. An den Wänden hängen Gedichte von Ihnen, die Speisenfolge Ihres blumigen Mittagsmahles hier im Hause und Porträts. Unter eines dieser Konterfeis schrieben Sie: „So sah ich aus heute morgen den 6ten April 1829 H. Heine.“ Sie sahen verorgelt aus, mein Lieber!
Die Gruben Dorothea und Caroline liegen nach Ihren Angaben eine halbe Stunde vor der Stadt. Die Straße dorthin ist eine historische Bannmeile des Bergbaues. Alte Zechenhäuser und ehemalige Gruben mit klangvollen Namen: Anna Eleonore, Engelische Treue, Grüner Hirsch. Nur Dorothea taucht nicht auf. Schon befürchte ich, bald in Altenau zu sein, da sehe ich das bewußte schwärzliche Gebäude – schiefergedeckt, ehrwürdig. Eine Auskunftstafel informiert: „Die Grube Dorothea war die reichste im Clausthaler Revier und von 1656 bis 1886 in Betrieb. Im Zechenhaus legte man die Grubenkleidung an und kehrte nach Befahren von Dorothea und Caroline hierher wieder zurück. Viele Persönlichkeiten befuhren die Gruben. Darunter auch Goethe.“ Laut Eintragungen im Gästebuch als „Johann Wilhelm Weber aus Darmstadt, den 8. Dezember 1777“ und „Den 13. August 1784 zur ,Caroline‘ eingefahren und zur ,Dorothee‘ ausgefahren. Carl August, H.z.S., Goethe“.
Wo bleibt Ihre Erwähnung auf der Tafel, verehrter Heine? Sie hinterließen doch ein eindrucksvolleres literarisches Resümee als Goethes läppische Bemerkung an seine Freundin: „Heute gibt‘s wieder Bewegung genug. Es wird in die Gruben eingefahren, ein beschwerlicher Weg, der mir sehr lehrreich sein wird.“
Auf dem Rückweg nach Clausthal versuche ich, Ihre Zeitangabe zu prüfen, Herr Heine. Sie hielten ein flottes Tempo!
Nach meinem Alt-Baedeker besaß der Gasthof „Zur Goldenen Krone“ in Clausthal noch zwölf Zimmer zu 2 1/2 Mark. Jetzt nimmt er keine Logiergäste mehr auf. Ich suche mir ein anderes Hotel. Es ist teuerer. Dafür hängen die Bilder schief, die Tür zum Bad schließt nicht und klappt bei jedem Luftzug, und das Licht flackert. Das Bett ist mit schwarzem Plüsch ausgeschlagen wie ein Sarg. Und in seinem Kopfende rasselt eine Höllenmaschine von einer Weckuhr. Ich schlafe schlecht und mit dem Kopf am Fußende.
Die Alte Harzstraße nach Goslar ist nicht asphaltiert und führt durch Laub- und Nadelwald. Laue Luft fließt in feinen Strömen aus den Schonungen. Die Gräser tragen Tau. Fingerhüte stehen wie Purpursäulen in der Morgensonne. Nach Fontane sind Fingerhut und Hexen ein Landesprodukt des Harzes. Verläßt der Weg den Wald, so sieht man über Hänge und Täler in die Ebene hinaus. Ein Eichelhäher sitzt standesgemäß im dürren Geäst einer Eiche und schimpft. Ich störe den Frieden der Alten Harzstraße. Es kommt selten jemand vorbei. Irgendwo in der Tiefe rauscht der Verkehr der Bundesstraße 241. Oder ist es der Wald?
Am Weg liegt die alte verlassene Ratsschiefergrube der Stadt Goslar. Aus ihr wurde fast vierhundert Jahre lang Fassaden- und Dachschiefer gewonnen, von bestem Wissenbacher Schiefer. Ein paar Schritte entfernt, in einer Senke, liegen die Tafeln und Täfelchen in den Heidelbeeren. Blaugrau, schwarzgrau, vergessen. Aber verewigt! In einer Zeichnung von Goethe, der am 2. September 1784 hier war. Man kann noch so einsame Wege gehen. Einen trifft man immer. Herrn J.W.G.
