Martin Schirdewan, abtretender Linken-Vorsitzender – Nachtreten ist nicht unsere Art, aber Erinnern tut bisweilen not. Erinnern Sie sich noch Ihres Versprechens, das Sie im Januar dieses Jahres in einem nd-Gespräch gaben? Für jede der vier Wahlen dieses Jahres, bei der die Linke nicht vor dem BSW einkomme, wollten Sie der nd-Redaktion eine Kiste Bier vor die Tür stellen. Wettschulden sind Ehrenschulden, heißt es. Den Bierdurst der Redakteure am Berliner Franz-Mehring-Platz heutzutage vermögen wir ebenso wenig einzuschätzen wie deren politische Präferenzen. Bei der Hitze der letzten Wochen mögen drei Kästen womöglich schnell geleert worden sein. Da kommt der vierte demnächst vielleicht ganz recht. Aber vergessen Sie bitte die Wahlkämpfer der Linken in Brandenburg nicht, die derzeit mit letztem Mut darum kämpfen, dass ihre (Ihre) Partei dort den Einzug in den Landtag nicht verpasst.
Anton Hofreiter, genannt Panzertoni, Grüner – Sie urteilten über Sahra Wagenknecht im Welt Nachrichtensender am Tag nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen:
„Ich glaube, man muss sich darüber im Klaren sein, dass Wagenknecht neben den Landesverrätern von der AfD die schlimmste Propagandistin des Kriegsverbrechers Putin ist und damit ihm immer wieder ermöglicht, diesen Krieg fortzusetzen. Damit ist sie im Grunde de facto eine der schlimmsten Kriegstreiberinnen, die wir im Land haben.“
Aha – Wagenknecht ermöglicht Putin, den Krieg fortzusetzen. Zu Ihrer außen- und innenpolitischen Kompetenz fällt uns nix mehr ein, außer vielleicht die Frage, warum ist Ihre Partei lediglich aus dem Landtag in Thüringen geflogen?
Bernd Posselt, Zwischensieger im bajuwarischen Unterbietungswettkampf – Ihren Landsmann Hofreiter haben Sie zumindest vorerst geschlagen. Als Vorstandsmitglied der CSU bezeichneten Sie gerade Sahra Wagenknecht zunächst nicht sehr originell als „friedensgefährdende Chefpropagandistin Wladimir Putins“. Doch Sie setzten sogleich noch einen drauf. Wagenknecht sei der „menschgewordene Hitler-Stalin Pakt“. Wer könnte das noch steigern? Sie machen uns noch sprachloser als Ihr grüner Kollege. Ihnen gegenüber, dem bekennenden Katholiken, bleibt ein Stoßgebet: Oh Herr, lass es Hirn regnen, besonders in Bayern!
André Mielke, geschätzte Spottdrossel – In der jüngsten Ihrer meist herzerwärmenden und geisterquickenden Kolumnen in der Berliner Zeitung vermerkten Sie: „Selbst redlichste Demokraten finden es herausfordernd, unverbrüchlich an der Seite eines etablierten Politikbetriebs zu stehen, der sich selbst und die ihm nachgelagerten Strukturen zwar zunehmend mit ‚unserer Demokratie‘ verwechselt, aber bei Migration, Energiewende, Deindustrialisierung, Mittelstreckenraketen oder Geschlechterbingo massenmitbestimmungstechnisch weitgehend auf Durchzug schaltet. […] Wenn das mit der Demokratie so weitergeht, könnte es irgendwann ihre größte Mühsal sein, sie noch wiederzuerkennen.“
Bleibt in letzterer Hinsicht eigentlich nur noch eine Frage: Ist es immer noch fünf vor zwölf oder doch schon fünf nach …
Sahra Wagenknecht, Hoffnungsträgerin – In ziemlich einsamer Entscheidung (was die deutsche Seite anbetrifft) hat Bundeskanzler Olaf Scholz für die Stationierung US-amerikanischer Langstreckenwaffen in der Bundesrepublik ab 2026 gesorgt. Darunter Hyperschallsysteme, die mit 17 Mach unterwegs sein werden und mit ihrer Reichweite von knapp 3000 Kilometern strategische Ziele in Russland ausschalten können. Sie haben dazu festgestellt: „Was die geplanten US-Mittelstreckenraketen von den bisher vorhandenen Waffen unterscheidet, ist, dass sie für einen Überraschungsangriff ohne Vorwarnzeit taugen.“ Das kommt einer Einladung an Russland gleich, diese Systeme in einer eskalierenden Krisensituation präventiv auszuschalten. Oder mit Ihren Worten: „Die Stationierung macht uns zum Ziel russischer Atomraketen.“
Warum begreift Scholz diesen ebenso logischen wie simplen Zusammenhang offenbar nicht? Möglicherweise weil, wenn man wie ein Zäpfchen im Allerwertesten der westlichen Führungsmacht steckt, der Überblick stark eingeschränkt ist …
Bernd Stegemann, Dramaturg und Philosoph – Wieder haben Sie Ihren Ruf als scharfzüngiger Diagnostiker gesellschaftlicher Ungesundheiten genährt. In einer „Philippika“ unter anderem „gegen die illiberalen Verteidiger der Demokratie“ und gegen die bei diesen ebenso beliebte wie als Totschlagskeule gehandhabte politische Metapher von der Brandmauer haben Sie in der Berliner Zeitung befundet: „Wer seinen Kampf gegen die AfD damit adelt, nun endlich erfolgreich Hitler zu verhindern, der verkleidet sein überschaubares Risiko ins Heldengewand einer Sophie Scholl. Man gibt sich so mutig, wie man es vor 1945 niemals gewesen wäre. Dass diese moralische Hochstapelei den historischen Faschismus verharmlost, zählt inzwischen ebenso wenig wie die Blindheit, die es braucht, NSDAP und AfD gleichzusetzen.“
Und Sie fügten hinzu: „Moral ist eine seltsame Kraft. Sie macht die Welt übersichtlich. Zugleich fühlt sich jeder, der mit Moral die Welt in Gut und Böse einteilt, selbst als Teil des Guten. Als moralisches Bauwerk ist die Brandmauer unüberwindlich. Denn jeder, der sie abschaffen will, beweist damit, dass er auf die böse Seite gehört und darum die Mauer noch höher werden muss.“
Ihre Therapieempfehlung schließlich, „über Mauern hinweg den Dialog zu suchen und die Gesellschaft nicht weiter zu spalten“, schreiben wir uns auch gern selbst noch einmal ins Stammbuch.
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