Der Briefwechsel zwischen Peter Hacks und André Müller sen. sei ausdrücklich empfohlen, ein packender Meinungsaustausch, ausgetragen auf Briefpapier in den Jahren zwischen 1957 und 2003. Genauer: ein meisterhaft geführter, wiewohl oft genug auch völlig verstiegener Schlagabtausch der Briefpartner und Freunde, die sich obendrein meistens einig wissen – gegen die Unbill der Zeit, wider den Zeitgeist. Der geistreiche Austausch nimmt geschwind Fahrt auf, schiebt jede als falsch oder überflüssig angesehene Rücksicht auf Übliches ungeniert beiseite, will ins Ziel. Ein Beispiel? Kaum ein gutes Wort findet sich über Michael Gorbatschow: „Dieser Schöngeist versteht fabelhaft, den Eindruck zu erwecken, er habe noch Erstaunliches in petto.“ Als die DDR Ende 1989 verspielt war, kriegt Gorbatschow die Dresche: „Immer wenn ich an einem Galgen vorbeikomme, blicke ich erwartungsvoll hoch. Aber er hängt und hängt noch nicht.“ Auch andere Helden der Zeit bekommen ihr Fett weg: „Modrow und der Spion Wolf gehören offenbar der Weltbank. Das Fernsehen und das ND auch.“ Und Gregor Gysi tanzt plötzlich als „Quisling“ durch den Raum.
Ein nahezu prophetischer Zug kommt aber einem kurzen, beiläufigen Wortwechsel zu, der auf die rasche administrative Zurichtung der DDR als künftiges Bundesgebiet reagiert: „So rote Bundesländer, wie die neuen im Osten überkurz sein werden, wird Alldeutschland nie gekannt haben“, meint Hacks. Und aus dem Rheinland wirft André Müller zurück: „Die neuen roten Bundesländer … sicher. Aber natürlich auch braun.“ In all der unleidlichen Zeit, die Hacks mit dem nicht quälenden Verlust der DDR durchlebt, bleiben Lichtblicke nicht aus, so der auf die blutjunge Sahra Wagenknecht, die als Kommunistin der letzten Stunde die DDR-rote Fahne jetzt erst recht trotzig hochzuhalten sucht. Hacks an den Briefpartner: „Hab ich da nicht ein hübsches Pflänzchen aufgezogen?“ Und wenige Tage später: „Sahra war zu Gast und hat an mir gesaugt wie ein Vampir. Ich habe sie nach fünf Stunden vor die Tür gesetzt, habe aber noch Bissmale an der Kehle.“ Kurzum, Hacks ist begeistert, erwartet große Dinge, prophezeit dem außergewöhnlichen Talent – so freilich die Stange gehalten wird – große Zukunft: „Sahra will mir ihre Strategie des Imperialismus schicken. Was sie schon andeutet, lässt mich Wichtigeres erwarten.“
Es gehen die Jahre ins Land, die Kontakte werden seltener. „Lebt Sahra noch?“, fragt André Müller den Dramatiker und will auch wissen: „Vor einigen Wochen sah ich Sahra in einer Quatsch-Show, warum geht sie dahin? Sie war schön wie Liz Taylor in ihren besten Jahren.“ Hacks, immer noch in der Überzeugung sich spiegelnd, der Mentor gewesen zu sein, gibt zu: „Sahra wird keineswegs klüger.“ Von André Müller kommt es prompt zurück: „Sahra wird nicht klüger, sondern dümmer. Eine Politikerin eben.“ Hierauf nun Hacks mit abschließendem Befund: „Sahra fand ich wider Erwarten bei vollem Verstand, an ihrem Weltstreben hat sich nichts geändert. Sie fährt fort, zur SED zu halten, aber ohne Neigung und nur bis zu einer Grenze. Sie neigt zu Kathedersozialismus und politischen Rücksichten, irrt auch gern in abwegigen Gedankenwelten. […] Sie hat nicht im Sinn, vom Marxismus-Leninismus abzufallen, auch nicht in Andeutungen oder, wie Busch singt, in ersten Walzerschritten. Und wenn man sie prügelt, insistiert sie nicht und geht nachdenken. Kurz, sie ist, seit sie 18 war, nicht klüger geworden, aber, wie ich ernstlich für wahr halte, auch nicht dümmer.“
Wer wollte heute, fast ein Vierteljahrhundert nach Hacksens letztem Befund, abschätzen, ob Sahra Wagenknecht nun vom Marxismus-Leninismus abgefallen oder eben nicht abgefallen ist! Allerdings ist Sahra Wagenknecht in einer ganz anderen Hinsicht dem väterlichen Freund und Dichter untreu geworden. Im Wahlkampf zuletzt im Thüringischen und Sächsischen hat sie hartnäckig dafür gestritten, aus den eher innenpolitisch zugerichteten Wahlen der beiden Landtage in Erfurt und Dresden eine Art Volksabstimmung zur gegenwärtigen deutschen Außenpolitik zu machen. Nur hat sie dabei den eindringlichen Hinweis des Meisters völlig vergessen, den Hacks im schönen Essay zum Drama „Jona“ noch vor dem Untergang der DDR zum Besten gegeben hatte. „Die Außenpolitik ist an der Politik das Geistlose.“ Und deutlicher: „Daher steht die Außenpolitik mit den jeweiligen Innenpolitiken kaum in genauem, gelegentlich in umwegigen und gemeinhin in gar keinem Zusammenhang.“ Hacks erläutert es ausführlicher am historischen Beispiel, am alten Preußen, was er als gewiefter Preußenkenner gekonnt wie nachvollziehbar macht, es kann nachgelesen werden. Zum Schluss empfiehlt er: „Gute Außenpolitik, das ist Außenpolitik zur Abschaffung der Außenpolitik. Das Ende der Außenpolitik wäre der Anfang der Geschichte.“ Sahra Wagenknecht sieht es heuer anders: Außenpolitik als Bedingung für eine andere Innenpolitik, als Anfang jedenfalls für eine ganz neue Parteigeschichte. Insofern wäre sie nach der strengen Maßgabe des eigenwilligen Dramatikers – wenngleich nicht dümmer – auch nicht klüger geworden.
Peter Hacks, André Müller sen.: Der Briefwechsel 1957–2003. Herausgegeben von Heinz Hamm und Kai Köhler, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2023, 1280 Seiten., 58,00 Euro.
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