Die Türme der Stadt Goslar werden sichtbar. In ihren Straßen und Gassen kommt man nicht umhin, ein abgegriffenes Wort zu gebrauchen: Bilderbuchstadt. Und um Geschichte, Reichtum und Kunstwert Goslars in einem Satz deutlich zu machen, sei die Aufzählung aus dem Reiseführer erlaubt: „Freie Reichsstadt, Kaiser-, Hanse- und Bergstadt, Stadt der Fachwerkkunst.“
Bei der Wahl des Quartiers bin ich durch Sie vorprogrammiert, Herr Heine. Nahe dem Markt soll es liegen, Aussicht auf den Rammeisberg soll es haben und möglichst eines der Fachwerkhäuser sein, wie sie die Stadt zieren. Ich finde es in der Bergstraße. Im Haus des ehrenwerten Glocken- und Erzgießers Magnus Karsten. Standfest erbaut im 16. Jahrhundert und später Hotel „Zur Börse“.
Goslars Gassen sind gebogen. Die Häuser nehmen zum Markt hin an Größe zu. Sie sind bunt und ein wenig schief. Wie alte Leute, die aber ihre schönste Tracht angelegt haben.
Der Ehrerbietung halber gehe ich zuerst zur Kaiserpfalz, dem Prunkstück romanischer Architektur. Vor dem Hohen Haus reiten zwei gewichtige Herren. Friedrich I. Barbarossa und Wilhelm der Große. Den kann ich nicht einordnen. Das germanische Großmannsgehabe ist historisch nicht immer aussagekräftig. Barbarossa sitzt auf einem mächtigen Schlachtenroß. Er macht gute Figur, hält aber – was jeden Reiter schmerzt – die Zügel wie eine Wäscheleine.
Im großen Saal des Hauses – fast fünfzig Meter ist er lang – sollen dreiundzwanzig Reichstage stattgefunden haben. Aber die Beschlußfassungen waren nicht immer die besten. 1188 fiel hier das letzte Wort zur Eröffnung der Kreuzzüge. Die Wände des Saales sind mit Monumentalgemälden ausgestattet, die, im Geschmack der Romantik, die Geschichte Deutschlands und seiner Regenten darstellen.
Deutsche Kaiser und Könige heißen entweder Heinrich, Friedrich oder Wilhelm. In Goslar hatten die Heinriche I bis V den Vorrang. Der Erste gründete die Stadt und trug den romantischen Beinamen Der Vogler (was ihn zum Urvater der Harzer Roller macht). Der Zweite verlegte die Pfalz von Werla nach Goslar. Der Dritte baute diesen beeindruckenden Palast. Der Vierte wurde hier geboren und ging später nach Canossa. Und den Fünften traf in der Goslarer Kaiserpfalz der Blitz in den Fuß.
In der Pfalzkapelle St. Ulrich drängen sich die Besucher um das Grabmal Heinrichs III. Die Kinder sammeln sich zu seinen Füßen. Dort liegt nämlich ein Hündchen, das erkennbar viel gestreichelt wird.
Ich eile zum Marktplatz, um das Figuren- und Glockenspiel zu erleben. Es spielt im Giebel des Kämmereihauses und besteht aus vier Akten mit Musik. Der erste Akt gefällt mir am besten. Das Türchen öffnet sich. Heraus treten Ritter Ramm mit Pferd – und Kaiser Otto I.; das Pferd scharrt, Ramm hebt einen Silbererzbrocken auf, Otto nickt. Los geht‘s mit dem Bergbau.
Die Merkwürdigkeiten aus dem abgerissenen Dom, die Sie, Herr Heine, in der Stefanikirche fanden, entdecke ich im Stadtmuseum. Der „heidnische Opferaltar aus unbekanntem Metall“ ist eine Kostbarkeit sächsischer Bronzegießerkunst aus dem 11. Jahrhundert – der Krodoaltar. Und so berühmt, daß ihn die Franzosen samt der Quadriga 1807 als Souvenir mitnahmen. 1814 holten ihn die Preußen zurück. Ich finde auch die „Lüchte“ zum Aushängen der Gesangbuchnummern. Und den Gekreuzigten, den Sie in die Anatomie wünschten. Dieser abgekämpfte, tote Mann am Kreuz, dem die Qualen noch im Gesicht stehen – ist ein Mensch. Ecce homo, verehrter Heine. Der Augenblick auf Golgatha duldet keinen poetischen Schmerz.
Durch Goslar fließt die Gose. Und in ihr fließt Zivilisationsabfall. Bescheidene Brücken führen über das Flüßchen. Eine von ihnen heißt pons regis. Über sie gehe ich zum Zwinger. Das ist ein kriegerischer, dickwandiger Turm. Von außen finster dräuend, von innen waffenstarrend. Hieb-, Stich- und Schußwaffen sind ausgestellt. Und Folterwerkzeuge. Es wird mir ein Rätsel bleiben, wie der Bidenhänder gehandhabt wurde. Schleppten ihn vielleicht mehrere Kriegsknechte ins Gefecht, so wie die Sieben Schwaben ihren Spieß? – Kriegsgeruch schlägt mir auf den Magen. Ich verlasse den Zwinger.
Heute fühle ich erstmals ein verdächtiges Ziehen in den Waden. Bei Grieben lese ich nach, was zu tun ist: „Spürt man bedenkliche Ermattung in den Waden und Schenkeln, so wasche man dieselben erst mit lauwarmem Wasser und dann mit Spiritus oder Franzbranntwein […].“
Sie schliefen nicht gut in der Goslarer Nacht, lieber Heine. Und ich schrecke auf, weil ich vergaß, nach den Kaiserfiguren am Gildenhaus der Gewandschneider zu sehen. Auf Sie wirkten die hölzernen Potentaten wie gebratene Universitätspedelle. Diesen Anblick wollte ich mir nicht entgehen lassen. Nach dem Frühstück am heiligen Stammtisch gehe ich zum Markt. Enttäuschung. Die Herren Kaiser sind zwecks Auffrischung abwesend. Aber eine andere Besonderheit fällt mir auf. Das Dukatenmännchen. Der Volksmund benennt es drastischer. Es ist ein Gnom, der sich wie ein Kletteraffe mit der rechten Hand festhält und mit der linken am Steiß fühlt, ob die Dukaten noch durchrutschen.
Unterwegs wünscht mir ein Mann gute Reise. Diese nähert sich nun dem Vater Brocken, wie Eichendorff den Berg nannte. Aber der Weg dorthin bereitet mir Kopfzerbrechen. Sie wanderten sozusagen diffus, Herr Heine: morgens bergauf, bergab; mittags am Fuße des Brockens; spätnachmittags am Brockenhaus. Das ist eine Allerweltsbeschreibung. Nach alten Karten sind zwei Varianten möglich. Von Bad Harzburg aus über den Hirtenstieg zum Brocken – oder über den Kaiserweg und den Goetheweg zu Norddeutschlands höchstem Berg. Ich wähle die zweite Variante. Aus historischem Zwang. Der Brocken ist ein geschundener Berg. Das Brockenhaus – nach altem Reiseführer mit achtzig Zimmern zu fünf bis sechs Mark einschließlich Frühstück ausgestattet – gewährt keine Unterkunft mehr. Deshalb wandere ich zum Torfhaus.
Nur wenige Schritte von der tosenden „Harz-Heide-Straße“ entfernt, herrscht Stille, hört man Vogelsang und das Knacken im Unterholz. Baedeker empfiehlt zur Rast das Molkenhaus als gute Wirtschaft, besonders für Milchtrinker. Ich empfehle den Kaiserweg für Genußwanderer. Er ist geschichtsträchtig; auf langen Strecken fast eben – und er ist einsam. Eigentlich ist es Ihr Lehrpfad, Herr Heine. Was Sie beschreiben, finde ich: Das dichte Tannen-(Fichten-)grün mit den Sonnenlichtern, natürliche Treppen aus Baumwurzeln, Moosbänke mit hellgrünen Sammetpolstern, seltsame Bergblumen, flüsternde Bäume. Seinen Namen hat der Weg von Heinrich IV., der im Jahr 1074 von der Harzburg auf diesem Pfad nach Thüringen floh.
Unweit von Torfhaus steigt der Weg an und ist mit kleinen Granitsteinen ausgelegt wie das Goslarer Kopfsteinpflaster. Wuchtige Blöcke wachsen aus dem Waldboden. Die Fichten weichen zurück, und unvermittelt zeigt sich der „altdeutsche Riesengreis“ mit seinen gespenstischen Aufbauten. Ich notiere: „13 Uhr – am Fuße des Brockens angekommen.“
Der Kaiserweg kreuzt den Goetheweg. Letzterer ist eine Goethe-Allee. Breit, gepflegt, bequem. Er führt am Hochmoor vorbei. Im 18. Jahrhundert wurde hier Torf gegraben und in Torfhäusern getrocknet. Der Goetheweg war, auch bevor der Geheimrat ihn legitimierte, der günstigste Brockenaufstieg. J. W. G. kam von Altenau am 10. Dezember 1777 nach dem Torfhaus zum Förster Degen. Der riet wegen Nebel und tiefem Schnee von einer Brockenbesteigung ab. Goethe: „Ich war still und bat die Götter, das Herz dieses Menschen zu wenden und das Wetter.“ Auf Goethe hörten sogar die Götter. Das Wetter besserte sich. Gegen 10 Uhr brachen die beiden auf. Und etwa 13.15 standen sie auf dem Gipfel.
Torfhaus liegt 800 Meter hoch und besteht aus einer Handvoll Häuser, einer Sendeanlage und einer Informationstafel über das Brockengebiet. Ein älteres Ehepaar steht davor. „Karl, wir sind 1142 Meter hoch.“ – „Quatsch, sind wir nicht.“ – „Doch, da steht‘s!“ – „Martha! Wir sind doch hier nicht auf dem Brocken!“ – „Ach so – ja, du hast recht, Karl.“
Die Abendsonne mildert die Drohgebärde des Brockens. Jahrzehnte gehörte er niemandem. Er stand auf dem Boden der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, aber die deutschdemokratischen Bürger durften nicht hinauf. Und die bundesdeutschen Republikaner auch nicht. Bis vor einem Jahr wäre auch Ihnen der Brocken verwehrt geblieben, Herr Heine. Es sei denn, Sie hätten Verbindung zu Gott gehabt oder eine Einladung von Karl Marx vorweisen können.
Am nächsten Morgen trägt der Brocken einen Grauschleier. Die tieferliegenden Berge und die Ebene überflutet helles Licht. Es stürmt und regnet in wilden Schüben. Der Kellner mit dem Gesicht einer verläßlichen alten Robbe sieht meinen besorgten Blick zum Fenster und tröstet mich.
Das erste Stück des Goetheweges bin ich noch allein. Danach gerate ich in eine deutsch-deutsche Wallfahrt und reihe mich ein. – Fichtenbestandene Granitblöcke ragen empor, als hätte jemand vergessen, sie wegzuräumen. Historische Schilder an einem regennassen Baum: „Hier war bis 1990 die Grenze.“ „Der Goetheweg endet hier für Wanderer! Im Sperrgebiet der DDR führt er in 2,5 km zum 1142 m hohen Brocken. Er quert dreimal die Brockenbahn, überwindet das Hochmoor und endet vor der kilometerlangen Betonmauer, die den Gipfel einschließt […].“
Grenzpfähle, mannshohe Wachtürme mit Schlitzen, abgeholzte Flächen, Metallzäune, auf denen elektrische Anlagen montiert sind, Scheinwerfer, aufgerissener Boden. Wahrhaftig – ein Kreuzweg mit vielen Leidensstationen. Am Haltepunkt der Brockenbahn hängt ein provisorisches Schild: „Ersatzweg zur Zeit auf dem Bahndamm; wir bemühen uns um Neuanlage des Goetheweges.“
Nebelschwaden ziehen auf. Der Berg tut gut daran, sein Unglück zu verhüllen. Schemenhaft und wie Skelette stehen kahle Fichten im Regenschleier. Granitblöcke nehmen phantastische Gestalt an. Wir gehen auf einer Geisterbahn. Ein Armeefahrzeug nähert sich. Alle erschrecken ein wenig mehr als angemessen.
In Gipfelnähe vermehrt sich der Menschenstrom durch die Zuwanderer von Schierke. Die Straße führt durch einen Mauerdurchbruch in die Festung. Im ehemaligen Brockenbahnhof ist notdürftig eine Restauration eingerichtet. Auf dem Bahnsteig stehen Buden. Würstchen werden verkauft und Ansichtskarten vom Brocken aus seinen guten Tagen. Wer gibt das Autogramm?
Plötzlich hebt sich der Nebelvorhang vor einem großartigen Schauspiel. Das Land liegt ausgebreitet im Licht. Felder und Wiesen sind ein buntes Schachbrett. Wie große und kleine Ameisenhaufen sieht man die Städte dazwischen. Bergrücken neigen sich zu ihnen hinunter.
Baedeker berichtet, daß vom Brockenturm bei schönem Wetter die Städte Hannover, Braunschweig, Stendal, Magdeburg, Halle, Leipzig, Erfurt und Kassel zu sehen wären. – Der Vorhang senkt sich über der Szene. Alles ist vorbei wie ein Spuk.
Im dichten Nebel suche ich nach der berühmten Wetterwarte, die seit 1895 besteht. In der Meteorologischen Station erfrage ich die Brockenwetterlage. Schließlich möchte man wissen, ob Regen, Wind und Nebel heute ihre amtliche Berechtigung haben. Bereitwillig erhalte ich Auskunft: „Temperatur 12 Grad Celsius, Luftdruck 880 Hektopascal – schwach fallend, Luftfeuchtigkeit annähernd 100 % und Windstärke 9.“
Durch das Ausgangsloch der Festung verlasse ich das Gipfelterrain. Mauer und hoher Metallzaun begleiten den Hirtenstieg talwärts. Wie eine tiefe Wunde zieht sich die weithin sichtbare deutsch-deutsche Grenze durch das Land.
Verehrter Herr Heine, Ihrem Weg durch das Schneeloch zu folgen war nicht möglich. Das Gebiet ist ein Totalreservat zum Schutz der Natur. Und für Wanderer gesperrt. Eine gute Entscheidung. Die Natur braucht dringend eine Atempause. Forstarbeiter transportieren durch eine Öffnung im Grenzzaun tote Bäume aus dem toten Landstreifen. Befragt nach dem Abstieg ins Ilsetal, sagen sie: „Am nächsten Wachturm nach rechts.“ Symbole der Bewachung sind zu Wegzeichen geworden!
Der Gang vom Brocken ins Ilsetal ist ein botanischer Lehrbuchpfad. Man durchwandert anschaulich die von den Systematikern festgelegten Zonen. Von waldfrei-subalpin nach dem Ebereschen-Fichtenwald (in dem die Vogelbeeren schon rot glühen), durch den Reitgras-Fichtenwald mit Heidel- und Preiselbeeren in den Mischwald aus Buchen und Fichten.
Sie schätzten die sachliche Einteilung der Pflanzenwelt nicht, Herr Heine. Und Sie schlugen vor, Theophrasts Gedanken zu folgen, der die Blumen nach ihrem Duft einteilen wollte. Außerdem machten Sie Ihren eigenen System-Vorschlag für die Naturwissenschaften: Klasse 1 – dasjenige, was man essen kann; Klasse 2 – dasjenige, was man nicht essen kann. Das beweist nun wieder Ihre Menschenkenntnis.
Im Laubwald, der untersten Zone, flattern bunte Schmetterlinge. Der alte Reiseführer nennt für den Harz mindestens 700 Arten. Allein im Brockengebiet sollen es 357 verschiedene Eulen, Spanner, Spinner und Kleinschmetterlinge gewesen sein. Ach, Herr Grieben, wo sind die geblieben?
Auf der Talsohle begegne ich der Prinzessin Ilse. Sie ist noch ebenso schön wie zu der Zeit, als Sie mit ihr sprachen, Herr Heine. Sie flüstert, rauscht, plätschert über bemooste Steine, dreht und fängt sich in flachen Mulden, wirft mit ihren Wellen Lichtstreifen über den Grund, legt sich feine Schaumschleier um und schmeichelt den alten Granitblöcken mit weißen Rüschen.
Die Beeren der Ebereschen schaukeln über ihr wie Ohrgehänge aus Rubinen. Sie wird es Ihnen nicht vergessen, soll ich bestellen, sie besungen zu haben. – In der Nähe der schönen Ilse hat man Ihnen einen Denkstein gesetzt. Wo aber bleibt der Heine-Memorialweg? Ihrem Kollegen Goethe widerfuhr in dieser Hinsicht überreichlich Würdigung mit Goetheweg, -klippen, -felsen …
Unter diesen Erwägungen komme ich zum Ilsestein. Der mächtige Granitblock erhebt sich stolz und stolze 150 Meter über dem Tal. Außer Ihnen und neben anderen haben sich auch die Herren Alexander von Humboldt, Scheffel, Andersen, Fontane hinaufbemüht. Der Anstieg ist steil. Beim Hinaufklettern zeigt sich erneut, daß mein Rucksack ein Mirakel ist: morgens leicht und abends schwer – obwohl ich nichts zusätzlich hineinpacke und nichts herausnehme.
Regen und stürmischer Wind setzen ein. Das gußeiserne Kreuz des Gipfels – für Gefallene des Freiheitskrieges 1813/14 errichtet – steht frei und luftig auf der Felsspitze. Sind Sie wirklich dort hinaufgestiegen? Ich bewundere Sie.
Für kurze Zeit läßt der Regen nach. Wolken jagen über die Berghänge und geben den Brocken frei. Und für einen Augenblick auch die blasse Sonne. Ihr Abschiedsgruß, lieber Heine? Leben Sie wohl. Sie waren mir ein guter Weggefährte.
Der Text entstammt dem Buch „Heinrich Heine: Die Harzreise“, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1992.
Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.
Schlagwörter: Harzreise, Heinrich Heine, Renate Hoffmann